Buchpreis: Essay Kategorie Europäische Geschichte

Von
Daniela Bergelt

Essay von Daniela Bergelt, Humboldt-Universität zu Berlin

Angeführt wird die Kategorie in diesem Jahr von Tony Judts „Postwar. A History of Europe since 1945“. Rhetorisch geschickt weist der Leiter des Remarque-Instituts der New Yorker Universität in seinem Vorwort darauf hin, dass Europa erdgeschichtlich nicht viel mehr sei als ein Anhängsel Asiens, um im selben Atemzug die einzigartige Vielfalt dieses vergleichsweise winzigen Kontinents als seine hervorstechendste Eigenschaft zu postulieren. Den Anspruch, eine umfassende Theorie der europäischen Geschichte zu entwerfen, die für alle Länder und Regionen Gültigkeit besitzt, erhebt er folgerichtig nicht. Von „einer Geschichte Europas“ mag er nicht sprechen, um die „vielen Geschichten“ der Jahre 1945 bis 2005 erzählen zu können. Und doch – und dies ist gerade der große Gewinn des Buches – gelingt es ihm, diese Geschichten in ihrer Vielfalt und eingedenk ihrer Widersprüchlichkeiten in einen thematischen Rahmen zu stellen, der Gemeinsamkeiten betont, ohne dabei all zu viele divergierende Tendenzen einzuebnen. Die jeweils circa 200 Seiten starken Hauptkapitel des Buches gliedern die letzten sechs Jahrzehnte europäischer Vergangenheit chronologisch in vier Abschnitte: die Nachkriegszeit (1945-1953), die Jahre des Wohlstands und der Unzufriedenheit (1953-1971), die Rezession (1971-1989) und die Zeit nach dem Herbst 1989 (bis 2005). In den 24 Unterkapiteln, die nicht alle gleichermaßen gelungen sind, stellt Judt weniger die Ereignisgeschichte, als vielmehr die für ganz Europa konstitutiven Erfahrungen in den Mittelpunkt seiner Erzählung. Überzeugend und nachdrücklich interpretiert er – gemäß seinem Buchtitel – die Entwicklung Europas nach 1945 als dauernde Nachkriegsgeschichte, die erst 1989 mit den friedlichen Revolutionen in Osteuropa und dem Zusammenbruch der Sowjetunion endete. Das „alte Europa“ sei durch nationalsozialistische Herrschaft und Zweiten Weltkrieg endgültig zerstört, das „neue Europa“ aus der Erfahrung der Katastrophe geboren worden und nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Neben Ansätzen der Politik-, Wirtschafts-, Sozial- und Ideengeschichte greift Judt auch Erfahrungen der Erinnerungsgeschichte auf und deutet die europäische Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen. Während die politische und wirtschaftliche Wiedergeburt Europas der Verdrängung der jüngsten Vergangenheit bedurfte, gründete das neue moralische und kulturelle Selbstverständnis gerade auf der steten Erinnerung an den Holocaust und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

„Postwar“ liefert nicht unbedingt grundlegend neue Erkenntnisse zur Geschichte einzelner Regionen oder Länder, leistet aber eine kritische und zudem gut lesbare Synthese des bisherigen Forschungsstandes. Genau darin liegt sein Verdienst. Es gibt wenige Bücher, die über gut 800 Seiten und trotz Einbeziehung zahlreicher Schauplätze und Akteure gleichermaßen informativ und anregend sind. Dabei wird Tony Judt nicht nur dem Anspruch West- und Osteuropa gleichberechtigt einzubeziehen weitestgehend gerecht. Auch den oft nur am Rande behandelten Entwicklungen in Skandinavien oder Südeuropa räumt er einen angemessenen Platz in der europäischen Geschichte ein.

Als Manko ist dem umfassenden Werk der Verzicht auf Fußnoten und bibliografische Angaben anzulasten. Der Autor entschuldigt dies mit dem immensen Umfang des Buches und der Ausrichtung auf ein breites Publikum. Dennoch wäre ein Verweis auf die genutzte Sekundärliteratur und die wichtigsten Quellengrundlagen angesichts der Themenvielfalt auch für interessierte Leser/innen und nicht nur für das Fachpublikum unerlässlich. 1

Auch der zweitplatzierte Titel dieser Kategorie, „Das Europa der Nationen“, glänzt vor allem durch einen umfassenden Überblick zum Forschungsstand der letzten Jahrzehnte und dessen Einbettung in einen gesamteuropäischen Rahmen. In seiner problemorientierten Darstellung der Entwicklung moderner europäischer Nationen behandelt Miroslav Hroch nicht nur die „großen“, sondern auch die vielen „kleinen" Nationen, die im 19. Jahrhundert entstanden. 2 Dabei erteilt er monokausalen Deutungen, die in den europäischen Nationen vor allem „Produkte des Nationalismus“ sehen, eine Absage. Vielmehr betont er die Bedeutung historischer, politischer, sozialer und kultureller Bedingungen für die Herausbildung einer Identität mit einem neuen Typ von Gemeinschaft – der Nation. Die Einbeziehung „kleiner Nationen“ zeigt sich auch in Zara Steiners Geschichte der Außenpolitik in Europa von 1919 bis 1933. Sie konzentriert sich nicht einseitig auf die Beziehungen der europäischen Großmächte, sondern gibt den skandinavischen oder mitteleuropäischen Ländern in ihrer Darstellung mehr Raum, als es die Forschung zur Diplomatiegeschichte bisher getan hat. Wolfgang Kaschuba wiederum beschreibt den langfristigen Wandel von Zeit- und Raumvorstellungen in der europäischen Moderne und vertritt dabei die These, dass den sogenannten „technischen Revolutionen“ stets ein kultureller Wandel voranging, der diese erst möglich machte.

Was bringt eine Kategorie wie die der „Europäischen Geschichte“ der Wissenschaft? Diese Frage ist mit den diesjährigen Siegertiteln, die sich alle auf Transformationsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts konzentrieren, sicher nicht befriedigend zu beantworten. Dennoch zeigen alle Beiträge, dass Europa nicht als bloßes Konstrukt abgetan werden kann. Ohne Zweifel analysieren alle Autoren über nationalstaatliche Grenzen hinweg Prozesse, die den gesamten europäischen Kontinent prägten und lüften damit auch in der historischen Wissenschaft endlich den Eisernen Vorhang. Einhergehend mit dieser Tendenz, ost- wie westeuropäische Geschichte als eine gemeinsame zu denken, fällt der Blick dieser Arbeiten auch auf die „kleinen Nationen“, jenseits der großen Zentren europäischer Geschichte. Darüber hinaus zeigen sich die Preisträger der Kategorie offen für verschiedene Methoden und Einflüsse der Politik-, Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte. Und all dies sind Trends, die man nur begrüßen kann.

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2006“ wurden in der Kategorie Europäische Geschichte folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Judt, Tony, Postwar. A history of Europe since 1945, New York 2005. Rezension von Jan-Henrik Meyer, in: H-Soz-u-Kult, 22.09.2006 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=7507>.
2. Hroch, Miroslav, Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich, Göttingen 2005. Rezension von Ulrike von Hirschhausen, in: H-Soz-u-Kult, 04.01.2007 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=7257>.
3. Steiner, Zara, The lights that failed. European international history 1919 - 1933, Oxford [u.a.] 2005.
4. Kaschuba, Wolfgang, Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt am Main 2004.
5. Breuer, Stefan, Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005. Rezension von Stefan Keller, in: H-Soz-u-Kult, 15.11.2005 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6605>.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Anmerkungen:
1 Unter <http://www.nyu.edu/pages/remarque/postwar.html>, der Homepage des von Tony Judt geleiteten Remarque Institutes der New York University wurde zumindest teilweise Abhilfe geschaffen und eine Bibliografie zum Herunterladen bereitgestellt. Diese berücksichtigt jedoch nur eine kleine Auswahl der genutzten englischsprachigen Literatur und lässt anderssprachige Literatur und Primärquellen außen vor.
2 Einschränkend sei gesagt, dass es sich bei der deutschen Ausgabe um eine Übersetzung des bereits 2003 auf Tschechisch erschienenen Werkes handelt und die Literatur der letzten drei Jahre dementsprechend keine Berücksichtigung findet.

Zitation
Buchpreis: Essay Kategorie Europäische Geschichte, In: H-Soz-Kult, 21.07.2006, <www.hsozkult.de/text/id/texte-778>.
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