L. Kéry: Gottesfurcht und irdische Strafe

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Titel
Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts


Autor(en)
Kéry, Lotte
Reihe
Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 10
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
IX, 754 S.
Preis
€ 84,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Deutsch, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Das öffentliche Strafrecht bildet, aus verfassungsrechtlicher Perspektive betrachtet, einen integralen Bestandteil staatlicher Souveränität. Der Grad der Handhabung, Ausübung und Durchsetzung einer öffentlichen Strafgewalt dokumentiert nicht nur das Regierungs- und Herrschaftsverständnis einer historischen Gesellschaft, sondern dient darüber hinaus als Indikator für die Ausbildung staatlicher Institutionen, mithin als Merkmal der „modernen“ Staatswerdung. Diese teleologische Ausrichtung der Strafrechtsforschung zeitigte in der früheren rechtsgeschichtlichen Forschung deutliche Konsequenzen; erstens wurde eine lineare Entwicklung postuliert, nach der sich exklusive Träger der öffentlichen Strafgewalt ablösen, ohne dass der institutionelle Transfer sowie die Gleichzeitigkeit strafrechtlicher Jurisdiktionsmaßnahmen hinreichend erklärt werden konnte. Zweitens wurden die wichtigsten Ziele des öffentlichen Strafrechts – die Durchsetzung des staatlichen Strafmonopols und das Legalitätsprinzip, nach dem die Strafverfolgungsbehörden gesetzlich verpflichtet sind, jedem begründeten Verdacht einer Straftat ex officio nachzugehen – in einer Weise als grundlegende Kriterien betrachtet, die Strafrechtsformen, welche diese Merkmale nicht aufwiesen, als defizitär kennzeichneten; und drittens wurde die Ausübung des öffentlichen Strafrechts primär einem staatlich-weltlichen Gewaltmonopol zugeordnet, ohne konkurrierende Rechtssysteme wie etwa das kanonische Recht ausreichend zu berücksichtigen.

Aus dieser Perspektive erscheint das durch partikularrechtliche Ordnungen geprägte öffentliche Strafrecht des Mittelalters im günstigsten Falle als Vorstufe eines noch nicht umfassend realisierten Monopols staatlicher Gewalt, mithin als im Grunde defizitäres Rechtssystem, das zudem durch konkurrierende Institutionen des weltlichen und kirchlichen Rechts geprägt wurde. Der Dynamik der Rechtsentwicklung dieser Epoche1 wurde damit jedoch ebenso wenig Rechung getragen wie der Interdependenz des ‚weltlichen’ und kirchlichen Rechts. Zwar wurde der Beitrag des kanonischen Rechts zur Entwicklung des öffentlichen Strafrechts bereits an prominenter Stelle dargestellt2, doch fehlte bislang eine grundlegende Untersuchung, die zum einen den Einfluss des gelehrten Rechtsdenkens auf die Entwicklung des öffentlichen Strafrechts beleuchtet und dabei zum zweiten die für die mittelalterliche Rechtsauffassung charakteristische religiöse Komponente eines im weitesten Sinne ‚staatlichen’ Strafrechts berücksichtigt.

Ein wesentlicher Grund für die Existenz dieses Forschungsdesiderates ist die bereits erwähnte teleologische Definition des öffentlichen Strafrechts, die den Endpunkt einer Entwicklung kennzeichnet und diesen zugleich mit Begriffen versieht, die vorher weder in Terminologie noch Inhalt eine Entsprechung hatten; Begriffe wie „Strafmonopol“ oder „Legalitätsprinzip“ lassen sich im mittelalterlichen Recht nicht nachweisen. Eine sachthematische Ordnung der mittelalterlichen Rechtsmaterien lässt sich mithin kaum verfolgen. Zudem verfügte die klassische Kanonistik zwischen dem späten 12. und der Mitte des 14. Jahrhunderts über keine geschlossene Systematik. Vielmehr entwickelten sich spezifische Kategorien durch diskursive Argumentationsformen, die differenzierte Akzentuierungen einzelner Sachverhalte zuließen. So bieten etwa die Rubriken de poena in den promulgierten Dekretalensammlungen, den Kommentaren, Glossen und Traktaten argumentative Darlegungen, die sich mit dem Begriff der Strafe befassen, allerdings wird dieser in einer Synthese aus autoritativen Zitaten und ergänzender Deutung regelmäßig neu akzentuiert. Methodisch ergeben sich aus diesen Voraussetzungen zwei Probleme, erstens verbieten sich systematische Vergleiche, die auf eine klar definierte Terminologie und eine kongruente Systematik angewiesen sind. Zweitens müssen, gerade um die verschiedenen Einflüsse des gelehrten Rechts belegen zu können, die Nuancen der zeitgenössischen Argumentation erfasst werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass kirchenrechtliche Traktate Ausführungen über gerichtliche Institutionen (Gewaltmonopol, Legalitätsprinzip) sowie Verbrechens- und Strafkategorien (Definition von Verbrechen, Buße und Strafe) mit unterschiedlicher Intensität in ihre Darstellungen einbinden. Diese methodisch-inhaltliche Grundkonstellation determiniert die Quellenbasis, da sich die Untersuchung im Wesentlichen auf die Rechtstexte stützen muss, deren Rezeption die Argumentation der nachfolgenden Generation von Rechtsgelehrten deutlich prägte.

Die vorliegende Untersuchung von Lotte Kéry, die 2003 als Habilitationsschrift angenommen wurde, trägt sowohl der Komplexität des Themas als auch den umrissenen methodischen Problemen in hohem Maße Rechnung. Kéry wählt einen historisch-generischen Ansatz, der es – unter Rückgriff auch auf vorgratianische Quellen (S. 16-233) – erlaubt, das breite Spektrum strafrechtlicher Argumentationen auf der Grundlage klassischer kanonistischer Texte (Drecretum Gratiani, S. 234-360; Collectiones, Breviarium und Summa Bernhards von Pavia, S. 361-521; Liber Extra, S. 522-664) exemplarisch zu analysieren. Fast gleichberechtigt werden die maßgeblichen zeitgenössischen Glossen und Traktate zu diesen Hauptwerken berücksichtigt. Kéry geht den Argumentationen der Rechtsgelehrten mit intimer Quellenkenntnis und faszinierender Intensität nach und präsentiert dem Leser in präzise gesetzten und verständlichen Worten eine Vielzahl von differenzierten Einzelergebnissen, die hier nicht rekapituliert werden können. Die detaillierte Darstellung fordert vom Leser etwas Geduld, für die er am Ende, was die Einzelergebnisse angeht, jedoch belohnt wird. Gleichwohl stehen die Einzelergebnisse zum Gesamtertrag der Untersuchung in einem durchaus ambivalenten Verhältnis. So grundlegend die Einzelergebnisse sind, so schwer lassen sie sich offenbar in der Gesamtbewertung synthetisieren. Dass das klassische kanonische Recht keine „geschlossene Sanktionsordnung“ entwickelte (S. 685), sondern eine durch die Kasuistik geprägte und an konkreten Problemen und Fragen orientierte „Gelegenheitsgesetzgebung“ war, die gerade deshalb über eine spezifische „Strafrechtsordnung … mit eigener Architektur“ (S. 685) verfügte, relativiert die Erkenntnisse hinsichtlich des Beitrages des kirchlichen zum öffentlichen Strafrecht doch erheblich. Die Verbindung respektive Interdependenz zwischen dem sich ausbildenden kirchlichen und einem wie auch immer gearteten öffentlichen Strafrecht wird in letzter Konsequenz nicht recht deutlich.

Dennoch gebührt der verdienstvollen und überaus sorgfältigen Arbeit nicht nur höchster Respekt für grundlegende Einsichten in spezifische strafrechtliche Strukturen des kirchlichen Rechts, sondern auch dafür, dass sie in einmaliger Weise die komplexen Verknüpfungen jener Rechtskomponenten erfasst und darstellt, die als Teile eines nichtstaatlichen, gleichwohl öffentlichen Rechts die historische Entwicklung des öffentlichen Strafrechts maßgeblich beeinflusst haben.

Anmerkungen:
1 Zwischen 1993 und 1999 befasste sich ein interdisziplinäres, von der DFG gefördertes Forschungsprojekt mit dem Thema; vgl. hierzu Willoweit, Dietmar (Hrsg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Bestandsaufnahme eines europäischen Forschungsproblems, Köln 1999.
2 Kuttner, Stephan, Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX. Systematisch auf Grund der handschriftlichen Quellen dargestellt, Città del Vaticano 1935.

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