J. Baberowski u.a.: Ordnung durch Terror

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Titel
Ordnung durch Terror. Gewaltexzess und Vernichtung im nationalsozialistischen und stalinistischen Imperium


Autor(en)
Baberowski, Jörg; Doering-Manteuffel, Anselm
Erschienen
Anzahl Seiten
116 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Zarusky, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

„Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg und die stalinistischen ethnischen Säuberungen feierten dort ihre größten Triumphe, wo eindeutige Ordnungsvorstellungen mit uneindeutigen Verhältnissen in einen Konflikt gerieten. Nur in den staatsfernen Räumen des Imperiums konnten Bolschewiki wie Nationalsozialisten unablässig an der Vermehrung und Vernichtung ihrer kollektiven Feinde arbeiten.“ So lautet die zentrale These von Jörg Baberowskis und Anselm Doering-Manteuffels essayistischem Buch „Ordnung durch Terror“ (S. 90). Unter den Bedingungen des Vernichtungskrieges in den besetzten Gebieten Osteuropas seien „Wahnvorstellungen von der Existenz kollektiver Todfeinde zu einer Wirklichkeit [geworden], die nicht mehr nur auf Einbildung beruhte“ (S. 17).

Die Biologisierung und Ethnisierung der bolschewistischen Feindrhetorik könne als Antwort auf die nationalsozialistische Vernichtungspraxis im Osten verstanden werden. In diesem Sinne hätten beide Regime voneinander gelernt (S. 17f.). „[...] weil die Opfer sich in der Rassenordnung der Nationalsozialisten bewegen mußten, nahmen auch die bolschewistischen Führer ihre Umgebung als eine Arena des interethnischen Konflikts wahr. Als die Rote Armee im Dezember 1941 die Stadt Rostov am Don für kurze Zeit für sich zurück eroberte, ließ das NKVD alle ‚Volksdeutschen’ und Armenier verhaften. Als die deutsche Wehrmacht die Stadt Anfang 1942 wieder in ihren Besitz brachte, ermordete die Einsatzgruppe D alle in Rostov noch verbliebenenen Juden“, lautet ein Beispiel für die Logik der wechselseitigen Beeinflussung ethnisierter Feindbilder, wie Baberowski und Doering-Manteuffel sie darstellen und analysieren (S. 79).

Die These wird in einer historischen Parallelerzählung entfaltet, die mit den Gewalterfahrungen und ideologischen Prägungen der Ära von Erstem Weltkrieg und Russischer Revolution beginnt, dann die Weiterentwicklung und Verfestigung ideologischer Feindbildproduktionen sowie „Instrumente und Techniken der Radikalisierung“ in den Blick nimmt, um schließlich das Thema in drei Kapiteln zu konkretisieren, die die Zeit des Zweiten Weltkriegs und der spätstalinistischen Ära behandeln.

Diese Parallelerzählung geht allerdings einher mit einer allzu schematischen Parallelisierung von Handlungen und Motiven der beiden Regime. „Begradigungen“ werden besonders bei der Darstellung des Stalinismus vorgenommen, indem einerseits die Massenverfolgungen in der Sowjetunion der 1930er-Jahre stark in den Hintergrund rücken und andererseits ethnische Kategorien als wichtigste Komponente stalinistischer Feindbilder betrachtet werden. Die größten stalinistischen Massenverbrechen hatten aber schon stattgefunden, bevor Stalinismus und Nationalsozialismus in direkte Interaktion traten – sei es als Partner bei der vierten Teilung Polens, sei es als Todfeinde nach dem 22. Juni 1941. Im Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wurden Anfang der 1930er-Jahre über zwei Millionen Bauern deportiert, was für Hunderttausende den Tod bedeutete; die durch die Kollektivierung bedingte Hungersnot forderte rund sechs Millionen Menschenleben. Zehntausende Verhaftungen bewirkten den „Take-off“ des GULag zu einem riesigen Lagersystem. Der gewaltsamen Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft im Zuge des Großen Terrors 1937/38 fielen fast anderthalb Millionen Menschen zum Opfer, von denen über 680.000 erschossen wurden, während die anderen für acht bis zehn Jahre in die Lager geschickt wurden.

Der Große Terror richtete sich in einem erheblichen Maße gegen Angehörige nationaler Minderheiten und Emigranten. Von den 1,34 Millionen Menschen, die 1937/38 wegen „konterrevolutionärer Verbrechen“ verurteilt worden waren, waren 335.000 Opfer der nationalen Operationen des NKVD, also rund ein Viertel. Der Terror traf sie mit besonderer Brutalität: Während bei den Opfern der „Antikulakenaktion“ (die nicht nur Bauern, sondern auch frühere politische Gegner des kommunistischen Regimes aller Richtungen, Priester, sozial Ausgegrenzte und andere erfasste) das Verhältnis von Todesurteilen zu Lagerstrafen 1:1 betrug, war es bei den „nationalen Kontingenten“ 4:1. „Daran allein wird erkennbar, daß die ethnische Säuberung im Zentrum des stalinistischen Terrors stand“, meinen die Autoren. Bei ihrer Interpretation der von Barry McLoughlin ermittelten Zahlen1 lassen sie allerdings die Zahl der Gesamtopfer des Großen Terrors unberücksichtigt (S. 58). Wenn man diese einbezieht, erscheint die Behauptung von der Zentralität „ethnischer Säuberungen“ im stalinistischen Terror fragwürdig, denn drei Viertel der Terroropfer wurden eben nicht aufgrund ethnischer Zugehörigkeiten verfolgt. Dabei ist überdies zu berücksichtigen, dass ethnische Zuschreibungen im Stalinismus nicht für sich standen, sondern stets mit dem Vorwurf politischer Diversion verbunden waren. Auch die Tatsache, dass Russen vor und während des deutsch-sowjetischen Krieges entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil stets die weit überwiegende Mehrheit der GULag-Häftlinge stellten – zwischen 62,8 Prozent (1939) und 57,5 Prozent (1945)2 –, ist mit der These von der ethnischen Säuberung als Hauptcharakterzug des stalinistischen Terrors nicht vereinbar.

Aber auch beim NS-Regime greift eine Analyse zu kurz, die sich ausschließlich auf ethnische Feindbildkategorien beschränkt. Der nationalsozialistische Rassismus hatte eine starke nach innen gewandte Komponente, die sich seit Kriegsbeginn in den „Euthanasie“-Morden manifestierte, denen Zehntausende zum Opfer fielen. Dieses Massenverbrechen wird im vorliegenden Buch nicht berücksichtigt. Ebenso wird der gegen die politische Opposition und Wehrmachtsdeserteure gerichtete Terror ignoriert (S. 83). Die Ausblendung all dessen, was nicht ins Schema der ethnischen Säuberung bzw. der wechselseitig induzierten ethnischen Feindbilder passt, setzt sich in der Behandlung des deutsch-sowjetischen Krieges fort, wo der millionenfache Hungertod von Rotarmisten in den Kriegsgefangenenlagern und die Hungerblockade Leningrads, der ca. eine Million Menschen zum Opfer fielen, nicht in die Analyse einbezogen werden.

Bei den stalinistischen Verfolgungen während des Kriegs und auch danach spielte die Kombination aus Ethnisierung und Kollaborationsverdacht zweifellos eine bedeutende Rolle; sie traf vor allem die mit Massendeportation „bestraften Völker“, die Wolgadeutschen zu Kriegsbeginn und am Ende die Tschetschenen und andere Kaukasusvölker. Die Xenophobie des Spätstalinismus mit seiner im Kern antisemitischen Kampagne gegen den „wurzellosen Kosmopolitismus“ schloss daran unmittelbar an. Das alte Gerücht, nur Stalins Tod habe den Juden der Sowjetunion ein Verbannungsschicksal gleich dem der Russlanddeutschen und Tschetschenen erspart, das hier als Tatsache präsentiert wird (S. 88), ist indes durch nichts belegt, worauf insbesondere Gennadyj Kostyrčenko, einer der besten Kenner von Stalins „Judenpolitik“, seit langem hinweist. Dass eines seiner Werke in der Fußnote erscheint, die die von ihm als „Mythos“ eingestuften Deportationspläne belegen soll, befremdet.

Davon abgesehen entspricht gerade der spätstalinistische Antisemitismus nicht der von den Autoren postulierten Logik der wechselseitigen Bestätigung der ideologischen Feindbilder. Die Pogrome beim deutschen Einmarsch hätten den Besatzern ihr ideologisches Bild der „Symbiose von Judentum und Bolschewismus“ bestätigt; die durch die rassistische Hierarchisierung der Einwohner des besetzten Gebiets erzeugte Kollaborationsbereitschaft unter den Privilegierteren habe andererseits die Bolschewiki in ihrem Glauben bestätigt, „daß Nationen Verrat übten“ (S. 77). Die Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft hatten dazu aber bekanntlich weder Anlass noch Gelegenheit.

Die Schwäche des von Baberowski und Doering-Manteuffel entwickelten Konzepts zeigt sich darin, dass sie die Verfolgungslogik des jeweiligen totalitären Systems aus ihren Kategorien nicht ableiten können. Auf die Frage, wie es kam, „daß die stalinistische Gewaltspirale nicht in den industriell organisierten Massenmord führte“, gebe es „keine eindeutige Antwort“, weil die Täter sich über die Gründe ihrer Vertreibungs- und Vernichtungstechniken nicht geäußert hätten. Wahrscheinlich, so die Vermutung, habe das Stalin-Regime „Möglichkeiten des Ausweichens“ gehabt. Es habe stigmatisierte Kollektive nach Mittelasien deportieren und so „aus der Gefahrenzone“ bringen können (S. 89). Gegen diese Annahme sprechen die Massenerschießungen des Großen Terrors, die zeigen, welchen Vernichtungswillen Stalin und sein Regime aufbringen konnten. Zugleich verliert die Hypothese den gezielten Vernichtungswillen aus dem Blick, den das NS-Regime gegenüber Juden sowie Sinti und Roma an den Tag legte.

Denn zwischen der Deportation in entlegene Gegenden Sibiriens oder Kasachstans und der Deportation zu den Gaskammern von Auschwitz oder Treblinka besteht ein kategorialer Unterschied. Der biologistisch grundierte nationalsozialistische „Erlösungsantisemitismus“ (Saul Friedländer) ließ es – auch wenn auf mittleren Radikalisierungsstufen entsprechende Überlegungen angestellt worden waren – letztlich nicht zu, Juden lediglich „aus der Gefahrenzone“ zu entfernen, weil für den Nationalsozialismus jeder Jude selbst eine Gefahrenzone war. Das und die daraus folgende Vernichtungspraxis machen die Singularität des Holocaust aus. Die Intensität dieses Vernichtungswillens ist mit einem Vergleichsansatz, der als tertium comparationis eine so globale Metakategorie wie „Ordnung ohne Ambivalenz“ wählt (S. 89), allerdings nicht zu erfassen.

Anmerkungen:
1 McLoughlin, Barry, Die Massenoperationen des NKWD. Dynamik des Terrors 1937/38, in: Hedeler, Władysław (Hrsg.), Stalinscher Terror 1934-1941, Berlin 2002, S. 33-50.
2 1939: Eigene Berechnung nach der Statistik in: I.V. Bezborodova (otv. sostavitel’), Naselenie Gulaga: čislennost’i uslovija soderžanii, Moskau 2004, S. 75f. Die Zahlen für die Kriegsjahre 1941-1945 finden sich bei: Bacon, Edwin, The Gulag at War. Stalin’s Forced Labour System in the Light of the Archives, Houndsmill 1994, S. 153.