Buchpreis: Essay Offene Kategorie

Von
Peter Stachel

Essay von Peter Stachel, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Die Geschichte des Okkulten der Augsburger Professorin für Europäische Ethnologie, Sabine Döring-Manteuffel, hat sowohl in der Fachwelt als auch in der Tagespublizistik einige Aufmerksamkeit erregt und durchwegs sehr positive Kritiken geerntet. In der Tat ist es der Autorin gelungen, einen originellen Blickwinkel auf die von ihr analysierten Phänomene zu wählen und ihre Ergebnisse in ansprechender, gut lesbarer Form darzustellen. Dies muss deshalb besonders hervorgehoben werden, da gerade innerhalb der deutschsprachigen akademischen Kultur sprachliche und argumentative Schwerfälligkeit immer noch allzu oft als vermeintlicher Ausweis von Seriosität und wissenschaftlicher Korrektheit gilt. Döring-Manteuffels Buch belegt, dass es auch anders geht.

Nah an einzelnen, im Detail erläuterten Fallbeispielen, wird die Geschichte des Okkulten von der Erfindung des Buchdrucks bis in die Gegenwart dargestellt, ohne Anspruch auf – bei der gegebenen Thematik gar nicht zu erreichende – Vollständigkeit und ohne im Detail auf die Inhalte okkulter Lehren und Glaubenssysteme einzugehen. Döring-Manteuffel wählt vielmehr den wohldurchdachten Zugang, sich der Thematik auf der Ebene von konkreten Fallgeschichten zu nähern und diese in eine mediengeschichtliche Analyse und Kritik einzubinden. Die Erfindung des Buchdrucks brachte keineswegs nur eine Intensivierung und soziale Verbreiterung des Zugangs zu rationalem Wissen, vielmehr wurde das neue Medium von Anfang an auch zu einem Instrument der Verbreitung von dubiosen Inhalten. Okkulte Geschichten und Geschichtchen, die zuvor mündlich tradiert und vielfach nur regional verbreitet worden waren, wurden nunmehr verschriftlicht und erreichten in gedruckter Form überregionale Verbreitung. Die Nachfrage danach war erheblich und das „Andere der Vernunft“ fügte sich offenkundig bestens in die Marktlogik des entstehenden Buchhandels ein: Das Unheimliche, nicht vernünftig Erklärbare, wurde zur Nachricht, die Nachricht zur Ware. Eine Logik, die auch heute noch gültig ist und die erklärt, warum sich viele der Motive und konkreten Erzählungen als weitestgehend resistent gegenüber rationaler, wissenschaftlicher Kritik und überdies auch als erstaunlich langlebig erweisen. Dies belegt in eindrücklicher Weise jenes Beispiel, das die Autorin an den Beginn ihrer Ausführungen stellt. Die Dienstmagd Mary Toft soll in dem Dorf Godalmin südlich von London von mehreren lebenden Kaninchen und von Katzenbeinen entbunden worden sein, wie der Drucker John Bagnall in einer im Jahr 1726 in Ipswich im Selbstverlag veröffentlichten Billigbroschüre zu erzählen wusste. Die Veröffentlichung mehrerer darauffolgender Zeitungsartikel und Broschüren rief denn auch bald die gelehrte Kritik (insbesondere von Medizinern) auf den Plan, die die ganze Angelegenheit mit gutem Grund und noch besseren Argumenten als Unsinn qualifizierte. Dessen ungeachtet wurde die Geschichte jedoch immer weiter tradiert und fand umstandslos auch den Weg ins Internet: Gibt man heute den Namen „Mary Toft“ in die Suchmaschine Google ein, so finden sich nicht weniger als 8.000 Einträge: Der thematische Rahmen reicht von der Geschichte der Dienstboten und der gesellschaftlichen Position von Frauen im 18. Jahrhundert bis zur Geschichte der Geburtshilfe, aber in vielen Fällen wird die Geschichte der „Kaninchengebärerin“ für eben jene „bare Münze“ genommen, derentwegen John Bagnall sie einst im Druck verbreitet hatte. Der Weg von einer in der englischen Provinz vor über 280 Jahren gedruckten und um zwei Pence vertriebenen sechsseitigen Broschüre bis ins World Wide Web mag weit erscheinen, nach Ansicht von Sabine Doering-Manteuffel entspricht er jedoch der Logik des Zusammenhangs von okkulten Glaubensvorstellungen und medialen Marktmechanismen, der zur Folge hat, dass die Instrumente der aufgeklärten Vernunft gleichsam immer auch ihr Gegenteil fördern: Das Licht der Aufklärung lässt auch Schatten entstehen. So habe etwa die Kritik der Aufklärung an religiösen Glaubensinhalten und die damit teilweise verbundene Schwächung konfessioneller Bindungen den Raum für okkulte Vorstellungen vergrößert. Wer nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr unhinterfragt an den Inhalt der traditionellen und gesellschaftlich akzeptierten religiösen Lehren glaubt, der glaubt keineswegs an nichts, vielmehr entwickelt er oder sie die Neigung, an alles zu glauben. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis der Autorin, dass sich in protestantischem Umfeld, wo die traditionellen und konkreten Vorstellungen von Himmel, Fegefeuer und Hölle durch abstraktere Jenseitskonzepte ersetzt wurden, okkulte Ideen leichter verbreitet hätten als in dominant katholisch geprägten Milieus.

Dem Problem der Quellenlage – Billigbroschüren okkulten Inhalts fanden, wenn überhaupt, nur in geringer Zahl und zumeist zufällig den Weg in die wissenschaftlichen Bibliotheken – begegnet die Autorin durch eine thematisch weitgespannte Quellenbasis, die arabische Traktate zur Alchemie ebenso umfasst wie private Tagebücher, Phänomene der „Volksmagie“ ebenso wie jene des Wunderglaubens, und überdies auch bildliche Quellen einbezieht: Die dazumal neuen Möglichkeiten des Mediums Fotografie beispielsweise wurden umgehend zur Fabrikation von heute teilweise unfreiwillig komisch anmutenden Belegen vorgeblich okkulter Phänomene – beispielweise durch Mehrfachbelichtungen – genutzt. Besonderes Augenmerk widmet die Autorin mit gutem Grund dem World Wide Web, dem sie überaus kritisch gegenüber steht: Der aus den Möglichkeiten des Verlinkens und des Copy-and-Pastes resultierende Multiplikationseffekt, die leichte Zugänglichkeit zu Informationen per Mouse-klick und die weitreichende Anonymität, die das neue Medium bietet, machen das Internet zu einem geradezu idealen Medium zur Verbreitung okkulter Inhalte: „Hexen und Heilige, Teufel und Engel, Götter und böses dämonisches Gesindel: Bevölkerten sie einst Himmel und Hölle, aus denen es kein Entweichen gab, so stürzen diese Figuren nun als Wesenheiten ohne Ort und Bindung durch die Cyberwelt“ (S. 275).

Die Breite des Ansatzes, die die Lektüre der Studie so besonders anregend macht, bringt jedoch auch gewisse konzeptuelle Probleme mit sich. So interessant sich etwa das Kapitel über den „Völkischen Okkultismus“ und sein Einwirken auf das Weltbild des Nationalsozialismus liest (eingestandenermaßen kein ganz neues Thema), so werfen die entsprechenden Ausführungen doch die Frage auf, ob der Begriff „Okkultismus“ hier nicht teilweise terminologisch überdehnt wird: Die „Welteislehre“ des Wieners Hanns Hörbiger war zweifellos pseudowissenschaftlich und zeitigte überdies problematische Auswirkungen durch die Rezeption ihrer „völkisch“-rassentheoretischen Implikationen durch die Nationalsozialisten, ob sie aber durch den Begriff „okkult“ angemessen charakterisiert wird, mag man bezweifeln. Mehr ins Gewicht fällt allerdings das Fehlen eines Kapitels über den starken Einfluss okkulter Denkfiguren auf die Ästhetik und die Kunsttheorie der Moderne, gerade hier hätte die Autorin zahlreiche Belege für ihre Thesen finden können. Leider fehlt auch ein Literaturverzeichnis.

Doch diese Monita fallen nicht wirklich schwer ins Gewicht. Sabine Doering-Manteuffel ist eine kluge, lesenswerte Studie gelungen, die einige wichtige Fragen überzeugend beantwortet, dabei aber noch mehr Fragen aufwirft und zum Weiterdenken anregt.

Gänzlich anders geartet, dabei aber nicht minder lesenswert, ist der aus dem Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 „Medienumbrüche“ der Universität Siegen hervorgegangene, von Jörg Döring und Tristan Thielmann herausgegebene Sammelband „Spatial Turn“, der sich, so der Untertitel, mit dem „Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften“ beschäftigt. Auch wenn man der zuweilen marktschreierisch anmutenden Rhetorik der allgegenwärtigen „Turns“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften misstrauen kann, die nicht mehr ganz junge Semester wie mich an die erste Textzeile eines in der Version der Byrds bekannt gewordenen Liedes von Pete Seger erinnern mag – „To everything – turn, turn, turn!“ –, ist im konkreten Fall doch berechtigterweise zu konstatieren, dass die Kategorie des Raumes gerade im deutschen Sprachraum bis vor wenigen Jahren in den Humanwissenschaften aus nachvollziehbaren historischen Gründen kaum thematisiert wurde. Während „Zeit“ selbstverständlich als soziale Konstruktion und Kategorie verstanden wurde, wurde Raum lange Zeit mehr oder weniger unhinterfragt als substanzhafte, invariante und immobile physikalische Gegebenheit im Sinne eines bloßen „Behälters“ aufgefasst. Der von Individuen und Gesellschaft bewohnte Raum ist aber immer gesellschaftlich und kulturell sinnhaft strukturierte bzw. konstruierte „Räumlichkeit“.

Soziale und kulturelle Raumvorstellungen und -konzepte standen insbesondere im angelsächsischen Bereich bereits seit einiger Zeit auf der Agenda kulturwissenschaftlicher Forschungen, in den letzten Jahren sind auch im deutschen Sprachraum mehrere einschlägige Arbeiten erschienen. Dörings und Thielmanns Sammelband ist jedoch viel mehr als bloß eine additive Hinzufügung zu einem prosperierenden Themenfeld. Was bereits in der Einleitung positiv ins Auge fällt, ist die gelassene Distanz, mit der die Herausgeber sich von einem konjunkturellen „Anhängen“ an einen modischen „Turn“ abgrenzen um der Gefahr einer „Verweiskette mit Selbstverstärkereffekt“ (S. 11) zu entgehen. Aus der Not des Fehlens eines interdisziplinären „common grounds“ für „die vielen einzelwissenschaftlichen Begründungen für einen spatial turn“ (ebd.), machen die Herausgeber die Tugend einer gleichermaßen interdisziplinär wie international orientierten Anthologie. Der erste Teil des Bandes, er macht knapp zwei Drittel des Umfanges aus, besteht aus Beiträgen von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen – Geschichte, Soziologie, Romanistik, Kulturanthropologie, Medientheorie, Environmental Studies – der kürzere zweite Teil setzt sich ausschließlich aus Texten mit humangeographischer Ausrichtung zusammen. Es liegt in der Natur der Sache, dass die konkreten Zugänge zur Thematik dabei höchst unterschiedlich ausgefallen sind und sich nicht umstandslos auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, was von den Herausgebern auch so beabsichtigt war. Bemerkenswerterweise ist die Divergenz der Auffassungen im humangeographischen Teil keineswegs geringer als im interdisziplinären ersten Teil: Auch dies ein Beleg für die Vielfältigkeit der Zugänge zur Thematik. Ungeachtet dessen fügen sich die einzelnen Beiträge durch die vorgegebene thematische Klammer zu einem Ganzen: Die einzelnen Beiträge können durchaus als – zumindest implizit – aufeinander bezogen gelesen werden, die Autoren sind aber eben in wesentlichen Punkten unterschiedlicher Auffassungen, wodurch der Leser einen breiten und umfassenden Überblick über den aktuellen Diskussionsstand und vielfältige Anregungen zum Weiterdenken, nicht jedoch simple Ratschläge zur gefälligen Nutzanwendung erhält.

Die Beiträge sind durchwegs stringent argumentiert und von hoher Qualität, so dass es schwer fällt, einzelne Texte besonders hervorzuheben. Auffallend ist allenfalls der zuweilen polemische Ton, den Gerhard Hard in seiner Kritik an einigen aktuellen kulturwissenschaftlichen und soziologischen Raumkonzepten anschlägt und der stellenweise ein wenig den Eindruck vermittelt, dass hier ein arrivierter Vertreter der Humangeographie die terminologische Definitionshoheit seiner Disziplin zu verteidigen bestrebt ist. Besonders anregend ist demgegenüber der Beitrag des Münchner Romanisten Jörg Dünne ausgefallen, der die „doppelte Operationalisierung“ des Raumes „als soziale Raumpraxis und territorial bestimmte Raumordnung“ (S. 50) durch die Kartographie in historischer Perspektive thematisiert: „einerseits als vermessbarer Raum der Macht, andererseits […] als ikonisch bzw. symbolisch kodierter Raum des Wissens und der Imagination“ (S. 50). Ein einziger Beitrag sticht in negativer Weise hervor: Ausgerechnet der in internationaler Perspektive vielleicht bekannteste Beiträger, der an der University of California Los Angeles (UCLA) und an der London School of Economics and Political Science (LSE) tätige Soziologe Edward W. Soja, begnügt sich in seinem Text „Vom ,Zeitgeist‘ zum ,Raumgeist‘“ mit einer selbst recht „zeitgeistig“ anmutenden und nicht uneitel formulierten Verkündigung des „spatial turn“ als einem revolutionärem Wandel im menschlichen Weltbezug und Weltwissen. Bei aller Prominenz des Verfassers – dieser Text hätte ohne Verlust für die unbestreitbare Qualität der Publikation weggelassen werden können.

Der Sammelband von Jörg Döring und Tristan Thielmann bietet einen exzellenten Überblick über aktuelle, dabei durchaus divergierende Raumkonzepte in den Humanwissenschaften, ohne einen einzelnen Zugang zur Thematik als allein richtigen zu präferieren oder gar zu propagieren. Für jede weiterführende Beschäftigung mit der Thematik setzt er zumindest innerhalb des deutschen Sprachraums Maßstäbe.

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2009“ wurden in der „Offenen Kategorie“ folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Doering-Manteuffel, Sabine: Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung. Von Gutenberg bis zum World Wide Web, München: Siedler Verlag 2008.
Rezension von Johannes Dillinger, in: H-Soz-u-Kult, 16.07.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-038 >

2. Döring, Jörg; Thielmann, Tristan (Hrsg.): Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: Transcript Verlag 2008.
Rezension von Ulrike Jureit, in: H-Soz-u-Kult, 15.08.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-114>.
Rezension von Micha Braun, in: H-Soz-u-Kult, 26.09.2009,
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=11764>.

3. Steinmetz, Willibald (Hrsg.): "Politik". Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, Frankfurt/Main [u.a.]: Campus Verlag 2007.
Rezension von Birgit Schwelling, in: H-Soz-u-Kult, 15.12.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-231>.

4. Nippel, Wilfried: Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2008.

5. Enzensberger, Hans Magnus: Hammerstein oder der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte, Frankfurt/Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2008.
Rezension von Rüdiger Graf, in: H-Soz-u-Kult, 28.05.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-2-136>.

5.Reemtsma, Jan Philipp: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg: Hamburger Edition, HIS Verlag 2008. Rezension von Ute Frevert, in: H-Soz-u-Kult, 29.01.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-077>.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Essay Offene Kategorie, In: H-Soz-Kult, 02.10.2009, <www.hsozkult.de/text/id/texte-1161>.
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