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Titel
Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970


Autor(en)
Nagel, Anne Christine
Reihe
Formen der Erinnerung 24
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 52,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julian Führer, Historisches Seminar, Universität Zürich

Die Zahl der Arbeiten zur Geschichte der Geschichtswissenschaft und ihrer Akteure hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Die breit angelegte Studie von Anne Christine Nagel, die im Sommersemester 2003 in Gießen als Habilitationsschrift angenommen wurde, untersucht die thematischen und personellen Kontinuitäten und Brüche in der bundesdeutschen Mediävistik nach 1945. Da die Debatten der letzten Jahre vor allem die neueste Geschichte oder bestimmte Forschungskonzepte zum Thema hatten, besteht für das behandelte Feld zweifelsohne ein Forschungsbedarf.

Nagel untersucht nicht die gesamte historische Mittelalterforschung, sondern beschränkt sich auf eine bestimmte Generation als soziales Phänomen (S. 13). In ihre Erhebung wurden 112 Lehrstuhlinhaber einbezogen, die zwischen 1945 und 1980 in der Bundesrepublik ein mediävistisch ausgerichtetes Ordinariat innehatten (S. 20). Hinzu kommt Theodor Mayer aufgrund seiner besonderen wissenschaftshistorischen Stellung (darauf ist im Folgenden noch einzugehen). Die Materialbasis liefert eine im Laufe der Arbeit gewachsene Datenbank, die die Karriereverläufe dieser Professoren erschließt und so mehrere Generationen erfassen kann, die durch unterschiedliche Karriere- und Erfahrungsmuster geprägt wurden. So werden Frontgeneration, Kriegsjugendgeneration (Geburtsjahrgänge 1900 bis 1912) und Zwischenkriegsgeneration getrennt; das vorliegende Buch hat sich aufgrund des Untersuchungszeitraums vorrangig mit der Zwischenkriegsgeneration zu befassen, die nacheinander Inflation, hohe Arbeitslosigkeit, überfüllte Hochschulen, Krieg und mehrere Systemwechsel erleben musste. Als Material für die Untersuchung dienen die Personalakten und die Nachlässe, hier vor allem die Korrespondenzen, der untersuchten Personen. Die Briefe sind eine Fundgrube für persönliche und ursprünglich natürlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Äußerungen, die mitunter von verletzender Schärfe sind. Es werden also vielfach unbekannte Quellen präsentiert, so dass das Buch auf jeden Fall einen Gewinn für die Forschung darstellt. Neben der modernen Forschung werden außerdem die Schriften der untersuchten Personengruppe ausgewertet, nicht zuletzt die aus dieser Generation auffallend zahlreichen autobiografischen Werke.

Um die Besonderheiten der Entwicklung in der Bundesrepublik zeigen zu können, ist zunächst ein Rückgriff in die 1930er und 1940er-Jahre erforderlich. Die großen Themen wie die Bewertung Karls des Großen und die Entstehung des deutschen Reiches werden rekapituliert, und bereits hier sind die Protagonisten der Debatte oft die prägenden Persönlichkeiten der Nachkriegszeit. Das Kapitel 3 („Die Kriegsjugendgeneration kommt. Berufungen 1950-1965“, S. 92-155) beleuchtet zunächst die informellen mediävistischen Zentren, die sich in Göttingen unter anderem mit Hermann Heimpel und Percy Ernst Schramm sowie in Marburg mit Walter Schlesinger und Helmut Beumann konstituierten; über ihre Netzwerke konnten sie bedeutenden Einfluss auf die Besetzung von Lehrstühlen nehmen. Karl Bosl in München und Gerd Tellenbach in Freiburg werden als ganz unterschiedliche Persönlichkeiten mit großem Lehrerfolg charakterisiert, was sich besonders in der Vielzahl der Promotionen geäußert habe (bei Bosl insgesamt nicht weniger als 205, S. 139). Bosl galt freilich bei vielen seiner Kollegen als wissenschaftlich nicht immer zuverlässig, im Gegensatz zu seinem auch wissenschaftsorganisatorisch tätigen Kollegen Tellenbach, dessen Schüler Lehrstühle an verschiedenen Hochschulen einnehmen konnten.

Nicht weniger aussagekräftig für die Geschichte der bundesdeutschen Mediävistik ist die außeruniversitäre Forschung, die hier anhand des Konstanzer Arbeitskreises, des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen und der Monumenta Germaniae Historica untersucht wird (Kapitel 4, S. 156-228). Die berühmten Tagungen des Konstanzer Arbeitskreises, die auch heute noch zweimal im Jahr auf der Reichenau stattfinden, werden letztlich auf Theodor Mayers Konzepte als Leiter des „Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften“ zurückgeführt, in dessen Rahmen er bereits 1940 Tagungen organisierte, bei denen die Teilnahme erst nach persönlicher Einladung möglich war (S. 50, 176). Diese pointierte These erscheint in Bezug auf die Reichenau nicht unplausibel, müsste jedoch vielleicht im Kontext der Geschichte von wissenschaftlichen Tagungen allgemein weiterverfolgt werden.

Mayer war nach 1945 nicht wieder als Präsident der Monumenta Germaniae Historica eingesetzt worden, die zwischendurch als „Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtsforschung“ fungiert hatten. Ausschlaggebend sei nicht die politische Verstrickung Mayers gewesen, die auch bei anderen bestanden habe und diese nicht an einer wissenschaftlichen Karriere und der Übernahme von Ämtern gehindert habe, sondern vielmehr seine persönliche Unverträglichkeit, die seine Fachkollegen nach 1945 dazu gebracht habe, seine Wiedereingliederung in die wissenschaftlichen Strukturen zu hintertreiben. Diese Unverträglichkeit wird anhand vieler Schreiben im Umfeld der Reorganisation der Monumenta auch deutlich gezeigt. Hermann Heimpel seinerseits hatte bereits 1949 einen vergeblichen Versuch zur Gründung eines historischen Forschungsinstituts in der Tradition der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft unternommen, bevor 1955 das Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen seine Arbeit aufnehmen konnte. Heimpel war nie Mitglied der NSDAP gewesen (S. 39), hatte sich aber durch Äußerungen und Taten exponiert, unter anderem seinen Gang an die 1940 wieder errichtete „Reichsuniversität“ Straßburg unter ihrem Rektor Ernst Anrich (S. 73f.). Seine Freundschaft mit Theodor Heuss sowie seine große Popularität in Göttingen und darüber hinaus ließen ihn in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik aber in sehr positivem Licht erscheinen.

Das Kapitel 5 zur Hochschulpolitik und Reformdiskussion (S. 229-298) erläutert deutlich unterscheidbare Herangehensweisen der betreffenden Personen. Während Tellenbach wiederholt als Rektor der Universität Freiburg amtierte und 1957 die Hochschulrektorenkonferenz leitete, befasste sich Walter Schlesinger aufgrund seiner persönlichen Herkunft und seiner Forschungsschwerpunkte vor allem mit den schwierigen Beziehungen zu den ostdeutschen Universitäten. Die Ereignisse von 1968 und in den Folgejahren führten bei vielen zu einem Bruch mit der sich verändernden Institution Universität. In diesem Abschnitt gerät vieles weniger analytisch als narrativ, was angesichts der mitunter sehr aussagekräftigen Korrespondenzen verständlich ist; dennoch liegen die Stärken des Buches in den Abschnitten zur universitären und außeruniversitären Forschung. Ein Literaturverzeichnis, das nicht enzyklopädisch gehalten ist, sondern sich neben den behandelten Forschungen auf die wesentliche neuere Literatur beschränkt, und ein zuverlässiges Register beschließen den Band.

Als kleinere Monenda seien einige Falschschreibungen bei den Namen der untersuchten Personen angemerkt („Walter“ statt Walther Kienast, S. 38 Anm. 48; „Joseph“ statt Josef Fleckenstein, S. 208). Ein wahrscheinlich typisch mediävistisches Unbehagen beschleicht den Rezensenten, wenn ablehnende Gutachten aus Berufungsverfahren über auch heute aktive Wissenschaftler referiert werden (S. 260f.). Manche Urteile über Forscherkarrieren oder die gewählte Methode einzelner Wissenschaftler sind in ihrem Kontext vielleicht etwas ungerecht, wenn etwa die Berufung eines Mittelalterhistorikers nach Bielefeld 1971 als methodisch nicht innovatives Gegenstück „ohne revolutionären Impuls“ zur Sozialgeschichte Hans-Ulrich Wehlers gewertet wird (S. 270).

Wer sich mit der Geschichte der Geschichtswissenschaft und der Universitäten im 20. Jahrhundert befasst, wird dieses Buch mit Gewinn zu Rate ziehen. Der generationengeschichtliche Ansatz bringt hierbei überzeugende Resultate, wobei einzelne Persönlichkeiten und Schicksale natürlich durch die Statistik gewissermaßen gemittelt werden. Insofern ist Nagel um ihre Datenbank zu beneiden, die auch die Abweichung von der Norm innerhalb der Generation dokumentiert, aber nicht im Buch enthalten ist. Ein über das Feld der bundesdeutschen Mittelalterforschung hinaus relevantes Ergebnis ist einmal mehr, dass Parteimitgliedschaft in der NSDAP nicht unbedingt mit besonderer ideologischer Überzeugung einhergehen musste – wie umgekehrt auch das Fehlen einer Parteimitgliedschaft nicht heißen muss, dass es nicht teils schwere Verstrickungen in Wort und Tat gab. Neben dieser reichhaltigen Studie sollte stets ein soeben erschienener Band mit gänzlich anderer Herangehensweise benutzt werden, der dem Konstanzer Arbeitskreis entstammt, einer Institution also, die selbst im Brennpunkt des hier verfolgten Interesses stand.1

Anmerkung:
1 Moraw, Peter; Schieffer, Rudolf (Hgg.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, Ostfildern 2005.

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