HistLit 2005-4: Kategorie Neuere Geschichte

Von
Ewald Frie

Essay von Ewald Frie, Universität Essen

Kann man eine tausendseitige Enzyklopädie, die drei Herausgeber mit 146 Autoren aus 15 Nationen in mehrjähriger Arbeit zusammengestellt haben, mit einer innovativen Habilitationsschrift oder Dissertation vergleichen? Man kann nicht. Aber man muss. Jedenfalls, wenn man sich an der Vergabe des H-Soz-u-Kult-Preises für „Das historische Buch 2004“ beteiligen will. Der Preis geht in der Kategorie Neuere Geschichte (langes 19. Jahrhundert) an die „Enzyklopädie Erster Weltkrieg“. Ein Elefant hat gesiegt. Aber auf den Plätzen zwei bis vier folgen keine kleineren Elefanten, sondern gewitzte und gewichtige Qualifikationsarbeiten von Simone Lässig, Christian Geulen und Dirk van Laak. Und dann kommt eine Globalgeschichte des langen 19. Jahrhunderts, die C. A. Bayly aus Cambridge geschrieben hat. Welch eine Reihe. Das 20. Jahrhundert ist zu Ende. Das 19. erscheint in neuem Licht.

Schauen wir uns den Sieger genauer an. Eigentlich sind das zwei Bücher in einem. Vor das 660 Seiten umfassende klassische alphabetische Lexikon ist ein Überblicks-Sammelband mit 26 Essays gestellt worden. Darin geht es zunächst um die den großen europäischen Krieg führenden Staaten einschließlich der USA. Dann wird anhand ausgewählter Beispiele die Gesellschaft im Krieg (Kriegswirtschaft ist hier ein Aufsatztitel wie Frauen, wie Soldaten, oder wie Medizin) beleuchtet. Um Kriegsverlauf, Kriegführung, Kriegsverbrechen und Kriegsende geht es in einem dritten Teil, bevor abschließend vor allem die deutsche Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg dargestellt wird. Die Kombination aus Essayband und Lexikon dient dazu, einerseits das verfügbare Wissen einzufangen, es andererseits aber auch resümierend zu perspektivieren, um zukünftige Forschung anzuregen und vor allem den internationalen Vergleich und die transnationale Beobachtung zu ermöglichen.

Das Lexikon ist ein Fest für Neugierige. Auf den Seiten 476ff. können wir uns nacheinander über den französischen Politiker Abel Ferry, über Festungen, die Feuerwalze, den Film (inkl. einer Liste ausgewählter Dokumentar- und Spielfilme), Finnland und den britischen Admiral John Arbuthnot Fisher informieren. Die klassischen Lexikonthemen, Menschen, Orte und Sachen, sind vorhanden. Aber es gibt mehr als das. Kultur und Gesellschaft erhalten im Lexikonteil wie schon bei den Essays ein starkes Gewicht. Es gibt Artikel über Aberglauben, über Dadaismus, über Fronttheater, über Hunger, Soldatenhumor und über Vivat-Bänder. Damit ist das Buch auch ein umfassender lebensweltlicher Spiegel jener Urkatastrophe, die die dramatischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts auslöste und so gut wie jede Familie in Europa betraf. Es kann ein „Hausbuch“ werden, das die mittlerweile ganz verblassten lebensweltlichen Erinnerungen an den großen Krieg zu ersetzen in der Lage ist.

Die internen Verweise sind sehr sparsam. Mein geliebter Kinderzeitvertreib, aus Verweisen in Lexika lange Ketten zu bauen, funktioniert nicht. Auch ein umfassendes Gesamtregister fehlt. Dieses Lexikon ist kein Kinderspiel und für eilige Nutzer nur begrenzt geeignet. Es richtet sich mit seiner Kombination aus Essays und Einträgen an interessierte Leser und Betrachter. Sie werden auch an den 23 Karten und mehr als einhundert Abbildungen ihre Freude haben. Die Enzyklopädie Erster Weltkrieg fasst in menschenfreundlicher Sprache Wissen zusammen, das in mehr als neunzig Jahren Weltkriegsforschung entstanden ist. Es kann den Auftakt bilden für Forschungen und Debatten, die die Nationengrenzen des späten 19. und 20. Jahrhunderts hinter sich lassen.

Zitation
HistLit 2005-4: Kategorie Neuere Geschichte, In: H-Soz-Kult, 12.10.2005, <www.hsozkult.de/text/id/texte-652>.
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