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Titel
Religion und Disziplin. Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum


Autor(en)
Ertl, Thomas
Reihe
Arbeiten zur Kirchengeschichte 96
Erschienen
Berlin 2006: de Gruyter
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 118,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jana Bretschneider, Geschichte des Mittelalters, Universität Göttingen

Wer heute an Franziskus von Assisi denkt, dem tritt das Bild eines sanftmütigen, asketischen Heiligen vor Augen, der zu den Tieren spricht und den Menschen predigt. Geprägt und zum heilsgeschichtlichen Ideal stilisiert haben dieses Bild die Ordensbrüder des Franziskus bereits zu Lebzeiten des Ordensgründers. Systematisch aber wurde es erst in den folgenden Brüdergenerationen um 1260 von den Ordengeneralen Humbert von Romans und Bonaventura ausgebaut. In Form neuer Franziskusviten entstand zu dieser Zeit der Gründungsmythos des Ordens, dessen exklusiver Geltungsanspruch 1266 durch die Bestimmung, alle früheren Lebensbeschreibungen des Ordensgründers zu vernichten, unterstrichen wurde. Dieser Mythos um Franziskus prägte das Selbstverständnis der Barfüßer und ihr Wirken in der mittelalterlichen Gesellschaft.

Unter anderem um die Idealisierung des Gründers als ein das Selbstbild der Ordensgemeinschaft bestimmendes Element geht es Thomas Ertl in seinem Buch. Er untersucht anhand von Dokumenten der Selbst- und Fremdwahrnehmung „den überindividuellen Beitrag einer spätmittelalterlichen religiösen Erneuerungsbewegung zu einem epochenübergreifenden Prozess der Zivilisation, angestoßen durch die transzendentale Selbstdeutung dieser Gemeinschaft“ (S. 15). Dem Beitrag der Bettelorden zu den Prozessen sozialer und religiöser Disziplinierung und Differenzierung der spätmittelalterlichen Gesellschaft will Ertl am Beispiel deutscher Franziskaner nachgehen. Ergebnis der Untersuchung ist, dass das Wirken der Minderbrüder in der städtischen Gesellschaft des späten Mittelalters „als zweite Stufe eines längeren kirchlichen Erziehungs- und Zivilisierungsprozesses betrachtet“ (S. 374) werden muss. Als dessen erste Stufe hatte C. Stephen Jaeger 1991 die auf Erziehung und Zivilisierung des kriegerischen Adels zielenden Maßnahmen der Kleriker der kaiserlichen Hofkapelle seit Otto I. identifiziert.1 Wie der Hofklerus seit dem 10. Jahrhundert sein Wertesystem auf Hof und Adel zu übertragen vermochte, prägte seit dem 13. Jahrhundert der mendikantische Wertekanon die Normierung der neuen städtischen Lebensform. Getragen wurde dieser Zivilisationsprozess, so kann Ertl zeigen, nicht zuletzt von den Franziskanern. Damit steht Ertl in der Tradition derjenigen Historiker, die die Großthese Norbert Elias’ vom „Prozess der Zivilisation“ dahingehend modifizieren, dass nicht die höfische Kultur die Basis psychogenetischer Zivilisationsprozesse bildet, sondern die monastische bzw. klerikale (S. 374-378).

Die Quellenbasis der Untersuchung bilden theologische Traktate, historiografische und hagiografische Schriften, Rechts- und Beichtsummen sowie Predigten: zum einen prominente Texte bedeutender Dominikaner wie Albertus Magnus und Vinzenz von Beauvais sowie bedeutender Franziskaner wie Roger Bacon, Bonaventura und Humbert von Romans, zum anderen Schriften von Minderbrüdern, deren Wirkungsschwerpunkt im deutschen Raum lag, wie Bartholomäus Anglicus, Berthold von Regensburg oder David von Augsburg, aber auch Heinrich von Merseburg sowie Balduin von Brandenburg, Johannes von Erfurt und anderen mehr. Hinzu kommen anonym überlieferte Texte aus franziskanischer Feder wie die Sächsische Weltchronik, ein Glossenapparat zur Summe Heinrichs von Merseburg sowie der Deutschen- und der Schwabenspiegel.

Ertl gliedert seine Arbeit in zwei Teile. Im ersten Hauptteil – „Selbstdeutung“ überschrieben – erläutert er die stilisierte Wahrnehmung und heilsgeschichtliche Deutung der eigenen Ursprünge durch den Orden. Hierbei wird zunächst die idealtypische Selbstverherrlichung des Mendikantentums als Erneuerungsbewegung betrachtet (Kapitel I): Während Franziskus und seine frühen Gefährten noch in großer Bedürfnislosigkeit durch die Städte zogen und predigten, fand sich die zweite Generation der Ordensbrüder bereits auf den theologischen Lehrstühlen der Universitäten und als pastorale Betreuer und politische Ratgeber der weltlichen und geistlichen Fürsten wieder. Aber die Predigt blieb. Eine profunde theologische Ausbildung galt den Minderbrüdern noch immer als Basis ihrer als göttlichen Auftrag begriffenen pastoralen Aufgabe (Kapitel II). War die gesellschaftliche Funktion erst einmal theoretisch hergeleitet und das apostolische Wirken der Ordensbrüder auch heilsgeschichtlich legitimiert, galt es, die gesellschaftliche Position dauerhaft zu sichern. Hierzu dienten den Franziskanern ekklesiologische Schriften, in denen sie den päpstlichen Führungsanspruch in Kirche und Welt unterstützten und damit die eigene Position in der kirchlichen Hierarchie zu festigen suchten (Kapitel III).

Und die Bettelorden fanden – so Ertl, den zweiten Hauptabschnitt „Weltordnung“ einleitend – Gehör in den Städten, erkannten sie doch die urbanen Zentren als christliche Orte an und trugen mit einer neuartigen positiven Bewertung körperlicher Arbeit den sozioökonomischen Veränderungen Rechnung (Kapitel IV). Doch nicht nur auf die gesellschaftliche Differenzierung in den Städten reagierten die Mendikanten, sondern sie erkannten und förderten auch Individualisierungsprozesse (Kapitel V). Die Fratres müssen dabei als Hauptakteure der Psychogenese des mittelalterlichen Stadtbewohners gelten! Durch volkssprachliche Predigten und die Aufforderung zur regelmäßigen Beichte trugen sie maßgeblich zur Internalisierung von Normen bei, indem sie den Einzelnen zur Gewissensforschung drängten. Die Franziskaner schlossen damit an die disziplinierende Tradition der kaiserlichen Hofkleriker des 10. Jahrhunderts an und „konstruierten in ihren Erziehungsschriften zudem ein umfassendes Regelwerk monastischer, aber auch laikaler Existenz, die über Erasmus von Rotterdam und andere zu einem Fundament europäischer Zivilisiertheit werden sollte.“ (S. 19) Sowohl als Vorbild als auch als ordnende Instanz von Differenzierungs- und Internalisierungsprozessen gelang es dem Orden, seine Maximen in der städtischen Gesellschaft zu verankern: Die Aufnahme mendikantischen Denkens in bürgerliches Bewusstsein kann Ertl an den Dichtungen der Handwerker Hans Rosenplüt und Hans Folz zeigen (S. 249-252, 285-288). Entscheidend trugen die Franziskaner im Verlauf des späten Mittelalters auch zur Herausbildung des Schamgefühls der Beichtenden bei (S. 271-288). Und die Schrift ‚De Compositione’ des David von Augsburg, die sich mit ihren Ermahnungen zu Selbstkontrolle an die Novizen des Ordens wandte und die auch in der Laienwelt breit rezipiert wurde, bereitete dem erzieherischen Denken des Erasmus von Rotterdam den Weg (S. 292-305).

„Religion und Disziplin“ ist ein kenntnis- und detailreiches Buch über das religiöse und politische Denken wie auch das gesellschaftliche Wirken der Franziskaner von der Mitte des 13. bis hinein ins 14. Jahrhundert. Es ist zweifelsohne mit Gewinn zu lesen: Die Untersuchung spannt nicht nur den Bogen vom späten Mittelalter zu frühneuzeitlichen Entwicklungen. Sie bezieht auch treffend die Wurzeln der Normierungsprozesse in der Geistes- und Sozialgeschichte des frühen und hohen Mittelalters ein. Unscharf bleibt jedoch die Bedeutung des „frühen deutschen Franziskanertum[s]“ für ordensweit stattfindende Prozesse der „Selbstdeutung und Weltordnung“ – der Untertitel der Arbeit lässt eine solche Abgrenzung erwarten. Ertl ist zwar zu Gute zu halten, dass er sich nicht zu einer isolierten Untersuchung der deutschen Franziskaner versteigt. Er behält sorgfältig das Denken der meinungsprägenden, in Paris und Oxford ausgebildeten Leitungsebene des Ordens ebenso im Blick wie erzieherische und Normen setzende Texte anderer regionaler Provenienz. Wenn Ertl den deutschen Franziskanern jedoch „ausgesprochenes Interesse“ an der „Fixierung moralisch-sozialer Normen“ bescheinigt (S. 376), beruht dieses Urteil nicht auf einem systematisch komparatistischen Ansatz, dessen ausschärfende Möglichkeiten nicht genutzt werden. Somit bleibt offen, inwieweit das Wirken der deutschen Franziskaner paradigmatisch für die europaweiten Entwicklungen gesellschaftlicher Differenzierung und religiöser Individualisierung ist oder ob die Ordensgemeinschaft im deutschen Raum Sonderwege beschreitet.

Anmerkung:
1 Jaeger, C. Stephen, The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of the Courtly Ideals, 939-1210, Philadelphia 1991; deutsch: Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter, Berlin 2001.

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