M. v. d. Höh: Erinnerungskultur und frühe Kommune

Cover
Titel
Erinnerungskultur und frühe Kommune. Formen und Funktionen des Umgangs mit der Vergangenheit im hochmittelalterlichen Pisa (1050-1150)


Autor(en)
Höh, Marc von der
Reihe
Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit 3
Erschienen
Berlin 2006: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
529 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Friedrich Weber, SFB 496, Universität Münster,

In seiner im Wintersemester 2003/04 an der Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommenen Arbeit sichtet Marc von der Höh die Geschichtsüberlieferung aus Pisas goldenem Jahrhundert und fragt nach der Beschaffenheit der Erinnerungskultur, die sie hervorbrachte. Dass zwischen der sich in Reichtum und Vielfalt von früheren Heiligenviten und späteren Stadtchroniken abhebenden Überlieferung und zeitgleichen Entwicklungen wie der überseeischen Expansion, der Kommunebildung und dem Lavieren zwischen Kaisertum und Reformpapsttum ein Zusammenhang besteht, scheint auf der Hand zu liegen. In einem wegweisenden Aufsatz hat Craig B. Fisher gezeigt, dass den verschiedenen Texten ein gemeinsames historisches Interesse zugrunde lag, das er vor allem durch die Erhebung der Pisaner Kirche zum Erzbistum motiviert sah. In Annalen, Inschriften und Geschichtsdichtungen lieferten die Domherren, deren Brüder und Vettern als Konsuln das Volk anführten, Belege für den selbst erworbenen Ruhm und die Ehre Pisas, die die Hochrangigkeit der Stadt und ihrer Kirche begründeten.1

An diesem Punkt setzt Marc von der Höhs Arbeit an, die nicht nur das Korpus der Zeugnisse vervollständigt, sondern auch ihren Interpretationsrahmen auf ein neues Niveau hebt. In einer methodisch durchdachten Einleitung (S. 13-39) begründet er die Wahl seines Leitbegriffes der „Erinnerungskultur“. Dieser ermögliche es, Quellen aus unterschiedlichen Gattungen und Überlieferungskontexten zu vergleichen. Im Wechselspiel zwischen der Analyse der Einzelzeugnisse und ihrer Verortung im Geschehen des Pisaner Hochmittelalters soll ein Gesamtbild gezeichnet und zugleich eine Forschungslücke geschlossen werden. Denn trotz der Fülle an Einzelstudien existiere abgesehen von Fishers Beitrag keine disziplinenübergreifende Gesamtdarstellung. Ein Vergleich mit der deutschsprachigen Forschung zu Genua lässt die Weite dieses Ansatzes erkennen. Haben die Anfänge der kommunalen Geschichtsschreibung und die monumentale Geschichtsüberlieferung dort jeweils eigene Darstellungen gefunden, so werden sie hier zusammengeführt.2 Diese frühe Pisaner Erinnerungskultur entspricht (noch) nicht dem Gattungsschema der im 12. Jahrhundert aufkommenden ‚kommunalen’ Zeitgeschichtsschreibung, thematisiert jedoch Ereignisse, die die Mitwirkung der Stadtgemeinde voraussetzten. Vor diesem Hintergrund stellt Marc von der Höh die Frage, ob sie nicht nur als städtisch geprägt, sondern auch als „frühkommunal“ (S. 20) charakterisiert werden kann.

Der erste Abschnitt (S. 41-201) der Monografie beschäftigt sich mit der „frühen kommunalen Geschichtsschreibung“. Untersucht werden hier vor allem die Pisaner Annalen und die Geschichtsdichtungen, die die siegreichen Sarazenenzüge verherrlichen. Im Fokus des zweiten Abschnittes (S. 202-426) steht „Geschichte im Stadtraum – Die Stadt als Erinnerungsraum“. Von der Höh nimmt uns hier mit auf einen Gang durch das Pisa der Zeit um 1100, von der Porta Aurea am Hafen über die Bürgerkirche San Sisto, die mit ihrem Platz den Zentralort der frühen Kommune abgab, bis hinaus auf die Piazza dei Miracoli. Deutlich wird so etwa die Funktion des mit der Beute der Flottenexpeditionen finanzierten Domes als Bedeutungsträger, dessen Wände von Inschriften und Spolien überzogen sind. Zur Anschaulichkeit der in diesem Abschnitt geleisteten Interpretationsarbeit trägt der umfangreiche Tafelteil der Arbeit bei. Marc von der Höh rekonstruiert die Entstehung der einzelnen Zeugnisse mit großer Akribie. Er erstellt Handschriften-Stemmata, diskutiert aus profunder Kenntnis der Pisaner Lokalforschung heraus Datierungsfragen und kommt zu sorgfältig abgewogenen Schlussfolgerungen.

Das zentrale Thema der hochmittelalterlichen Erinnerungskultur der Arnostadt, so das Ergebnis der Arbeit, ist die 1006 einsetzende Kette von Triumphen über die Sarazenen. Insbesondere die Geschichtsdichtungen lassen erkennen, dass sie Konflikte ausblenden, die in Zusammenhang mit der aufkommenden Kommune stehen, und stattdessen die Vergangenheit als monolithischen Block präsentieren: Untereinander geeint handeln die Pisaner gemäß des göttlichen Willens und erstreiten sich in ihren Siegen über die Heiden beziehungsweise „Punier“ (S. 83) die Nachfolge Israels und Roms. In den Inschriften begegnen dagegen weniger diese Typologien als vielmehr das ausschließliche Lob der militärischen Leistung. Die Gestaltung des öffentlichen Stadtraumes im Sinne dieses Identifikationsbildes spricht für seine verbreitete Akzeptanz in der städtischen Führungsschicht. Möglich wurde seine Propagierung durch das Zusammenwirken der auch auf den Kriegszügen anwesenden „klerikalen Bildungselite“ (S. 431) mit den übrigen Herrschaftsträgern.

Dass der Verfasser des ‚Liber Maiorichinus’ im Rückblick auf den ein Jahrzehnt zurückliegenden Balearenzug andeutet, dass sich damals in der guten alten Zeit der Adel noch nicht zu schade war, gemeinsam mit dem Volk die Ruderbänke zu bemannen (S. 113), weist allerdings auf die sich aus der ständischen Schichtung der kommunalen Gesellschaft ergebenden Konflikte hin, die hinter der Konsensfassade sichtbar werden. Zusammen mit der inschriftlichen Erwähnung von Konsulat und Bürgerschaft oder der nicht nur im Falle Pisas bezeugten Nutzung der Sakraltopografie für Belange der Stadtgemeinde handelt es sich hiermit auch schon um die expliziten Verweise auf die Kommune. Daher kann Marc von der Höh zwar den Bezug der Erinnerungskultur zur Kommune nachweisen, doch ob dieser so „eng“ war oder gar in ein „frühkommunales Geschichtsbild“ mündete, wie er resümiert (S. 427), bleibt fraglich. Dieses müsste doch, wie es in den Genueser Annalen geschieht, auch das politische System der Kommune und deren ständige Krisenbewältigung zur Sprache bringen, was jedoch kaum mit den durch Marc von der Höh herausgearbeiteten Strategien der Pisaner Erinnerungskultur vereinbar war. Von einer frühkommunalen Präsenz neben und zum Teil in der städtischen Erinnerungskultur zu sprechen, scheint dem Befund eher gerecht zu werden.

Wie sehr sich Marc von der Höh in der Einordnung seiner Befunde an zur Diskussion stehenden Deutungskategorien abarbeitet, wird auch am Gegensatzpaar der Kleriker- und Laiengeschichtsschreibung deutlich. So hat die ältere Forschung aus einer gesamtabendländischen Perspektive heraus auf das gehäufte Auftreten von Laien als Geschichtsschreibern in den italienischen Kommunen seit dem 12. Jahrhundert hingewiesen und diesen zeitbedingt einen in die Moderne weisenden Bürgersinn zugeschrieben.3 Von der Höh hinterfragt dies zu Recht und führt dagegen an seinem Beispiel vor, wie geistliche Autoren die Konstruktion eines städtischen Geschichtsbildes mitbestimmten. Gegen den Zirkelschluss einer von Laien getragenen „kommunalen Identität“ als Voraussetzung „kommunaler Geschichtsschreibung“ (S. 21-26) braucht er streng genommen also gar nicht zu argumentieren. Seine Untersuchungsergebnisse geben vielmehr einen Anstoß dazu, solche Kategorien auch anhand anderer Erinnerungskulturen zu überprüfen.4

Marc von der Höh gelingt es, mit dem Konzept der Erinnerungskultur die Eigenart wie auch das Exemplarische des Sonderfalles Pisa herauszuarbeiten. Sein Buch zeigt die Möglichkeiten auf, die sich aus der Verbindung eines interdisziplinär beherrschten hilfswissenschaftlichen Instrumentariums mit einer breiten Literaturkenntnis und überlegten Interpretationsmodellen ergeben. Die so sichtbar gemachten Zusammenhänge und Spannungen zwischen einer Vielzahl an Vergangenheitsspuren machen die Monografie zu einem unverzichtbaren Zugang zum Pisaner Hochmittelalter und geben neue Impulse zur Erforschung der Stadtkultur Italiens. Und dass der Pisaner Dom in vielem ein Rätsel bleibt, ist vielleicht auch ganz gut so.

Anmerkungen:
1 Fisher, Craig B., The Pisan Clergy and an Awakening of Historical Interest in a Medieval Commune, in: Studies in Medieval and Renaissance History 3 (1966), S. 143-219.
2 Müller, Rebecca, Sic hostes Ianua frangit. Spolien und Trophäen im mittelalterlichen Genua, Weimar 2002; Schweppenstette, Frank, Die Politik der Erinnerung. Studien zur Stadtgeschichtsschreibung Genuas im 12. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003.
3 Vgl. Hofmann, Heinz, Artikulationsformen historischen Wissens in der lateinischen Historiographie des hohen und späten Mittelalters, in: Gumbrecht, Hans Ulrich u.a. (Hrsg.), La litterature historiographique des origines à 1500, Bd. 1/2, Heidelberg 1987, S. 367-687, hier S. 469-475.
4 Dass die Existenz einer Kommune nicht automatisch eine ‚kommunale’ Geschichtsschreibung hervorbrachte, zeigt das Beispiel Ravennas, dessen Chronistik dem im ‚Liber pontificalis ecclesiae Ravennatis’ gefundenen Modell verhaftet blieb. Und dass ‚kommunale’ Geschichtsschreibung nicht ausschließlich eine Angelegenheit von Laien war, bezeugt neben späteren Chronisten wie Salimbene der Verfasser von ‚De ruina civitatis Terdonae’. Höchstwahrscheinlich ein Mitglied des Tortoneser Domkapitels, schildert er kurz nach 1155 die Belagerung seiner Stadt durch Barbarossa in einer Art und Weise, die sich in die zeitgleiche Geschichtsschreibung in anderen lombardischen Städten einfügt, aber gerade auch Akzente auf die Beteiligung der Geistlichkeit am politischen Geschehen setzt. Vgl. Cochrane, Eric, Historians and Historiography in the Italian Renaissance, Chicago 1981, S. 90; Hofmeister, Adolf (Hrsg.), Eine neue Quelle zur Geschichte Friedrich Barbarossas. De Ruina civitatis Terdonae. Untersuchungen zum 1. Römerzug Friedrichs I., in: Neues Archiv 43 (1922), S. 87-157. Dass Cochranes Monografie neben ihrem eigentlichen Gegenstand eine pointierte Gesamtdarstellung der mittelalterlichen Geschichtsschreibung in Italien bietet, ist Marc von der Höh, der dies als Desiderat benennt (S. 22), ebenso entgangen wie Hofmanns Überblick.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension