Buchpreis: Essay Kategorie Geschichte der Frühen Neuzeit

Von
Stefan Gorißen

Essay von Karin Gottschalk, Universität Frankfurt a.M., Stefan Gorißen und Niels Grüne, Universität Bielefeld

Die Auswahl der Jury für die Kategorie „Geschichte der Frühen Neuzeit“ zum Buchpreis von H-Soz-u-Kult fiel für das Jahr 2008 auf Titel, die alle geradezu klassische Themen und Felder der Frühneuzeitforschung behandeln. Jeder für sich aber führt auf eine besondere Weise das methodische Innovationspotential, das die Erforschung vormoderner Gesellschaften birgt, eindrucksvoll vor Augen.

Hierfür steht an erster Stelle Barbara Stollberg-Rilingers Buch „Des Kaisers alte Kleider“, das nicht nur von der Jury für die Kategorie Frühe Neuzeit an die erste Position gewählt wurde, sondern gleichzeitig auch bei den epochenübergreifenden Publikumsvoten den ersten Rang erlangen konnte. Anschaulich und differenziert führt Stollberg-Rilinger in diesem Buch, das im Umfeld des Münsteraner Sonderforschungsbereichs über „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ entstanden ist, vor Augen, dass die Verfassung des Alten Reichs, dieses „schauerlichen, ungefügen, ungeheuerlichen Monstrums“ (Pufendorf), nicht zu verstehen ist, solange der Blick ausschließlich auf normativ-rechtliche Quellen, auf Verträge, Beschlüsse und Abschiede gerichtet bleibt, wie es in der konventionellen Verfassungsgeschichte üblich war. Als Ganzes konstituierte sich das Reich, wie die Autorin plastisch vor Augen führt, vor allem durch Rituale, Zeremonien, Gesten und Verfahren, die ihrerseits auf Anwesenheit, Unmittelbarkeit und persönlicher Präsenz aufbauten. Zugleich belegt Stollberg-Rilinger durch die Analyse der anlässlich von Reichstagen und Krönungen praktizierten Riten und Interaktionen, dass das Alte Reich nicht als starres, sich zunehmend selbst überlebendes Gehäuse zu verstehen ist, sondern vielmehr als Interaktions- und Aushandlungszusammenhang. Erst als sich die von den Mächtigen des Reiches gepflegte Kultur der Anwesenheit im 18. Jahrhundert als nicht mehr praktikabel erwies, zerbröselte damit zugleich ein tragendes Fundament des Reichs, so dass es für Napoleon ein Leichtes war, „mit einem Federstrich die institutionelle Fiktion des Reiches zu zerstören“ (S. 317). Mit dieser Dynamisierung der Verfassungsgeschichte des Alten Reichs eröffnet die Autorin einen Perspektivwechsel, der mehr als nur ein tieferes Verständnis der Reichsgeschichte ermöglicht.

Wer dachte, über Disziplinierung und Gefängnis am Übergang von der Frühen Neuzeit zur Moderne sei nichts Neues mehr zu sagen, wird von Falk Bretschneiders Buch „Gefangene Gesellschaft“, das auf dem zweiten Platz in der Kategorie „Frühe Neuzeit“ gelandet ist, eines Besseren belehrt. In seiner Untersuchung der sächsischen Gefängnisse im 18. und 19. Jahrhundert stellt er das Narrativ von der Ablösung vormoderner Leibes- und Ehrenstrafen durch den modernen Disziplinarapparat der Strafanstalt um 1800 auf die Probe. Indem er den Anstaltsalltag wie auch den politischen Diskurs, die ökonomischen Bedingungen ebenso wie die grundlegenden gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen in den Blick nimmt, gelingt es ihm auf beeindruckende Weise, ein differenziertes Bild der Geschichte des Gefängnisses zu zeichnen. Damit erschöpft sich die gelungene Verbindung unterschiedlicher methodischer und theoretischer Zugriffe aber nicht. Vielmehr kann Bretschneider sehr überzeugend zeigen, dass der Übergang von vormoderner zu moderner Strafpraxis weit komplexer und längerfristig war, als bisher angenommen. Disziplinierung wird dabei als Prozess sichtbar, der weder als reine ‚Übermächtigung’ funktionierte noch geradlinig verlief, sondern von den unterschiedlichen Akteure in asymmetrischen Beziehungsgeflechten gestaltet wurde. „Gefangene Gesellschaft“ bezeichnet also gerade nicht eine gesamtgesellschaftlich wirksame anonyme Disziplinierungsmacht, die in der Strafanstalt ihren sichtbaren Ausdruck fand, sondern verweist auf die Funktionsweise der Strafanstalt als eines sozialen Raums der nicht „Antipode des Sozialen“ war, sondern die umgebende Gesellschaft spiegelte.

Die Drittplatzierung des Bandes „Kinship in Europe“ dokumentiert zum einen das wieder erwachte Interesse an der europäischen Verwandtschaftsforschung, die nach einem ersten Schub durch sozialanthropologische Impulse in den 1970er-Jahren seit einiger Zeit einen neuen Aufschwung erlebt. Zum anderen wird hiermit das Verdienst der Herausgeber honoriert, nicht nur ein gutes Dutzend der auf diesem Gebiet führenden Historikerinnen und Historiker zu versammeln, sondern zugleich ein stimulierendes Interpretationskonzept zum „Long-Term Development“ zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert anzubieten. Grundlegend ist zunächst – entgegen älteren Annahmen – die Feststellung, dass es keineswegs einen stetigen Bedeutungsverlust von Verwandtschaft seit dem Mittelalter gegeben habe. Vielmehr lasse sich gerade im 19. Jahrhundert eine „‚kinship-hot‘ society“ (S. 3) studieren, und erst seit etwa 1920 seien verwandtschaftliche Bindungen dann tatsächlich in den Hintergrund getreten. Für das halbe Jahrtausend davor identifizieren David W. Sabean und Simon Teuscher in ihrer Einleitung zwei zentrale Umbrüche: im Spätmittelalter und 16. Jahrhundert eine massive Stärkung vertikaler, patrilinearer Strukturen („Lineage“), die eng mit Vorgängen der Staatsformierung verknüpft gewesen sei; und seit Mitte des 18. Jahrhunderts eine markante Verdichtung horizontaler, bilateraler Netze („Kindred“), die sich wesentlich als ein Element von Klassenbildungsprozessen erkläre. Alle empirischen Beiträge, die um die beiden postulierten Transformationen herum in zwei Blöcken gruppiert sind, setzen sich zustimmend, differenzierend oder relativierend mit Sabeans und Teuschers Modell auseinander. Als Synthese und provokanter Anstoß zieht der Band eine anregende Zwischenbilanz der jüngeren sozial- und kulturgeschichtlichen Verwandtschaftsforschung.

Mit der Studie „Die Reformation“ von Diarmaid MacCulloch findet sich ein weiteres Kernthema der Frühneuzeitforschung auf dem vierten Platz: die Reformation. Die amerikanische Originalfassung erschien schon 2004 und wurde von Helke Voß-Becher und Klaus Binder 2008 für die Deutsche Verlags-Anstalt ins Deutsche übertragen. In einzigartig umfassender Weise arbeitet der Autor die Spaltung der lateinischen Christenheit am Beginn der Neuzeit auf: Nicht etwa nur Luther, Calvin und die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts sind sein Thema, vielmehr werden hier evangelische und katholische Bewegungen, Theologien, Politiken und Erfahrungswelten aufeinander bezogen, und das von Portugal bis zum Baltikum, von England bis Siebenbürgen, schließlich sogar bis Nord- und Südamerika. Konsequent wird dieser umfassende Ansatz gerade auch bezüglich des Untersuchungszeitraums umgesetzt: Von der unmittelbaren ‚Vorgeschichte’ im ausgehenden 15. Jahrhundert verfolgt MacCulloch die Auswirkungen der Reformation bis zum Beginn der Aufklärung. Herausgekommen ist eine meisterhafte Erzählung, die die ganze Komplexität eines Ereignisses entfaltet, welches das lateinische Europa bis weit in die Moderne geprägt hat.

Auf den fünften Rang hat die Jury die Biographie des Freiherrn vom Stein von Heinz Duchhardt gewählt, der als Herausgeber und Autor in den letzten Jahren gleich mit mehreren einschlägigen Büchern hervortreten ist.1 Die Publikation erschien passend zu Steins 250. Geburtstag im Jahre 2007 und bildet die erste umfassende Würdigung seines Lebens und Wirkens seit Gerhard Ritters Studie von 1931 (bzw. 1958 in der Neuauflage). Duchhardts Darstellung zeichnet sich bei aller lesbaren Kenntnis der verzweigten neueren Forschung durch einen geradlinigen, flüssigen Stil aus. Neben der ungewöhnlichen Aufmerksamkeit für den ‚privaten‘ Stein nähert sich Duchhardt seinem Protagonisten im Ganzen als einer Brückenfigur zwischen alter Ordnung und reformerischer Moderne und fängt so dessen schillernden Charakter im Licht der Epoche ein. In dieser Spiegelfunktion erweist sich einmal mehr das analytische Potential des biographischen Genres, das sich deshalb zu Recht schon länger auch in Fachkreisen wieder großer Beliebtheit erfreut.

Anmerkung:
1 Heinz Duchhardt/Karl Teppe (Hrsg.): Karl von und zum Stein. Der Akteur, der Autor, seine Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, Mainz 2003; Heinz Duchhardt, „weil […] Stein die Sonne war, um welche all die anderen kreisten“. Das Stein-Bild im Wandel der Zeiten, Stuttgart 2004; ders. (Hrsg.), Stein. Die späten Jahre des preußischen Reformers, 1815–1831, Göttingen 2007; ders., Stein-Facetten. Studien zu Karl vom und zum Stein, Münster 2007; ders., Mythos Stein. Vom Nachleben, von der Stilisierung und von der Instrumentalisierung des preußischen Reformers, Göttingen 2008.

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2009“ wurden in der Kategorie „Geschichte der Frühen Neuzeit“ folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Stollberg-Rilinger, Barbara: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München: C.H. Beck 2008.

2. Bretschneider, Falk: Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2008. Rezension von Marcus Sonntag, in: H-Soz-u-Kult, 17.12.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-238>.

3. Sabean, David Warren; Teuscher, Simon; Mathieu, Jon: Kinship in Europe. Approaches to long-term development (1300 - 1900), New York u.a.: Berghahn Books 2007. Rezension von Andreas Litschtel, in: H-Soz-u-Kult, 12.12.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-225>.

4. MacCulloch, Diarmaid: Die Reformation. 1490-1700, München: DVA 2008.

5. Duchhardt, Heinz: Stein. Eine Biographie, Münster: Aschendorff Verlag 2007. Rezension von Hilmar Sack, in: H-Soz-u-Kult, 05.10.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-020>.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Essay Kategorie Geschichte der Frühen Neuzeit, In: H-Soz-Kult, 24.09.2009, <www.hsozkult.de/text/id/texte-1151>.
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