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Titel
Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert


Autor(en)
Kühne, Thomas
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
327 Seiten
Preis
€ 39,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Magnus Koch Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin

Auch vier Jahre nach der Schließung der zweiten Wehrmachtsausstellung ist ein Ende der Diskussionen um den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg nicht abzusehen. Der Frage nach Voraussetzungen, Motiven sowie der Praxis des massenhaften Tötens nehmen sich zunehmend auch nicht-wissenschaftliche Publikationen an. Den bislang instruktivsten Zugang zur Auseinandersetzung mit dieser Frage bot die 1993 erschienene Schrift Christopher Brownings, der in der (männlichen) Vergemeinschaftung eines Polizeibataillons auf den östlichen Kriegsschauplätzen des Zweiten Weltkriegs eine der wichtigsten Bedingungen für den Mord an Juden und slawischer Zivilbevölkerung beschrieb.

Die Habilitationsschrift Thomas Kühnes nimmt sich nun erstmals systematisch einer mythisch begründeten soldatischen Kameradschaft an und will damit nicht nur die Möglichkeitsbedingungen der verbrecherischen Dimension des Ostkriegs erklären. Das Kameradschaftskonzept ist für ihn darüber hinaus der Schlüssel zur Frage, warum die deutsche Wehrmacht einen lange verlorenen Krieg zu Ende kämpfte. Eine während des Nationalsozialismus „verstaatlichte“ soldatische Kameradschaft ist für ihn darüber hinaus „Dreh- und Angelpunkt einer die Haupt- und Nachgeschichte des NS-Krieges integrierenden Erfahrungsgeschichte“ – Kameradschaft also als Phänomen, das auch die Gesellschaft des westdeutschen Teilstaats bis in die 1970er Jahre hinein wesentlich bestimmt habe. In seiner vorzüglich geschriebenen und dazu (wohltuend) knappen wie klar strukturierten Darstellung spannt Kühne einen weiten Bogen: Er stellt die Frage, mit welchen – in seiner Darstellung stets als wandelbar und vielgestaltig beschriebenen – Verständnissen von Kameradschaft „im Marschgepäck“ die Soldaten in den Zweiten Weltkrieg zogen, welche Bedeutung diese Soldaten zwischen 1939 und 1945 einer rassistisch definierten Kameradschaft zumaßen und wie sie und die (west-)deutsche Gesellschaft schließlich diese Erfahrungen nach Ende des Krieges verarbeiteten. Kühne bezieht dabei stets „Sozial-“ und „Deutungskultur“ aufeinander, verwendet also einen umfassenden und in der modernen Militärgeschichtsschreibung mittlerweile verbreiteten erfahrungsgeschichtlichen Ansatz. Kühne nutzt dafür vielfältiges Material: veröffentlichte Meinung (Verbandsschriften, Presse usw.), literarische Zeugnisse (Kriegsromane, Filme), militärische Ausbildungsliteratur sowie eine Fülle von Egodokumenten (Feldpostbriefe, Tagebücher, Interviews).

Im ersten Abschnitt befasst sich der Autor eingehend mit der Deutungskonkurrenz eines auf dem „Kriegserlebnis“ des Ersten Weltkrieges fußenden Kameradschaftskonzepts. Vor allem die nationalistischen Kriegervereine versuchten auf ihren Veteranentreffen die tiefe soziale Spaltung innerhalb der deutschen Armee mithilfe eines verklärten Bildes einer egalitären Soldatengemeinschaft zu glätten. Eben diesen Bruch hob vor allem die Sozialdemokratie hervor und behauptete sich mit dieser kritischen Haltung lange Zeit gegen einen rechtsbürgerlich-nationalistischen Konsens. Allerdings hatten selbst Autoren von pazifistisch gefärbten Kriegsromanen über den Ersten Weltkrieg die grundsätzliche Notwendigkeit des „Durchhaltens“ und das Zusammenhalten „unter Kameraden“ niemals grundsätzlich in Frage gestellt – Desertion war auch für die Romanfiguren Erich Maria Remarques, Ludwig Renns oder Arnold Zweigs kein gangbarer Ausweg.

Die gesellschaftliche Deutung, dass der Erste Weltkrieg an einem Mangel an innerem Zusammenhalt einer „Volksgemeinschaft“ verloren wurde, habe sich schließlich erst 1930 durchgesetzt, wobei Kühne hier irritierenderweise als bekannt voraussetzt, welche Ereignisse und Entwicklungen diese historische Wendemarke bestimmt haben. Mithilfe des Dolchstoßmythos sei es dem NS-Staat gelungen, das Idealbild soldatischer Kameradschaft im Sinne des geplanten neuen Krieges zu „demokratisieren“. Durch internationale Veteranenbegegnungen in den 1930er Jahren etwa habe man den sozialistischen Ansatz einer völkerverständigenden Kameradschaft imitiert – freilich unter anderen Vorzeichen.
Kühne geht in seiner Studie systematisch auf die geschlechtergeschichtlichen Aspekte des Kameradschaftsmythos ein: So sei dieser gleichzeitig als eine Antwort auf die Verunsicherung der männlichen Hegemonie nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg zu verstehen. Er habe außerdem Ordnung und Übersichtlichkeit in Zeiten ökonomischer und politischer Krisen geboten und gleichzeitig die gesellschaftliche Dominanz des „Soldatischen“ hervorgehoben. Der eigentliche Schlüssel zum Erfolg des Kameradschaftskonzepts sei dessen Fähigkeit, unterschiedlichen Erfahrungen, Einstellungen und Weltsichten Raum zu geben. In der historisch tief verankerten Tradition war in der Zwischenkriegszeit wie auch nach 1945 vor allem die Kameradschaft als Leidensgemeinschaft anschlussfähig: die „quasi-sakrale Sinnstiftung“ (S. 204) des Soldatentodes und die Ausblendung des eigenen, aktiven Tötens verband sich höchst effektiv mit der christlichen Motivik des Leidens für die Gemeinschaft.

Im zweiten Abschnitt analysiert Kühne die vieldeutige und komplexe Verschränkung kameradschaftlicher Praxis im Zweiten Weltkrieg. Diese wurde bestimmt durch die Komplizenschaft und damit auch Verschwiegenheit hinsichtlich der Verbrechen über das Kriegsende hinaus und gleichzeitig durch Fürsorglichkeit und gegenseitigen Trost, also die „weichen“ – weiblich konnotierten – Aspekte militärischer Sozialkultur. Gerade in der zweiten Phase des Krieges, seit der Wende bei Stalingrad sei die Erfahrung des gemeinsam ertragenen Leids angesichts der ständigen Rückzüge und hoher Verluste zentral geworden. Spiegelbildlich dazu hatte aber gerade dies auch die Verbrechen ermöglicht: Fürsorglichkeit untereinander blockierte Gefühle der Schuld; der durch die NS-Kameradschaft bereit gestellte Dispens für die eigene Verantwortung am Töten gerade in der Sowjetunion war für Kühne Ausdruck einer „Schamkultur“. Diese – gekennzeichnet durch die rassistischen und repressiven Normen der Gruppe – stellt er einer „Gewissenskultur“ gegenüber, die unter den Bedingungen des NS-Krieges immer mehr an Bedeutung verloren habe: „Scham stiftet Konformität“ (S. 84). Für solcherlei Gruppendynamik waren schließlich selbst die Außenseiter funktional, denn, so betont der Autor immer wieder: keine Kameraden, ohne die Definition von Nicht-Kameraden, zu denen – viel mehr noch als die „Unsoldaten“ (S. 23) innerhalb der Wehrmacht – der slawische Kriegsgegner gerechnet wurde. Überzeugend schildert Kühne, wie sehr selbst regimekritische Soldaten (Böll, Kuby u.a.) die Angst vor dem „sozialen Tod“ des Außenseiters fürchteten, wie selbst Soldaten, die von kameradschaftlichen Praktiken abgestoßen waren, insgesamt nicht einmal widerwillig ihren Dienst taten.

Besonders anregend wird die Darstellung vor allem dann, wenn Kühne die scheinbare Widersprüchlichkeit historischer Praxis untersucht. So zeigt er am Beispiel der Denunziation in der Wehrmacht, dass die Kameradschaft den Soldaten hiervor zwar einerseits schützte. Andererseits galt dies nur dann, wenn diese sich gleichzeitig auch anpassten, ihren Schutz also mit Konformität erkauften. Der Konformitätsdruck, sanktioniert etwa durch Kollektivstrafen („heiliger Geist“), die stetige Angst davor, „aufzufallen“ war das eine. Kühne stellt dem allerdings stets den rassistischen und antisemitischen Grundkonsens innerhalb der Wehrmacht gegenüber. Anhand des Beispiels des im Jahre 1944 wegen Wehrkraftzersetzung hingerichteten U-Boot-Kapitäns Oskar Kusch zeigt Kühne, dass ein Denunziant kein Vorkämpfer der NS-Volksgemeinschaftsidee sein musste – die Sorge um die eigene Karriere konnte als auslösender Faktor eine mindestens ebenso große Rolle spielen.

Das Kameradschaftskonzept war schließlich wohl auch deshalb so effektiv, weil es gerade den jungen Männern die Loslösung von der Herkunftsfamilie ermöglichte, weil sie durch die „Prüfungen“ des Krieges (Todesgefahr, Drill, Gewalt, „Saufexzesse“, Bordellbesuche) in die Männerwelt initiiert wurden. Kühne verweist allerdings auch an dieser Stelle darauf, dass die Sehnsucht nach den Familien, nach Geliebten und Müttern dennoch präsent blieb – dass die meisten Soldaten sich durchaus „zerrissen“ gefühlt haben dürften. Auch dafür konnte die Kameradschaft mit ihren familienanalogen Strukturen Ausgleich bieten.

Für die Zeit nach 1945 beschreibt Kühne einen fundamentalen Wandel gegenüber dem Umgang mit der Kriegserfahrung nach dem Ersten Weltkrieg. Dies begann zunächst in der Gefangenschaft, die viele Soldaten in den Lagern als „Entmännlichung“ (S. 226) erfuhren. Die Kameradenbünde und Soldatenverbände konnten in einer zunehmend „verwestlichten“ Bundesrepublik niemals den Einfluss gewinnen wie nach 1918: trotz des Kalten Krieges und trotz des bis in die 1970er Jahre als gelungen zu bezeichnenden Versuchs die Tatsache zu vergessen zu machen, dass die Wehrmacht Europa 1939 mit Angriffskriegen überzogen hatte. Die Kameradschaft wurde mehr und mehr „privatisiert“ und bald setzte ihre schrittweise Desavouierung ein – im Zuge eines stetigen Bedeutungsverlusts des Militärs in Deutschland, der sich auch in einem Wandel seiner Rekrutierungsschichten und schließlich durch eine immer kritischere mediale Aufmerksamkeit abzeichnete. Die „Schamkultur“ sei Schritt für Schritt abgelöst worden durch eine „Gewissenskultur“. In deren Folge sei seit den 1980er Jahren zunehmend nach den Opfern und später auch nach den Tätern des Krieges gefragt worden. Der Kameradschaftsmythos sei schließlich dem Spagat (aktueller) ziviler Normen und (historischer) verbrecherischer Praxis nicht mehr gewachsen gewesen (S. 231).

Thomas Kühne hat mit seiner Analyse des Kameradschaftkomplexes einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Gesamtgeschichte des Zweiten Weltkriegs geliefert. Besonders inspirierend sind dabei Einsichten in die geschlechtergeschichtlichen Dimensionen des Themas. Im westlichen Teilstaat verlor der Soldat als Kamerad die (männliche) Leitbildfunktion, die ihm zwischen 1930 und 1945 zukam. Dass Wehrmachtsoldaten überhaupt zu einem solchen Leitbild und gleichzeitig zu den ersten Repräsentanten einer „kämpfenden Volksgemeinschaft“ werden konnten, ist gerade angesichts der Tatsache bedeutungsvoll, dass dieses Konzept in der „Deutungskultur“ vor 1930 mitunter nur am Rande präsent war.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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