Buchpreis: Essay Offene Kategorie

Von
Eckhardt Fuchs

Essay von Eckhardt Fuchs, Universität Mannheim und Matthias Middell, Universität Leipzig

Das Thema ist riesig und unüberschaubar, das Bändchen schmal und geistreich. Arnold Esch, wirkungsmächtiger Ex-Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom und gerade zurückgekehrt von „Wegen nach Rom“, wie seine jüngste Aufsatzsammlung überschrieben ist, widmete die Hans-Lietzmann-Vorlesung Anfang Dezember 2003 in Jena und Berlin der imposanten Problematik, wann, warum und wofür antike Spolien im Mittelalter Verwendung fanden, wie ganze Schiffsladungen antiker Säulen für Stadtneubauten in Venedig oder Florenz geordert, einzelne Kapitelle zu Taufsteinen umgemeißelt oder winzige Figürchen als Schmuckelemente mit und ohne christliche Uminterpretation in spätere Ensembles eingepasst wurden. Der 60-seitige Text zeigt, welche Überzeugungskraft neben quantitativen Untersuchungen und Detailstudien zu Einzelphänomenen die stilistisch brillant zusammengetragenen Erfahrungen und Erinnerungen eines Historikers entwickeln können, wenn dieser auf ein intensives Forscherleben zurückschaut und voller Witz und Freude an der ungebundenen Form in einem gelungenen Narrativ eine Art unterirdische Typologie verbirgt. Was heraus kommt, ist natürlich keine Monografie, an die man den Maßstab der vollständigen Vermessung des Gegenstandes anlegen kann, aber die Dichte der Anregungen ist erstaunlich. Zunächst für das Zusammenwirken von Spezialisten/innen der Antike und des Mittelalters, von Archäologen/innen und Historikern/innen: Was dem einen Rest ist, bildet für den anderen den Fokus, durch den er eine Rezeptionskette entschlüsseln kann. Esch spart nicht mit Hinweisen auf die Chancen und Fährnisse solcher Interdisziplinarität, die heute immer öfter durch externe Anregungen (wie die Notwendigkeit, sich für einen Sonderforschungsbereich zusammenzutun, um an die Fleischtöpfe der Großförderungen heranzukommen) initiiert wird und dabei doch oftmals additive Pluridisziplinarität bleibt. Demgegenüber plädiert der Verfasser für ein intellektuelles Vorgehen, das den Abgleich der Ergebnisse der intellektuellen Anstrengung des Einzelnen überlässt, der sich allerdings immer wieder neugierig auf das Gespräch mit seinen Kollegen/innen aus den anderen Fächern einlassen muss. Die Laudatio des Jenenser Patristikers Martin Wallraff gibt dazu den Blick auf eine besondere Konstellation frei: Die Altphilologin Doris Esch sichert dem Autor dieses Gespräch über Disziplinengrenzen hinweg quasi frei Haus. Bleibt zu hoffen, dass kein Hochschulpolitiker bzw. keine Hochschulpolitikerin auf die Idee kommt, demnächst die Herstellung all dieser Arbeitsbedingungen durch Ausschreibung verallgemeinern zu wollen.

Die Würdigung der Einzelergebnisse von Eschs Studie muss Kundigeren überlassen bleiben, aber bemerkenswert erscheinen uns die weit über Antike und Mittelalter hinaus führenden Überlegungen, die der Verfasser über den Text streut, und die wohl das Votum der Jury für den Buchpreis in der „Offenen Kategorie“ des Jahrgangs 2005 beflügelt haben mögen. Wenn Esch formuliert, dass Musealisierung das Überleben für eine Generation, Wiederverwendung dagegen für die Ewigkeit sichere, dann schließt er daran die Überlegung an, welche Folgen es für unser Bild von Geschichte hat, dass sich die Gegenstände unterschiedlich gut für die Umnutzung eignen. Demzufolge ist das Antikebild der Renaissance auch eines, das ohne den Einbau älterer Ruinenteile in die Bauvorhaben des Mittelalters nicht zu entschlüsseln ist, mochte dies die Fetischisten/innen der originalgetreuen Rekonstruktion und des Prinzips ad fontes auch grundsätzlich fremd bleiben. Nirgendwo in der Broschüre findet sich ein Hinweis auf Frauenkirche und Berliner Schloss, aber wünschenswert wäre es schon, dass die Debatte über den Wiederaufbau sich auf das hier erreichte Reflexionsniveau begäbe.

Esch spielt das inzwischen wohlbekannte Paradigma der Differenz von Histoire und Mémoire nicht nur für sein Thema durch, sondern bringt uns den Weg ins Bewusstsein, den die materiale geschichtliche Überlieferung bei ihrer vielfältigen (und oftmals unbewussten) Verwandlung in Erinnerung zurücklegt.
Man liest das Büchlein mit Vergnügen an der Leichtigkeit, mit der eher Anregungen denn Angebote für Theorie unterbreitet werden. Da es im Unterschied zum letzten Jahr, als Geschichte der Geschichtsschreibung den Thematischen Schwerpunkt bildete, keine eigene Kategorie zu diesem Bereich mehr gibt, nimmt man mit Erstaunen zur Kenntnis, dass eine deutsche Jury einen solchen Essay vor den systematischen Darstellungen zur Theorie und Geschichte der Geschichtswissenschaft einrangiert. An lesenswerten Publikationen mangelt es nicht, wie etwa der zweitplatzierte Theorieabriss von Jörg Baberowski oder theoretische Abhandlungen über „Generationen“ und „Komplexität und Chaos“, wie die entsprechenden Titel von Ulrike Jureit und Ludolf Herbst lauten, zeigen. Auch historiographiegeschichtliche Themen, wie der von Peter Moraw herausgegebene Konferenzband über die deutschsprachige Mediävistik und Joachim Radkaus Analyse Weberschen Denkens, finden sich unter den ausgewählten Veröffentlichungen. Thematisch lässt sich eine Fortsetzung des Trends zur Kulturgeschichte (Burke, Beyme und Stollberg-Rilinger) ausmachen. Die Wahl von Eschs Essay als Siegertitel mag daher vor allem in dessen Appell für Interdisziplinarität begründet liegen: bildete im vergangenen Jahr die historische Anthropologie die Bezugsdisziplin, so ist es in diesem Jahr die Archäologie.

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2006“ wurden in der Offenen Kategorie folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Esch, Arnold, Wiederverwendung von Antike im Mittelalter. Die Sicht des Archäologen und die Sicht des Historikers, Berlin 2005. Rezension von Harald Müller, in: H-Soz-u-Kult, 14.07.2006 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=8385>.
2. Baberowski, Jörg, Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005. Rezension von Thomas Welskopp, in: H-Soz-u-Kult, 25.10.2005 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6006>.
3. Radkau, Joachim, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005. Rezension von Reinhard Mehring, in: H-Soz-u-Kult, 09.12.2005 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=7289>.
4. Burke, Peter, Was ist Kulturgeschichte? Frankfurt am Main 2005. Rezension von Wolfgang E. J. Weber, in: H-Soz-u-Kult, 19.04.2006 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=7210>.
5. Moraw, Peter; Schieffer, Rudolf (Hrsg.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, Ostfildern 2005. Rezension von Karel Hruza, in: H-Soz-u-Kult, 11.05.2006 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6980>.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Essay Offene Kategorie, In: H-Soz-Kult, 22.07.2006, <www.hsozkult.de/text/id/texte-779>.
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