HistLit 2005-4: Kategorie Europäische Geschichte

Von
Matthias Middell

Essay von Matthias Middell, Universität Leipzig

Die Kategorie „Europäische Geschichte“ führt Wolfgang Reinhards kompendiengleiche Historische Anthropologie an, die er unter dem Titel „Lebensformen Europas“ veröffentlicht hat. Der Autor manövriert sich mit enormem Geschick und auf der Basis eines beachtlichen Lesepensums durch die verschiedenen Dimensionen der Körperlichkeit (von Geschlecht über Ernährung und Hunger bis zu den Lebensaltersstufen und dem Tod), durch die verschiedenen Sphären der menschlichen Vergemeinschaftung, durch die Gestaltung des Verhältnisses zu all den Umwelten, mit denen Menschen konfrontiert sind, und endet mit Fragen von Transzendenz und dem Sinn für alles Zeitliche. Er schlägt übersichtliche Schneisen durch dieses vielfältige Dickicht, indem er vorbildlich zu erzählen weiß und nie um ein wirklich gutes Beispiel zur Illustration scheinbar abstrakter Zusammenhänge verlegen ist. Mit hoher Disziplin bringt er den schwierigen Parcours mit genau abgezirkelten Kapiteln von jeweils rund 20 Seiten hinter sich und bleibt das ganze Buch durch seinem Motto treu, dass dem Historiker keine Methode fremd und kein Wissen aus den Nachbardisziplinen obskur bleiben darf, wenn er der Gefahr theoretisch gelenkter Einseitigkeit entgehen will.

Inwieweit dieses wundervolle Buch allerdings ungeachtet seines Titels in der Kategorie „Europäische Geschichte“ richtig platziert ist, mag man auch wieder fraglich finden können, denn geht man das Personenregister durch, taucht der Osten Europas nur drei Mal auf. Katharina II. und Stalin sind gesetzt, und die legendäre polnische Woiwodentochter Helena Oginska scheint deren Eigenschaften gar zu verknüpfen, wenn sie als eine „schöne und weise Dame, die so stark war, dass sie ein Hufeisen mit den Händen zerbrechen konnte“, zitiert wird (S. 218). Ob wir solche Sparsamkeit des Blicks, der andererseits weder Helmut Kohls Ehrenwort noch Beate Uhses Stilisierung als Heldin der sexuellen Revolution entgeht, die klassischen Begründungen der älteren Europageschichte von einer „unbestreitbaren kulturellen Pionierrolle“ Mittel-, Süd- und Westeuropas einerseits und dem Forschungsvorsprung der westlichen Historiografie andererseits ausreichen, kann auch bezweifelt werden.

Gewissermaßen als Ausgleich haben die Juroren des Jahrganges 2004 Jörg Baberowskis „Geschichte des Stalinismus“ auf Platz 2 gesetzt und damit der gewalttätigen und in vielem offen antiwestlichen sowjetischen Zeitgeschichte Heimrecht in einer neuen europäischen Geschichte verschafft, die ihre Grenzen noch zu bestimmen sucht. Heinz-Gerhart Haupts Überblick zur Entwicklung von Konsum und Handel resümiert die Forschungsfortschritte, die eine Kulturgeschichte in den letzten Jahren erzielt hat, die sich mit der Frage nach Ursprung und Datierung des Übergangs zur Konsumgesellschaft beschäftigt. Valentin Groebners Untersuchung der Kennzeichnung von Personen durch Aushänge und Ausweise verfolgt ein Problem bis auf die Höhe des Mittelalters, das bis heute für die Untersuchung transnationaler Geschichte eine außerordentliche Bedeutung hat: die Registrierung von mobilen Menschen und die damit einhergehende Identifizierung von Menschen mit Territorien. Schließlich folgt auf Platz 5 ein Sammelband, der aus einer Tagung des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld im März 2002 hervorgegangen ist und sich dem einige Zeit hinter Bürgertum und Bürgerlichkeit verschwundenen Adel im 19. und 20. Jahrhundert vergleichend zuwendet.

Nimmt man dieses Ergebnis einer Auswahl aus anschwellender Produktion zur europäischen Geschichte, dann fällt zunächst auf, dass es sich durchweg um deutsche Autoren und Publikationen handelt. Diese Feststellung könnte zu pessimistischen Urteilen über die Verflechtung mit der ausländischen Forschungslandschaft verführen, kann aber genauso gut als Indiz dafür gelesen werden, dass sich die europäische Geschichte eben inzwischen zu einem Schwerpunkt der deutschen Historiografie mit konkurrenzfähiger Qualität entwickelt hat. Der ältere Streit, ob eine Rückkehr zur Politikgeschichte, eine Sozialgeschichte in der Erweiterung oder der resolute Übergang zur Kulturgeschichte die beste Lösung für die Deutungsprobleme der Geschichtswissenschaft darstellt, kann mit Blick auf die hier vorgenommene Reihung quasi als erledigt angesehen werden, denn in allen Studien wird eher für eine Mischung der Methoden und für das Aufgreifen der verschiedenen Erfahrungen von Politik-, Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte plädiert, anstatt sie einseitig einander gegenüberzustellen. Und schließlich zeigt sich die Präferenz der Juroren für eine europäische Geschichte mit langem historischem Atem, eine europäische Geschichte, die zurückgreift auf die Fundamente kultureller Einheit im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, um sich anschließend den Transformationen des 19. und 20. Jahrhunderts zuzuwenden. Inwieweit dabei auch eine kritische Reflexion der zuweilen teleologischen Rolle von Europageschichtsschreibung für das Herbeideuten einer europäischen Einheitlichkeit in der Gegenwart mitbedacht ist, bleibt für den Moment offen und dürfte die künftige Erörterung von Grundlagenproblemen der europäischen Geschichte weiter inspirieren.

Zitation
HistLit 2005-4: Kategorie Europäische Geschichte, In: H-Soz-Kult, 15.10.2005, <www.hsozkult.de/text/id/texte-661>.
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