Buchpreis: Essay Kategorie Zeitgeschichte

Von
Konrad H. Jarausch

Essay von Konrad H. Jarausch, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, und Vera Ziegeldorf, Humboldt-Universität zu Berlin

Die diesjährigen Preisträger im Bereich der Zeitgeschichte konzentrieren sich auf drei Themenbereiche der gegenwärtigen Diskussionen: Norbert Frei beschäftigt sich kritisch mit der Entwicklung der öffentlichen Erinnerung an den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik, während Klaus Große Kracht die großen Kontroversen der Geschichtswissenschaft Revue passieren lässt. Alexander Nützenadel dagegen untersucht die Etablierung einer Expertenkultur in der Bundesrepublik und damit den Aufstieg der Volkswirtschafslehre als politische Beratungsinstanz und Gabriele Metzeler diskutiert die Entwicklung politischer Planung von Adenauer zu Brandt. Schließlich versucht Dagmar Herzog den Intimbereich der Wandlungen des sozialen Sexualverhaltens vom Nationalsozialismus bis in die Bundesrepublik zu erhellen. Dabei handelt es sich einerseits um eine Fortsetzung von kulturellen Selbstverständigungsdebatten, andererseits aber auch um eine Reaktion auf öffentliche Diskussionen um die Stagnation und Reformunfähigkeit der Berliner Republik, und schließlich um die gesellschaftliche Konditionierung eines höchst privaten Bereichs.

Die Lektüre des mit dem ersten Platz ausgezeichneten Essaybands von Norbert Frei, „1945 und Wir“ bietet einen intellektuellen Genuss, denn er verbindet einen brillanten Stil mit einem dezidierten Aufklärungsethos. Seine Texte sind von der Sorge vor einem mit dem Ende der Zeitzeugenschaft verbundenen Geschichtsrevisionismus inspiriert, der sich in Tendenzen zur Opferkonkurrenz niederschlägt. Gleichzeitig geht es dem Autor um die Implikationen der eigenen Zeitgenossenschaft für Forscher, die ihre Beurteilung der jüngsten Vergangenheit oftmals nachteilig beeinflusst hat. Mit großer Deutlichkeit rekapitulieren die Essays zahlreiche Versäumnisse auf dem Weg zu einem kritischen Selbstbild der bundesrepublikanischen Geschichtskultur. Vor allem durch die Betonung des gegenwärtig sich vollziehenden Wandels zur Enkelgeneration wirft Frei die übergreifende Frage nach Standards und Formen eines angemessenen Gedenkens an die nationalsozialistischen Verbrechen auf.

Die zweitplatzierte Habilitationsschrift von Alexander Nützenadel untersucht dagegen den Prozess der „Verwissenschaftlichung“ in der Wirtschaftspolitik und korrigiert damit die bisherige Annahme, dass die Politikberatung erst in den 1980er-Jahren einsetzte. Dabei steht der dogmengeschichtliche Wandel von anfänglichem Ordoliberalismus zu späterem Neokeynesianismus im Mittelpunkt, der die intellektuellen Instrumente für Entscheidungen von Erhard bis Schiller lieferte. Die als „Schlüsselwissenschaft“ wahrgenommene Wirtschaftswissenschaft verfolgte jedoch nicht nur eine personenbezogene Politikberatung, sondern interessierte sich vielmehr auch für die Schaffung einer parteiunabhängigen, übergeordneten Instanz. Daher behandelt Nützenadel die Entstehung des „Sachverständigenrates“ ebenso wie die Illusionen von „Globalsteuerung“ der späten 1960er-Jahre. Durch die Darstellung der Wandelbarkeit ihrer Aussagen leistet diese Analyse der „besonderen Form der Expertenkultur“ einen wichtigen Beitrag zur Demythologisierung des nationalökonomischen Anspruchs auf eine überzeitliche Leitwissenschaft.

Einer ähnlichen, aber breiteren Fragestellung widmet sich die auf den dritten Platz gesetzte Habilitationsschrift von Gabriele Metzler über „Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt“. Sie behandelt den Aufstieg der politischen Planung im Zeichen der Modernisierungseuphorie der langen 1960er-Jahre, die Problemlösungen im Bereich der gesellschaftlichen Integration, sozialen Sicherheit und politischen Partizipation durch soziologische oder politologische Forschung erwartete. In einer Verbindung von Wissenschaftsgeschichte und Handlungsanalyse untersucht die Autorin die sozialliberalen Demokratisierungsversuche, die durch Reformen soziale Ungleichheit abbauen wollten, aber sowohl an ihren überzogenen Erwartungen als auch der durch den Ölpreisschock verursachten Verlangsamung des Wachstums scheiterten. Ihr ironisches Fazit ist daher der Verlust des Glaubens an die Planbarkeit, der sich in dem Begriff der „Unregierbarkeit“ spiegelt.

Der von Klaus Große Kracht verfasste, viertplatzierte Band „Die zankende Zunft“ bietet einen Überblick über die Entwicklung der großen Historikerkontroversen von Fischer zu Goldhagen. Dabei geht es einerseits um die Dominanz konkurrierenden methodischer und interpretativer Ansätze innerhalb der eigenen Disziplin, andererseits aber auch um die Auswirkung fachlicher Auseinandersetzungen auf die interessierte Öffentlichkeit. Trotz der jeweilig unterschiedlichen Themenfelder, sieht der Autor in diesem Ringen um die Deutungshoheit über die Vergangenheit zwischen einem mehr staatstragenden und einem eher selbstkritischen Lager die eigentliche Brisanz sowie intellektuelle Konsequenz dieser Debatten. Durch die Relativierung der jeweiligen Wortmeldungen und Stellungnahmen vermittels kontextueller Einbettung bietet das Buch wertvolle Anstöße zu einer systematischeren Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft.

Eher angeregt von amerikanischen Diskussionen um die Geschlechtergeschichte ist das letzte hier vorzustellende Werk von Dagmar Herzog, welches das unkonventionelle Thema „Sex After Fascism“ erkundet. Im Gegensatz zu der durch die Achtundsechziger kolportierten antiautoritären Legende von der Verklemmtheit des Faschismus, interpretiert diese Studie nationalsozialistische Haltungen gegenüber der Sexualität als libertär, weil auf Fortpflanzung auch jenseits der Familie ausgerichtet. Die konservative Familienpolitik der 1950er-Jahre erscheint dadurch als verständliche Gegenreaktion eines Versuches der Remoralisierung und der Beschränkung von Sexualität auf die bürgerliche Ehe. Eine solche Diskursperspektive macht schließlich wiederum die Virulenz der sexuellen Revolution der 1960er-Jahre verständlicher, die sich als Befreiung von kleinbürgerlicher Enge stilisierte.

Insgesamt bieten diese ganz unterschiedlichen Bücher, die von Essaybänden zu dichten Monografien reichen, einen Querschnitt der zeithistorischen Diskussionen, der die Persistenz von etablierten Themen ebenso wie die Erschließung von ganz neuen Gebieten widerspiegelt.

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2006“ wurden in der Kategorie Zeitgeschichte folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Frei, Norbert, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005. Rezension von Konrad H. Jarausch, in: H-Soz-u-Kult, 13.04.2005 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6009>.
2. Nützenadel, Alexander, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974, Göttingen 2005. Rezension von Tim Schanetzky, in: H-Soz-u-Kult, 26.01.2006 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6888>.
3. Metzler, Gabriele, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005. Rezension von Klaus Weinhauer, in: H-Soz-u-Kult, 20.06.2005 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=5008>.
4. Große Kracht, Klaus, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005. Rezension von Philipp Stelzel, in: H-Soz-u-Kult, 18.06.2005 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6019>.
5. Herzog, Dagmar, Sex after fascism. Memory and morality in Twentieth-century Germany, Princeton, NJ 2005. Rezension von Sven Reichardt, in: H-Soz-u-Kult, 14.04.2006 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6566>.
5. Goschler, Constantin, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005. Rezension von Clemens Vollnhals, in: H-Soz-u-Kult, 07.10.2005 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6017>.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Essay Kategorie Zeitgeschichte, In: H-Soz-Kult, 20.07.2006, <www.hsozkult.de/text/id/texte-786>.
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