HistLit 2005-4: Kategorie Neueste Geschichte

Von
Uffa Jensen

Essay von Uffa Jensen, University of Sussex

Am 8. Juni 1972 rannten fünf Kinder in wilder Flucht vor einem Napalm-Angriff eine Straße unweit des Dorfes Trang Bang nordwestlich von Saigon entlang. Gefolgt von einigen Soldaten liefen sie auf eine Gruppe von Journalisten zu, unter denen sich auch der AP-Korrespondent Nick Ut befand, der diesen Moment des Vietnam-Krieges festhielt und damit eine der fotografischen Ikonen des 20. Jahrhunderts schuf. Die Genese des Fotos wird nachvollziehbar in Gerhard Pauls Studie „Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges“, die den Buchpreis „Das Historische Buch 2004“ in der Kategorie Neueste Geschichte erhält.

Das Buch greift aktuelle Entwicklungen der Geschichtswissenschaften aus den letzten Jahren und Jahrzehnten auf, indem es drei verschiedene, zum Teil sehr lebendige Forschungsstränge verknüpft: Medien-, Erinnerungs- und eine kulturgeschichtlich erweiterte Militärgeschichte. Das Erkenntnisproblem, dem die historische Forschung beim Umgang mit Bildmedien gegenübersteht, ist spätestens seit den Kontroversen um die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung offenkundig: Es mangelt nicht nur an quellenkundlichen Überlegungen. Zugleich müssen visuelle Quellen zu einem eigenständigen Untersuchungsgegenstand erhoben werden, der für moderne Mediengesellschaften besondere Erkenntnisgewinne verspricht, aber auch spezielle Forschungsprobleme schafft.1 Auch das hat die Wehrmachtsausstellung gerade in ihrem so konflikthaften Gehalt für die Erinnerungskultur der neuen Bundesrepublik dokumentiert: Für ein massenmediales Großereignis, wie es kriegerische Auseinandersetzungen allemal darstellen, spielen Bildmedien eine herausragende Rolle, noch – und gerade – Jahrzehnte nach dem eigentlichen Geschehen. Neben dem materiellen Bildinhalt, wodurch eine fotografische oder filmische Darstellung des Krieges eine dokumentarische Qualität erhalten kann, fließen in eine solche Repräsentation Elemente aus dem Deutungshorizont sowohl der Produzenten als auch der Rezipienten ein: Bilder stehen nicht nur für ein Kriegsgeschehen, ihnen selbst können bereits zeitgenössische Lesarten des Geschehens entnommen werden. Sie sind „visuelle Fiktionen“, wie Paul hervorhebt. Nicht zuletzt spielen hier auch propagandistische Interessen eine wichtige Rolle: Es wird für die moderne Kriegsführung – und noch stärker unter Bedingungen des sogenannten postmodernen Krieges im späten 20. Jahrhundert – immer entscheidender, die Bilder und ihre Produktion zu beherrschen. Mit den Bildern des Krieges selbst entsteht ein Krieg der Bilder.

Pauls Buch konzentriert sich auf die Geschichte des modernen Krieges von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts. Gleichwohl geht es in einem ersten Kapitel auf die medialen Darstellungen des frühmodernen Krieges ein, um den historischen Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen skizzieren zu können. Mit dem Krim- und dem amerikanischen Bürgerkrieg setzt dann Pauls eigentliche Analyse ein, deren Schwerpunkte der 1. und 2. Weltkrieg, der Spanische Bürgerkrieg und der Vietnam-Krieg sind. Allerdings endet der Flensburger Historiker damit keineswegs: In drei Abschlusskapiteln legt er seine Gedanken zu den veränderten Visualisierungsstrategien im postmodernen Krieg dar, wobei er vor allem auf den 1. Golfkrieg, den Kosovo-Krieg und den 11. September rekurriert. Eingestreut zwischen diese Kapitel sind neun visuelle Essays, welche die Bilderwelten der jeweiligen Konflikte präsentieren und sehr detailliert kommentieren. Es ist eine Leistung dieses materialreichen Buches, ein besonderes Augenmerk auf die möglichst genaue Dokumentation der Bilder, Filmsequenzen und Internetausschnitte zu legen. Vor allem dadurch gelingt es Paul, die visuellen Essays zu selbständigen Darstellungen mit eigenen Erkenntnisgewinnen auszubauen, die eben nicht bloß illustrierenden Charakter haben.

Dabei kann Paul ein bemerkenswertes Spannungsverhältnis in diesen Kriegsbildern herausarbeiten. Einerseits produziert jeder Krieg seine individuelle Bilderwelt: Für jeden Krieg scheint es ein Set an Darstellungen zu geben, die sich zu Schlagbildern – Paul greift hier auf Aby Warburgs Überlegungen zurück – verdichten und in unserem kollektiven Gedächtnis andere Repräsentationen des Geschehens überlagern. Die von General Norman Schwarzkopf kommentierten Zielbilder aus dem Cockpit amerikanischer Kampfflugzeuge gehören ebenso untrennbar zum 1. Golfkrieg wie der „Falling Soldier“ Robert Capas zum Spanischen Bürgerkrieg. Andererseits vermischen sich gerade im Gedächtnis der Nachgeborenen diese Darstellungen zu einem Bild des Krieges an sich. Sie lösen sich aus ihren Kontexten und werden zu allgemeinen Ikonen des Schreckens. Die Stärke von Pauls visuellen Essays liegt nicht zuletzt in der Rückführung solcher Bilder auf ihre Entstehungs- und Verbreitungskontexte, wodurch es ihm gelingt, den Urgrund dieser Kriegsbilder freizulegen: das zutiefst unmenschliche Geschehen in Formen zu bannen und damit anschaubar zu machen.

Als Nick Ut auf der Straße bei Trang Bang auf den Auslöser drückte, entstand nicht sofort jenes berühmte Foto, dass in unser aller Gedächtnis nachwirkt. Auf den Aufnahmen sieht man zunächst, wie die Soldaten die Kinder vor sich hertrieben und die Journalisten nicht helfend eingriffen. Erst spätere Ausschnitte verdichteten das Kriegsbild zur Ikone: Journalisten und Soldaten traten in den Hintergrund oder verschwanden ganz. Vom enthumanisierenden Kontext des Krieges und seiner Dokumentation bereinigt, blieb das humanisierende Schlagbild eines rennenden, schreienden, nackten Mädchens inmitten des Vietnamkrieges übrig.

Anmerkung:
1 Mit derartigen Fragen beschäftigte sich das Forum „Sichtbarkeit der Geschichte. Beiträge zu einer Historiografie der Bilder“ von H-Arthist und H-Soz-u-Kult. Zu finden ist dies unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=355&pn=texteexte

Zitation
HistLit 2005-4: Kategorie Neueste Geschichte, In: H-Soz-Kult, 13.10.2005, <www.hsozkult.de/text/id/texte-655>.
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