B. Jussen (Hrsg.): Die Macht des Königs

Cover
Titel
Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit


Herausgeber
Jussen, Bernhard
Erschienen
München 2005: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
478 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Stollberg-Rilinger, Historisches Seminar, Geschichte der Frühen Neuzeit, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Das Konzept dieses Buches ist in verschiedener Hinsicht reizvoll und ungewöhnlich. Der Herausgeber geht davon aus, dass sich europäische Geschichte heute nicht mehr als Addition verschiedener Nationalgeschichten schreiben lässt, dass sie deshalb ein ganz neues „Ordnungsgerüst“ für das vielgestaltige Material benötigt und eine neue „Hierarchie der Wichtigkeiten“ hervorbringen muss (S. XIII). Das wird in diesem Buch in Bezug auf die politische Geschichte der Monarchie versucht – zweifellos ein zentrales gemeineuropäisches Strukturprinzip von langer Dauer mit zahlreichen regionalen Varianten. Institutionengeschichte soll dabei im Sinne der neuen Kulturgeschichte des Politischen „verflüssigt“ werden: Institutionen werden nicht als überzeitlich geltende Kategorien immer schon vorausgesetzt, sondern als Phänomene beschrieben, die stets aufs Neue durch kommunikative Prozesse erzeugt wurden: „Eine politische Institution existiert nur, wenn sie stattfindet. Sie muss kommuniziert werden, sie muss behauptet, bestritten und verteidigt, affirmiert, angepasst, symbolisiert werden“ (S. XV). Das läuft auf eine konsequente Historisierung verfassungsgeschichtlicher Kategorien und eine Schärfung des Blicks aufs Detail hinaus.

Methodisch soll dieses Konzept eingelöst werden, indem die Geschichte der Monarchie in Europa an einer Reihe von chronologischen „Knotenpunkten“ entlang erzählt wird, wobei es sich oft gerade nicht um die geläufigsten Daten handelt. Der Band besteht aus 27 einzelnen Essays, die jeweils um ein solches „Symboldatum“ herum geschrieben sind – beginnend mit 390 n.Chr., als Kaiser Valentinian II. sich ohnmächtig erwies, den magister militum Arbogast abzusetzen (Egon Flaig), und endend mit 1804, dem 28. Floréal des Jahres XII, als Napoleon per Senatsbeschluss Kaiser der Franzosen wurde (Martin Kirsch). Jedes Ereignis soll „wie ein Schlaglicht in der Nacht die Konturen einer […] politischen Landschaft“ sichtbar machen (S. 5). Am Anfang steht jeweils ein besonders signifikanter längerer Quellentext, von dem aus Schritt für Schritt im Wechsel von Nah- zu Fernperspektive ein größerer Zusammenhang erschlossen werden soll. Die Idee ist, das hermeneutische Verfahren selbst im Erzählen möglichst transparent werden zu lassen und nicht, wie die kanonischen Darstellungen in hergebrachten Handbüchern, „glatte Synthetisierbarkeit“ vorzutäuschen. Auf diese Weise soll der Konstruktionscharakter historischer Erkenntnis auch für ein breiteres Publikum nachvollziehbar gemacht werden.

Die Verfasser sind teils arrivierte jüngere, teils hochrenommierte ältere Historiker/innen – nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus England, Amerika, Frankreich, den Niederlanden, Italien und Polen. Mehrheitlich handelt es sich um Mediävisten/innen – was kaum von der Sache her zu rechtfertigen ist, sondern sich wohl vielmehr aus dem wissenschaftlichen Netzwerk des Herausgebers erklären lässt. Das 17., 18. und 19. Jahrhundert sind nur mit je einem einzigen Essay vertreten, obwohl gerade sie doch sicher das Bild dessen geprägt haben, was man sich gemeinhin unter der „europäischen Monarchie“ vorstellt. Die halbherzige Begründung für diese offenbar auch vom Herausgeber selbst empfundene Lücke ist kaum überzeugend: die These nämlich, das Königtum sei schon im 17. Jahrhundert nicht mehr politisch zentral und prägend, sondern – wie der Absolutismus Ludwigs XIV. – nur mehr eine Fiktion gewesen (S. XX). Heißt das etwa, die vormoderne Monarchie wäre vorher jemals Alleinherrschaft im strengen Sinne gewesen? Jeder einzelne Essay belegt das Gegenteil. Und selbst wenn es so wäre: Sind historische Fiktionen nicht gerade auch prominente und erkenntnisfördernde Gegenstände der Geschichtsschreibung?

In systematischer Hinsicht ist die Themenvielfalt allerdings sehr groß. Da geht es etwa um die Kontinuität des römischen Imperiums, um die Problematik der Thronfolge im Reich, in Russland, Böhmen und Polen, um das Verhältnis zwischen Papst und Kaiser, um Wirtschaft, Finanzen und Kriegführung, um das Verhältnis des Königs zu seinen Vasallen und zu den Städten, um Schlossbau und Widerstandsrecht, um nur einige Themenkomplexe zu nennen. Die gewählten Quellenauszüge sind heterogen und auf ganz unterschiedliche Weise aussagekräftig; bei den meisten handelt es sich um chronikalische Texte, aber es finden sich auch ein Verbrüderungsbuch, ein Vertrag, ein Brief, eine Aktennotiz, ein Verfassungstext. Einen Eindruck von dem Konstruktionscharakter des historiografischen Geschäfts vermitteln vor allem die Spezialisten des frühen Mittelalters. So zeigen Philippe Buc mit der Begegnung zwischen Papst und Frankenkönig in Ponthion 754 oder Janet L. Nelson anhand der Kaiserkrönung von 800, wie fragmentarisch und perspektivisch die Überlieferungen sind und wie schwer sich daraus eine kohärente Erzählung destillieren lässt.

Das anspruchsvolle Konzept erfordert von den Autoren/innen großes darstellerisches Geschick. Wie das im Idealfall aussehen kann, lässt sich an ein paar besonders gelungenen Beispielen sehen. David Nirenberg etwa zeigt, „warum der König die Juden beschützen musste, und warum er sie verfolgen musste“, anhand der Legende von der jüdischen Geliebten König Alfons’ VIII. von Kastilien, die von seinen Getreuen umgebracht wurde. Die Geschichte verrät viel über das ambivalente Verhältnis europäischer Herrscher zu den Juden, die sie privilegierten und schützten, um sie finanziell auszubeuten, was ihnen jedoch als „Judenliebe“ ausgelegt wurde. Die Logik der Geschichte wird Facette für Facette offenbar, und am Ende versteht der Leser auch, warum antimonarchischer Widerstand häufig im Gewand des Antijudaismus auftrat.

Anregend ist auch die Art und Weise, wie das Verhältnis zwischen dem Westen und Byzanz im 12. und 13. Jahrhundert anhand der wechselseitigen Wahrnehmungsverzerrungen beschrieben wird. So zeigt der raffinierte Essay von Marie Theres Fögen, „warum Canossa in Byzanz nur zur Parodie taugte“. Andere gelungene Beiträge lassen die fremde vormoderne „Sinnökonomie“ sichtbar werden (Frank Rexrodt, „Wie man einen König absetzte“), zeigen, wie man mit verschiedenen metaphorischen Deutungskonzepten experimentierte (Claudius Sieber-Lehmann, „Warum es für das Verhältnis von Papst und Kaiser kein erfolgreiches Denkmodell gab“), oder geben Einblick in die flexiblen Strategien der Statuserhöhung (Heribert Müller, „Warum nicht einmal die Herzöge von Burgund das Königtum erlangen wollten und konnten“). Diese und einige andere Beiträge beschreiben – entsprechend der programmatischen Einleitung des Herausgebers – die Phänomene in ihrer Offenheit und Flüssigkeit, als ein beständiges Ausprobieren, Austarieren und Hervorbringen von Sinnüberschüssen, jedenfalls so, dass deutlich wird, wie sehr die starren Kategorien der konventionellen Politik- und Verfassungsgeschichte bisher den Blick verengt haben.

Andere Beiträge hingegen sind enttäuschend, weil sie gar nicht erst versuchen, das Konzept einzulösen. Manche Essays enthalten unter einer verfremdenden Überschrift nichts anderes als herkömmliche Handbuchartikel, konventionell in Form und Inhalt. So bietet Martin van Gelderen unter dem Titel „Wie die Universalmonarchie der Volkssouveränität weichen musste“ im Schnelldurchgang ein paar Kapitel politischer Ideengeschichte von Erasmus und Luther über die spanische Spätscholastik und den niederländischen Aufstand bis zum englischen Bürgerkrieg – und reproduziert nebenbei die alte Whig-Erfolgsgeschichte. Andere Beiträge sind zwar anregend, verfehlen aber die formale Konzeption. So vertritt Matthias Müller in einem Aufsatz über den fürstlichen Schlossbau um 1740 die These, dass die Architekten trotz des neuen Paradigmas von Versailles bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die historisch gewachsene Substanz der Schlossbauten bewusst respektierten, um das Alter der jeweiligen Dynastie zu betonen – eine interessante und gewagte These, die aber mit dem Konzept des Bandes wenig zu tun hat. Die vielen Möglichkeiten des großen Themas Monarchie im 18. Jahrhundert werden jedenfalls verschenkt.

Der Herausgeber beansprucht nichts Geringeres, als „neue Marken“ für eine neue, „an Europa orientierte Wissens- und Erinnerungskultur“ zu setzen. Insgesamt kann man sich nach der Lektüre dieses Buches durchaus vorstellen, wie das aussehen könnte. Die Konzeption ist überzeugend, einige Essays werden dem Anspruch glänzend gerecht, andere sind zumindest eingängig geschrieben, manche aber verfehlen die Fragestellung oder die essayistische Form. Wie so oft bei solchen innovativen Projekten zeigt sich: Nicht jeder, der sich beteiligt, ist bereit, sich wirklich darauf einzulassen. Das allerdings ist kein Argument gegen die Konzeption, ganz im Gegenteil.