HistLit 2005-4: Kategorie Offene Kategorie

Von
Peter Haber

Essay von Peter Haber, Universität Basel

Die Ergebnisse der Offenen Kategorie sind in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Drei Punkte sind dabei besonders augenfällig.

Zum einen scheint sich die historische Anthropologie im Feld der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft endgültig etabliert zu haben. So legt Jakob Tanner mit „Historische Anthropologie zur Einführung“ (Platz 3) ein schmales, aber gehaltvolles Buch vor, in dem er die historische Anthropologie nicht nur methodisch und theoretisch, sondern auch wissenschaftsgeschichtlich äußerst präzise verortet. Eindrücklich beschreibt er den Wandel der Menschenbilder in den Wissenschaften seit 1900, um schließlich gegen eine Arbeitsteilung zu plädieren, in der Natur und Kultur getrennten Kompetenzbereichen zugehören. Auch „Negotiating the Gift“ (Platz 2), von Gadi Algazi, Valentin Groebner und Bernhard Jussen herausgegeben, ist der historischen Anthropologie verpflichtet und untersucht auf den Spuren von Marcel Mauss die Gabe als ein „totales soziales Phänomen“ der Vormoderne. Wolfgang Reinhard schließlich nennt sein mehrfach preisgekröntes Buch „Lebensformen Europas“ (Platz 1) im Untertitel „Eine historische Kulturanthropologie“ und teilt sein auch im deutschen Feuilleton viel gelobtes Werk in die drei Bereiche „Körper“, „Mitmenschen“ und „Umwelten“ ein, um eine Gesamtschau europäischer Lebensformen zu skizzieren.

Zum anderen ist an den Ergebnissen bemerkenswert, dass es auf dem deutschen Fachbuchmarkt ein großes Bedürfnis nach Übersicht und Ordnung zu geben scheint. Das „Handbuch der Kulturwissenschaften“ (Platz 5 ex aequo), herausgegeben von Friedrich Jäger, Burkhard Liebsch, Jürgen Straub und Jörn Rüsen, unternimmt erstmals im deutschen Sprachraum den Versuch, auf 1.800 Seiten eine thematische und methodische Auslegeordnung im Gesamtbereich der Kulturwissenschaften vorzunehmen. Es ist ein Handbuch im besten Wortsinne, das mit zumeist konzisen und gut gegliederten Aufsätzen einem bei der täglichen Arbeit zur Hand geht (der fehlende Index allerdings ist eine absolut unverzeihliche Nachlässigkeit). Übersicht verspricht auch Johannes Fried, der mit „Der Schleier der Erinnerung“ (Platz 5 ex aequo) nichts weniger als die „Grundzüge einer historischen Memorik“ präsentieren möchte. Anknüpfend an die aktuellen Gedächtnistheorien – die auch bei Tanner und im Handbuch der Kulturwissenschaften prominent verhandelt werden – konfrontiert Fried die Geschichtswissenschaft mit den Ergebnissen der modernen Hirnforschung und plädiert für eine „neurokulturelle Geschichtswissenschaft“ (S. 393). Auch in „Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte“ (Platz 4), herausgegeben von Hartmut Berghoff und Jakob Vogel, klingt der Anspruch mit, Übersicht in die neue historiografische Unübersichtlichkeit zu bringen und die „Dimensionen eines Paradigmenwechsels“ – so der Untertitel – auszuleuchten.

Bleibt noch ein Buch, das in der Offenen Kategorie ausgezeichnet wurde: „Anthrax. Bioterror als Phantasma“ (Platz 5 ex aequo) von Philipp Sarasin. Das Büchlein umfasst knapp 200 Seiten, ist packend geschrieben und behandelt im Grunde gar kein historisches Thema – und ist gerade deshalb das vielleicht aufregendste historische Buch des letzten Jahres: Sarasin seziert in diesem Meisterstück das phantasmatische Reden über Anthrax nach dem 11. September in einer atemberaubenden Schärfe und legt gleichzeitig subtil die historischen Wurzeln dieses Diskurses offen. Sarasin will mit seinem Essay „politische Vorgänge einem kulturwissenschaftlichen – und damit auch historischen – Blick“ aussetzen (S. 9) – ein Unterfangen, das hoffentlich viele Nachahmer finden wird.

Sarasin und Tanner sind Büronachbarn, beide arbeiten sie an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Zürich. Und dies ist schließlich der dritte bemerkenswerte Punkt an den Ergebnissen in der Offenen Kategorie: Zusammen mit Valentin Groebner, der in Luzern lehrt, ist die Schweiz in dieser Kategorie auffallend gut vertreten. Die Peripherie, so scheint es, bietet die Chance, das auszuprobieren, was im Zentrum noch nicht so recht klappen will: Spannende Themen gut lesbar und doch theoretisch fundiert aufzubereiten.

Zitation
HistLit 2005-4: Kategorie Offene Kategorie, In: H-Soz-Kult, 18.10.2005, <www.hsozkult.de/text/id/texte-653>.
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