HistLit 2005-4: Kategorie Zeitgeschichte

Von
Vera Ziegeldorf

Essay von Vera Ziegeldorf, Humboldt-Universität zu Berlin

Alle Preisträger der Kategorie „Neueste Geschichte“ des Buchpreises folgen einer Forschungskonjunktur. Das macht sie keineswegs vergleichbar und, um es vorweg zunehmen, die Tradition einer Orientierung der Forschung an historischen Ereignissen, Jubiläen und Jahrestagen, was vor allem die Themen der zeitgeschichtlichen Forschung zu prägen scheint, tut den Ergebnissen keineswegs Abbruch. Es sind kleine Kostbarkeiten und zentrale Forschungsliteratur, die die Jury gekürt hat. Thematisch sowie methodisch weit voneinander entfernt, kreisen sie doch, bis auf eine Ausnahme, im weitesten Sinne um einen historisch interessanten Prozess. Sie knüpfen alle an das Jahr 1945 an – als Metapher und nicht als Zeitpunkt. Was sie interessiert sind die Übergänge, Brüche, Erinnerungen, Transformationen und Wahrnehmungen – inhaltlich und methodisch. Folgende Bücher wurden von der H-Soz-u-Kult Jury prämiert: Konrad Jarauschs „Die Umkehr“, Jürgen Reuleckes „Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert“, Peter Reichels „Erfundene Erinnerung“, Gregor Thums „Die fremde Stadt“ und auf dem fünften Platz gleich zwei Publikationen nämlich Michael Manns „Fascists“ und Hannes Heers „Vom Verschwinden der Täter“. Aufgrund der vorherrschen Thematik wundert es auch nicht, dass fast ausschließlich deutsche Titel prämiert wurden. Dass die Erinnerung vor allem die eigene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anspornt und deshalb die zeithistorische Forschung besonders zu prägen scheint, zeigt der Zuschnitt der Publikationen – nur ein Buch stammt aus der internationalen Forschung.

„Anfang der siebziger Jahre kam ich wieder einmal nach einem transatlantischen Flug etwas übernächtigt in Frankfurt an. Nach dem üblichen Gedränge beim Aussteigen traute ich an der Passkontrolle kaum meinen Augen: Der junge Grenzbeamte trug einen Vollbart, sein Kragen war offen und der Schlips verrutscht, er lächelte sogar und wünschte mir einen schönen Aufenthalt.“ Diese Situation schildert Konrad H. Jarausch in seinem Buch „Die Umkehr“ als ein persönliches Schlüsselereignis, in dem sich die vielfältigen Wandlungen innerhalb der deutschen Gesellschaft in einer Szene verdichten. Es kam in ihm die Frage auf, wie es zu einer solch „erstaunlichen Metamorphose“ kommen konnte. „Dies ist eine unerwartete, ja unerhörte Kehrtwendung der Geschichte.“ Er knüpft damit an die von Gustav Radbruch im Januar 1947 geforderte „Umkehr zur Humanität“, die Frage nach den historischen Wurzeln einer einst entstehenden Berliner Republik, aber auch an Dan Diners Zivilisationsbruch an und zeichnet den Weg der Rezivilisierung. Da eine Erklärung der Änderung der politischen Kultur in der Nachkriegszeit eine Kontrastierung verlangt, stellt Jarausch die Entwicklung in den beiden deutschen Systemen gegenüber. Nicht zufällig steht ein Transatlantikflug am Anfang: In der Bundesrepublik aufgewachsen, aber seit den 1960er-Jahren im akademischen Betrieb der USA beheimatet, sind Jarauschs eigene Erinnerungen und Wahrnehmungen sowohl die des Beteiligten als auch die des Beobachters von außen.

Einen Begriff, mit dem sich die Geschichtswissenschaften lange schwer taten, greifen Jürgen Reulecke und Elisabeth Müller-Luckner in ihrem aus einem Kolloquium entstandenen Sammelband auf: Generationalität. Dieser wurde bis dahin eher der Soziologie und Pädagogik überlassen, zunehmend jedoch dieses umstrittene Forschungskonzept im Zuge neuerer kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Ansätze durch die Geschichtswissenschaften wieder entdeckt und der interdisziplinäre Zugang betont. Diese haben deutlich gemacht, dass wir letztlich immer auch vor dem Hintergrund unserer eigenen Lebenserfahrung und der uns verfügbaren Geschichten anderer Menschen argumentieren. Im Mittelpunkt des Konzeptes steht daher die subjektive Selbst- und Fremdverortung und damit die Sinnstiftung „mit Blick auf die von ihnen erlebte Geschichte und die Kontexte, die sie umgeben“. (S. VIII) Der Sammelband spürt damit dem Phänomen nach, dass Angehörige derselben Altersgruppe aus gleichen Erfahrungen unterschiedliche Schlüsse ziehen können.

Auch der drittplatzierte Titel widmet sich der Erinnerung – der erfundenen Erinnerung, wie es Peter Reichel, Politikwissenschaftler an der Universität Hamburg, nennt. Im Mittelpunkt steht hier jedoch nicht der subjektive Zugang durch den über eine individuelle Erlebniswelt geprägten Einzelnen, sondern die Wirkung von Medien auf die Wahrnehmung und Erinnerung. Er fragt nach der Bedeutung von Theater und Film in der Konfrontation mit den nationalsozialistischen Verbrechen, welchem Geschichtsbild sie selbst anhaften, aber auch welche Bilder diese von Auschwitz und dem Krieg hervorgebracht haben und damit die Vergangenheit neu erfinden.

Zitation
HistLit 2005-4: Kategorie Zeitgeschichte, In: H-Soz-Kult, 14.10.2005, <www.hsozkult.de/text/id/texte-662>.
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