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Titel
Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970)


Autor(en)
Conze, Vanessa
Reihe
Studien zur Zeitgeschichte 69
Erschienen
München 2005: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
453 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Schneider, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Während in letzter Zeit viele Bürger der Europäischen Union den Rücken kehren – kulminierend in den letztjährigen, die EU-Verfassung ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden –, hat die Geschichte der europäischen Einigung und der damit korrespondierenden Europavorstellungen unter HistorikerInnen nach wie vor Konjunktur.1

In diesen forschungskonkjunturellen Zusammenhang ist auch das vorliegende Werk von Vanessa Conze einzuordnen. In ihrer 2001 bei Anselm Doering-Manteuffel in Tübingen eingereichten Dissertation unternimmt sie den Versuch, den „komplexen Wandlungsprozeß deutscher übernationaler Ordnungsvorstellungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts“ (S. 386) in den Blick zu nehmen. Ausgehend von der Feststellung, dass unser heutiges Europabild auf den Grundfesten einer liberalen Demokratie und einer freiheitlich-pluralistisch gedachten Gesellschaftsordnung fußt, moniert Conze, dass dieses Bild von der historischen Forschung bislang in die Vergangenheit projiziert worden sei und konkurrierende Ideen, „die Europa und seine Gesellschaft(en) nach konfessionellen, ständisch-elitären, imperialen oder auch hegemonialen Vorgaben zu ordnen gedachten und sich damit ganz grundlegend von unserer heutigen Idee von Europa unterschieden“ (S. 1), aus dem Fokus geraten seien. Um diese „historische Rivalität unterschiedlicher Europaideen und de[n] langwierige[n] Prozeß, an dessen Ende unser heutiges Europaverständnis steht“ (ebd.), methodisch handhabbar zu machen, vergleicht sie zwei diametral entgegengesetzte Weltbilder und Ordnungsvorstellungen mitsamt den dazugehörigen Organisationsformen: den Topos des „Abendlandes“ und die Abendländische Bewegung einerseits, die „West-europäische Idee“ und die sie propagierende Europa-Union andererseits. Mit dieser Fragestellung steht Conzes Arbeit im Kontext des von Doering-Manteuffel in Tübingen forcierten Konzeptes der „Westernisierung“, welches die Entstehung einer gemeinsamen transatlantischen Werteordnung in den Blick nimmt, wobei Ideen und Werte nicht mittels eines „Kulturtransfer[s] auf einer Einbahnstraße von einem Land in ein anderes“ gelangen, „sondern im interkulturellen Transfer zwischen verschiedenen Ländern“ zirkulieren.2

Conzes Arbeit, die methodisch mit dem Instrumentarium einer „erneuerten Ideengeschichte“ operiert und „nach den spezifischen Organisationsformen und Wirkungsweisen der untersuchten Trägergruppen“ (S. 17) fragt, gliedert sich in zwei Hauptteile, innerhalb derer stringent und systematisch jeweils die Abendland-Idee und die West-Europaidee behandelt werden. Zunächst geht Conze den organisationsgeschichtlichen Wurzeln der beiden Ideen in der Zwischenkriegszeit nach, wobei dieser Zugriff durch einen individual-biografischen ergänzt wird, da sich in der Zeit des Nationalsozialismus die meisten Organisationsformen verloren. Diese Wurzelstränge aufgreifend, thematisiert Conze in drei Kapiteln die Kontinuitäten und Brüche der beiden Konzepte in der Bundesrepublik, um in einer abschließenden Synthese beide Ideen vergleichend zu resümieren.

Der Topos des „Abendlandes“, der zwar eine jahrhundertlange begriffsgeschichtliche Tradition besitzt, gleichwohl aber erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine eigenständige, inhaltliche Konkretionen erfuhr, erlebte nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland eine beträchtliche Konjunktur. Nicht zuletzt im süd- und westdeutschen, katholischen Milieu stand der Begriff „für die gemeinsamen kulturellen Wurzeln der europäischen Völker in einer vergangenen, vorreformatorischen, christlich-katholischen Einheit, gestiftet durch die mittelalterliche Kirche und das ,Sacrum Imperium’“ (S. 28). Diese damit auf ein glorifiziertes Mittelalter rekurrierende Ordnungsvorstellung war dezidiert antimodern, antiliberal, antiparlamentarisch, antiwestlich und antikommunistisch und zielte auf eine umfassende Rechristianisierung der europäischen Gesellschaften. In der Zwischenkriegszeit gruppierten sich die Vertreter dieses Ordnungsmodells primär um die zwischen 1925 bis 1930 erscheinende Zeitschrift „Abendland“. Während der Locarno-Ära war es ein zentrales Anliegen der so genannten „Abendländer“, die Verständigung zu den europäischen Nachbarn, vor allem zu Frankreich und Polen, zu fördern, wobei dieser Wille zur Verständigung keineswegs integrationspolitische Absichten implizierte. Mit Beginn der 1930er-Jahre rückten die Abendländer zunehmend vom „Westen“ ab, und in der Folgezeit verband sich die Idee des „Abendlandes“ mit dem Konzept „Mitteleuropa“ sowie dem Begriff des „Reiches“. Vor allem letzterer fungierte als Scharnier, welches die Vorstellungen der Abendländer und vieler Rechtskatholiken zumindest partiell kompatibel mit denen des Nationalsozialismus machte: „Viele Protagonisten, die vor der nationalsozialistischen ,Machtübernahme’ – und auch wieder nach 1945 – vom ,Abendland’ redeten, ersetzten diesen Begriff nun weitgehend durch das ,Reich’, ohne damit allerdings im engsten Sinne nationalsozialistisches oder rassistisches Gedankengut zu übernehmen.“ (S. 57)

Die biografischen Wege, die in die „abendländische“ Bewegung der Nachkriegszeit führten, konnten unterschiedlich verlaufen. Während viele durch ihre süddeutsch-adelige Herkunft und Sozialisation und ihren Katholizismus zur „Abendland“-Idee fanden (u.a. Friedrich August von der Heydte), fanden sich nach 1945 aber auch zahlreiche Heimatvertriebene – etwa Emil Franzel – in den Reihen der Abendländischen Bewegung, und vereinzelt auch preußische Protestanten wie Hans-Joachim von Merkatz. Diese verband vor allem konservativ-elitäre Gesellschaftsvorstellungen sowie ein ausgesprochener Antikommunismus. Die überwiegende Mehrheit der Abendländer verbrachte die Zeit des „Dritten Reichs“ in Deutschland, obgleich es unter ihnen auch einige Exilanten gab, zu denen vor allem Otto von Habsburg zählte, der die Kriegsjahre in den USA verbrachte. Im Gegensatz zu vielen späteren aktiven Mitgliedern der Europa-Union, die im Exil traditionelle Ordnungsvorstellungen überprüften und revidierten, sahen von Habsburg und seine Anhänger dafür keinen Grund: „Die tiefe Verwurzelung im altösterreichischen Weltbild, gepaart mit einem überzeugten Katholizismus, ,immunisierte’ die Abendländer gewissermaßen gegenüber den politischen und sozialen Ordnungsmodellen in den Exilländern. Ihr festgefügter Katholizismus ließ sie auf die amerikanische Kultur eher mit Ablehnung reagieren.“ (S. 107)

Nach dem Ende des „Dritten Reichs“ versammelten sich viele Abendländer um die 1946 neugegründete Zeitschrift „Neues Abendland“, stellten sich in die Tradition des antinationalsozialistischen Widerstandes und profitierten von der allgemeinen Konjunktur des „Abendland“-Topos in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Wenngleich sie ihre europäischen Ordnungsvorstellungen kaum änderten, erfuhren sie eine entscheidende Umakzentuierung. Zwar blieb die untergegangene Donaumonarchie „leuchtendes Vorbild einer europäischen Ordnung“ (S. 387), aber der geografische Schwerpunkt verlagerte sich unter den Bedingungen des Kalten Kriegs zunehmend von Mittel- nach Westeuropa. Der Kalte Krieg führte auch zu einer stärkeren Politisierung der Abendländischen Bewegung, die nun Organisationen wie die Abendländische Akademie gründete, um ihre Ordnungsvorstellungen zu verbreiten. Dabei setzte sie aber nicht auf die Mittel einer Massenbewegung, sondern versuchte besonders über das Centre Européen de Documentation et Information (CEDI) in den deutsch-spanischen und deutsch-französischen Beziehungen mittels einer „Substitutionsdiplomatie“ (Birgit Aschmann) politikberatend auf führende Politiker einzuwirken. Im Zuge jener „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas), welche die Bundesrepublik seit der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre erfasste, gerieten der Begriff des „Abendlandes“ und die Abendländische Bewegung zunehmend in die Kritik. Jedoch gelang es ihren Vertretern, die Idee des „Abendlandes“ soweit zu „modernisieren“, dass sie in den 1970er-Jahren im Rahmen der Paneuropa-Union, deren Präsident Otto von Habsburg nach dem Tode des Paneuropa-Gründers Richard Coudenhove-Kalergi wurde, neuen Zulauf erhielt.

In dem Maße, wie die abendländische Idee im Laufe der Nachkriegszeit mehr und mehr an Bedeutung verlor, setzte sich im selben Zeitraum die „West-Europa“-Idee in Deutschland durch. In dieser Idee, für die sich nach 1945 vor allem die neugegründete Europa-Union einsetzte, bündelten sich unterschiedliche Wurzelstränge. Ihre Vertreter knüpften vor allem an die Europa-Organisationen der Zwischenkriegszeit an, wobei besonders Wilhem Heiles „Verband für Europäische Verständigung“ zu nennen ist. Wichtiger aber noch als diese organisatorischen Kontinuitäten sollte für die Entstehung der „west-europäischen“ Idee die nationalsozialistische Erfahrung werden. Durch KZ-Inhaftierung und Vertreibung ins Exil gerieten „traditionelle deutsche Ordnungsvorstellungen […] auf den Prüfstand und wurden nicht selten zugunsten ,neuer’ Ideen verworfen oder zumindest transformiert“ (S. 235). Exemplarisch für ersteres kann Eugen Kogon, für letzteres Hans Albert Kluthe genannt werden. Kogon, ursprünglich im ultrakonservativen Katholizismus beheimatet, brach unter der Einwirkung von Verfolgung und Konzentrationslager mit alten Ordnungsvorstellungen und fand nach dem Krieg zur Europa-Union, wo sich allerdings „sein mit sozialistischen und neutralistischen Anklängen angereichertes Konzept eines ,Europas der Dritten Kraft’“ (S. 232) als nicht kompatibel mit den angelsächsisch-liberalen Ordnungsmodellen herausstellte. Diese frühe Phase der Europa-Union endete mit Beginn der 1950er-Jahre, und den Weg nach „West-Europa“ zu gehen blieb seitdem zuvorderst den Exilanten und anschließenden Remigranten vorbehalten, zu denen neben Kluthe vor allem der Gewerkschafter Ludwig Rosenberg und der Publizist Ernst Friedländer zählten. Kluthe, in der Weimarer Republik Mitglied der DDP – in dieser allerdings marginalisiert –, musste 1936 nach England emigrieren, wo er politisch aktiv blieb und u.a. an Verhandlungen um eine engere Zusammenarbeit bürgerlicher und sozialdemokratisch-sozialistischer Exil-Kreise beteiligt war. Nicht zuletzt hierbei verankerte sich der Liberalismus angelsächsischer Provenienz im Weltbild nicht nur von Kluthe, sondern auch von anderen Emigranten: „In der grundsätzlichen Bereitschaft zum Konsens über alle politischen Parteigrenzen hinweg (unter Ausschluß rechts- und linksextremer Positionen) liegt ein entscheidendes Merkmal der Europa-Union, wurzelnd nicht zuletzt in den biographischen Erfahrungen ihrer Mitglieder“. (S. 256) Diesen „Westernisierern“ zur Seite standen Industrie- und Wirtschaftsvertreter aus dem Rhein-Ruhrgebiet, die die Westintegration Deutschlands deshalb unterstützten, um die Rückkehr Deutschlands auf den europäischen und Weltmarkt zu ermöglichen. Dieses Engagement besaß eine lange Kontinuität vor 1945 – schon in der Zwischenkriegszeit wurde von ihrer Seite versucht, wirtschaftliche Verflechtungen mit den westeuropäischen Handelspartnern voranzutreiben. Dieses genuin ökonomische Interesse verband sich beim späteren Präsidiumsmitglied der Europa-Union, Friedrich Carl von Oppenheim, mit der Erfahrung von Verfolgung und Unterdrückung durch den Nationalsozialismus. Besonders ihm lag „der Wunsch, ein ,besseres’ Deutschland in einem geeinten Europa zu verankern, […] am Herzen“ (S. 290).

Somit versammelten sich in der Bundesrepublik zum Teil ganz verschiedene Kräfte, die sich aus verschiedenartigen Gründen für die Europa-Union engagierten und somit die Verankerung des westdeutschen Staates unterstützten. Allerdings ging es „der Europa-Union nicht allein um die Werbung für den europäischen Einigungsprozeß, sondern um die Schaffung liberal-demokratischer, pluralistischer Gesellschaften in Europa und vor allem in Deutschland“ (S. 390). Mit dieser Zielsetzung war die Europa-Union, die seit den 1950er-Jahren zu einem modernen politischen Interessenverband avancierte, sehr erfolgreich. In Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Integrationsprozess vertrat sie „die ,funktionalistische’ Einigung mit einem Schwerpunkt auf wirtschaftlichen Aspekten“ (S. 353). Diese einflussreiche Position geriet im Laufe der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre allerdings ins Wanken, als sich die Europa-Union dezidiert gegen den staatenbündisch-intergouvernementalen Kurs de Gaulles aussprach und die „neue Ostpolitik“ affirmierte; sie verlor Anhänger und unter Konservativen wuchs das Bedürfnis nach einem eigenen Europa-Verband, den sie in der „modernisierten“ Paneuropa-Union fanden. Da aber auch diese den liberal-demokratischen und pluralistischen Grundkonsens darüber, wie Europa auszusehen habe, nicht negierte, schaffte das „Europa der Deutschen“ spätestens in den 1970er-Jahren seine „Ankunft im Westen“ (Axel Schildt).

Vanessa Conze hat mit ihrer Dissertation eine hervorragende, detailliert-subtile und prägnant formulierte Studie vorgelegt, deren Verdienst es nicht zuletzt ist, auf die nicht zu unterschätzende Rolle der Remigranten im Prozess der Westernisierung der Bundesrepublik hingewiesen zu haben.3 Zudem vermag es Conze deutlich darauf hinzuweisen, dass „Europa“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit zwar zu einem „Rettungsanker“ wurde, gleichsam aber nur langsam zu einer Alternative zum Ordnungsmodell der „Nation“ werden konnte: „Europa wurde aus der Nation heraus und von der Nation her gedacht.“ (S. 396) Abschließend sei aber, auch wenn dies den Gesamteindruck der Arbeit keineswegs trübt, die Frage aufgeworfen, ob es analytisch nicht fruchtbarer gewesen wäre, wenigstens hinsichtlich der abendländischen Idee auf Ludwik Flecks Denkstil-Konzept zurückzugreifen, um auf diese Weise deren über alle Transformationen und Anpassungen hinweg persistenten und nicht reflektierbaren ideellen Nukleus präziser herausarbeiten zu können.4

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa: Ziegenhofer-Prettenthaler, Anita, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger- und dreißiger Jahren, Köln 2004; Conze, Vanessa, Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas, Göttingen 2004; Conter, Claude D., Jenseits der Nation. Das vergessene Europa des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte der Inszenierungen und Visionen Europas in Literatur, Geschichte und Politik, Bielefeld 2004; Burgard, Oliver, Das gemeinsame Europa – Von der politischen Utopie zum außenpolitischen Programm. Meinungsaustausch und Zusammenarbeit pro-europäischer Verbände in Deutschland und Frankreich 1924-1933, Frankfurt am Main 2000.
2 Doering-Manteuffel, Anselm, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 12.
3 Ähnliches geleistet hat bislang die ebenfalls von Anselm Doering-Manteuffel betreute Dissertation von Julia Angster über die Westernisierung der deutschen Arbeiterbewegung: Angster, Julia, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003.
4 Vgl. hierzu Etzemüller, Thomas, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, bes. S. 268-295.

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