Cover
Titel
Abschied vom Provisorium. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982-1989/90


Autor(en)
Wirsching, Andreas
Reihe
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 6
Erschienen
Anzahl Seiten
847 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reiner Marcowitz, U.F.R. Lettres & Langues, Université de Lorraine

Dieses Buch mutet auf den ersten Blick unzeitgemäß an: Kann man heute noch eine Fortsetzung jener „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ schreiben, die vor rund 25 Jahren in mehreren Bänden die „alte“ Bundesrepublik der Jahre 1945/49 bis 1982 darstellte und damit auch ein historiografisches Bekenntnis zur damals unübersehbaren Selbstanerkennung Westdeutschlands ablegte? Verlangt eine deutsche Geschichte nach 1945 nicht spätestens seit der Vereinigung 1990 geradezu gebieterisch nach einer weiteren Perspektive, die die Vergangenheit von Bundesrepublik und DDR nicht jeweils isoliert, sondern in ihrer gegenseitigen Verflochtenheit darstellt? Es spricht für Wirsching, dass er diese Frage in seiner „Einführung“ durchaus reflektiert: Tatsächlich hat die „alte“ Bundesrepublik Deutschland ja „ihre“ Geschichte, die durch die grundstürzenden Ereignisse der Jahre 1989/90 zwar teilweise abgeschlossen ist, teilweise aber auch bis heute in die „neue“ Bundesrepublik hineinragt. Zudem kommt das neue Buch schon optisch sehr viel nüchterner daher als die vorangegangenen Bände: keine „Prachtausgabe“ mit Adler-Prägung auf dem Einband, keine Fotos im Text, keine Farbbilder im Anhang. Die fehlende Bebilderung kann man dabei durchaus bedauern: Etwas mehr „Visualisierung“ hätte der Seriosität sicher keinen Abbruch getan und gleichzeitig die Lektüre des sehr umfangreichen, zudem äußerst faktenreich und nüchtern geschriebenen Buches abwechslungsreicher und angenehmer gestaltet, gerade auch für ein größeres – nichtwissenschaftliches – Publikum, auf das die Reihe zumindest in den 1980er-Jahren durchaus abzielte.

Neben ihrer Konzentration auf die 1980er-Jahre garantiert die Quellenbasis der Studie ein wichtiges „Alleinstellungsmerkmal“ gegenüber den bereits vorliegenden Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik: Wie schon den anderen Autoren der Reihe standen Wirsching die Archive der politischen Parteien offen – nun erstmals auch jenes der „Grünen“. Deren Nutzung ist angesichts der üblichen Sperrfristen staatlicher Archive ein (immer noch) sinnvoller Kunstgriff, zumal die Bundesrepublik ja eine ausgesprochene Parteiendemokratie ist.

Seinen Stoff gliedert Wirsching in acht Blöcke, zwei chronologische und sechs thematische: Nach dem Auftakt mit der Darstellung des Regierungswechsels von der sozial- zur christdemokratisch-liberalen Koalition im September 1982 und der ersten Phase nach dieser „Wende“ folgen größere Kapitel zu Problemen des Parteien- und Regierungssystems, Wirtschaft und Finanzen, Gesellschaft im Umbruch, gebrochenem Fortschrittsbewusstsein und politischem Protest, Tendenzen der Kultur, Außenpolitik 1983-1988/89, Deutschlandpolitik. Damit wird die Breite dieser Untersuchung ebenso deutlich wie Wirschings bemerkenswerte Arbeitsleistung. Auch und gerade für denjenigen, der die 1980er-Jahre bewusst miterlebt hat, stellt Wirsching vieles Unbekannte oder mittlerweile schon wieder Vergessene dar und verdeutlicht gleichzeitig, wie fern uns manches schon nach gut einem Jahrzehnt gerückt ist: Wer weiß noch um die erbitterte parlamentarische, vor allem aber außerparlamentarische Auseinandersetzung über die NATO-Nachrüstung, also die Dislozierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa? Wie fremd ist uns heute überhaupt jener Ost-West-Konflikt – mit dem deutsch-deutschen Sonderkonflikt – geworden, der rund vier Jahrzehnte zwischen Détente und Eskalation changierte und durch die aberwitzige Logik der nuklearen Abschreckung eingehegt wurde? Fern mutet aber auch die Militanz des Streits über die Kernkraft an. Wer dies alles jetzt noch einmal nachliest, merkt tatsächlich, dass zwischen dem Ende der „alten“ und dem Beginn der „neuen“ Bundesrepublik nicht nur mehr als 15 Jahre vergangen sind, sondern dass wir 1989/90 einen veritablen Epochenwechsel erlebt haben.

Die analytische Stärke von Wirschings Studie zeigt sich vor allem in jenen Abschnitten, in denen er die Engpässe und Sachzwänge modernen Regierens in einem sehr pluralistischen politischen System wie dem der Bundesrepublik Deutschland verdeutlicht und sie mit dem Hinweis auf die zahlreichen institutionellen wie individuellen „Mitspieler“ oder sogar „Vetospieler“ in Politik und Gesellschaft erklärt. Zweifellos ist diese Analyse zutreffend und zudem höchst aktuell, weil die geschilderten Probleme bis heute gelten und sich die von Wirsching ebenfalls erwähnte „Medialisierung“ der Politik sogar noch verstärkt hat. Ja, man müsste sie noch um den Hinweis auf die Beschneidung nationalstaatlicher Handlungsautonomie im Zeichen von „Europäisierung“ und „Globalisierung“ ergänzen.

Dass Wirsching solche systemischen Zwänge gleichzeitig auch zur Rechtfertigung von Helmut Kohls Regierungsstil heranzieht, kann indes nur partiell überzeugen: Richtig ist dies sicher gegenüber dem zeitgenössischen Vorwurf des „Aussitzens“, weil dieser Entscheidungslosigkeit suggerierte, wo es eigentlich darum ging, den richtigen Zeitpunkt für eine Entscheidung zu finden, die wiederum angesichts der sachlichen und systemischen Komplexität oft nur eine erfolgreiche Moderation unterschiedlicher Akteure und unbefriedigende Kompromisse bedeuten konnte. Indes vermag dies nicht das andere Charakteristikum des „Systems Kohl“ zu erklären: einen starken Personalismus, der den Bundeskanzler zwar im Ausland Partnerschaften schmieden ließ, die sich politisch für die Bundesrepublik auszahlten, im Inland aber den ohnehin schon bestehenden fragwürdigen Trend zur Verflechtung von Partei und Staat weiter verstärkte. Schließlich bleibt die Frage offen, ob nicht schon in den 1980er-Jahren und spätestens im Zuge der deutschen Vereinigung Chancen zu effektiven Reformen der sozialen Sicherungssysteme vertan worden sind, weil die Bundesregierung die zu erwartenden Auseinandersetzungen scheute.

Mit dem Namen Helmut Kohl verbinden sich in den 1980er-Jahren große Leistungen, die Wirsching überzeugend herausarbeitet, gerade indem er auch die erheblichen Widerstände aufzeigt, die es hierfür zu überwinden galt: ein (zumindest relativer) Wirtschaftsaufschwung, eine erfolgreiche Außenpolitik, schließlich eine alles in allem deutlich optimistischere Stimmung in der Bevölkerung. Demoskopisch zahlte sich dies indes kaum aus – sicher deshalb, weil Kohl die Autorität seines Amtes vor 1989/90 nicht in mediale Münze zu verwandeln vermochte, aber auch weil sich mit seinem Namen ebenso erstaunliche Misserfolge oder Pannen verbinden, die Wirsching ebenfalls nicht verschweigt. 1989 stand der Bundeskanzler eben nicht auf dem Höhepunkt seines innenpolitischen und innerparteilichen Ansehens, sondern musste ganz im Gegenteil sogar einen parteiinternen Putschversuch abwenden. So wird auch verständlich, dass ihm für die Spanne eines Jahres – zwischen Herbst 1989 und Herbst 1990 – „eine überraschende, plebiszitär akklamierte ‚historische Größe’“ zuwuchs, „die historische Gestalt Kohl“ aber danach ebenso schnell wieder „auf das normale Maß“ schrumpfte (S. 653).

Über die deutsche Vereinigung, die dem Bundeskanzler zumindest kurzfristig den Zenit seines nationalen und internationalen Ansehens bescherte, kann Wirsching aufgrund der schon vorhandenen reichen Forschung verständlicherweise kaum Neues schreiben, weswegen er sie auch nur relativ knapp abhandelt. Umso wichtiger ist, dass er in einer Schlussbetrachtung seine auf die „alte“ Bundesrepublik konzentrierte Darstellung noch einmal perspektivisch auf das „neue“ Deutschland bezieht. Dabei benennt er drei strukturelle Probleme, die die Epochenwende 1989/90 geradezu „untertunneln“: eine emporsteigende Individualisierungs- und Anspruchsspirale, eine andauernde Expansion des Sozialstaats und eine gleichzeitige Unterspülung seiner Fundamente durch den demografischen, sozialkulturellen und wirtschaftlichen Wandel. Diese bedenkenswerte Liste wäre zumindest noch um einen wichtigen Punkt zu ergänzen: Das von Wirsching zutreffend in den Mittelpunkt gerückte Leitmotiv „Abschied vom Provisorium“, also die faktische Aufgabe des bisherigen Provisoriumsvorbehalts und die unübersehbare Selbstanerkennung Westdeutschlands in den 1980er-Jahren, erklärt nicht nur die sich bereits 1990 nach kurzer Euphorie einstellende Skepsis vieler Westdeutscher gegenüber der deutschen Einheit, sondern liefert zugleich eine – natürlich nicht die einzige – Begründung für die bis heute bestehenden mentalen und politischen Unterschiede und Verwerfungen zwischen West- und Ostdeutschen. Schon deshalb ist die Geschichte der „alten“ Bundesrepublik auch und gerade in den 1980er-Jahren von erheblicher Relevanz für die Gegenwart des heutigen Deutschlands und verdient eine intensive Erforschung, für die Wirschings Buch einen wichtigen Markstein darstellt.

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