D. van Laak: Deutscher Imperialismus

Titel
Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
van Laak, Dirk
Erschienen
München 2005: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
229 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gesine Krüger, Neuere Geschichte, Universität Zürich

In der deutschen Geschichtswissenschaft ist in den letzten Jahren ein bemerkenswertes Interesse am Thema Kolonialismus festzustellen. Bemerkenswert deshalb, weil historisch orientierte Forschungsprojekte und Veröffentlichungen zu Afrika, Asien und Lateinamerika, die ab den 1970er-Jahren aus einer modernisierten Kolonialgeschichtsschreibung hervorgegangen sind, in der Fachwelt lange Zeit kaum Beachtung fanden. Themenfelder wie der Wandel von Verwandtschaftsstrukturen in der Moderne, Herrschaft und Gewalt, Geschichte und Erinnerung, die Zukunft der Stadt oder die Transformation von Agrargesellschaften – um nur einige Beispiele zu nennen – verlockten insbesondere in der Bundesrepublik nur wenige Historiker/innen dazu, den engen Rahmen Europas zu verlassen und zum Beispiel in vergleichender Perspektive sowohl die jeweiligen historischen Besonderheiten als auch die Verflechtungen von europäischer und „außereuropäischer“ Geschichte zu erkunden. Mit dem zunehmenden Bewusstsein, heute in einer globalisierten Welt zu leben, hat sich dies geändert.

Eine „Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaates“ 1 befasst sich nun auch mit der historischen Tiefe von Globalisierungsprozessen und hier setzt Dirk van Laaks Studie ein. Es geht ihm um Prozesse der „Weltaneignung“ und folgerichtig behandelt er Imperialismus auch nicht „nur als Teilgebiet der Außenpolitik und gleichsam als Entartungserscheinung der internationalen Beziehungen“ (S. 15). So ist auch der zeitliche Rahmen weit gespannt, von einem ersten Kapitel zu den „Strukturelementen des modernen Imperialismus“ im frühen 19. Jahrhundert bis hin zum Ende der Blockkonfrontation, die zu einer „Renaissance der Geopolitik“ geführt habe (S. 173). Selbstverständlich behauptet van Laak nicht, dass Deutschland nun als imperiale Macht wiedererstanden sei, doch weil er immer auch räumlich denkt, interessieren ihn die Neuordnung Europas nach dem Fall der Mauer ebenso wie die möglichen Nachwirkungen imperialistischer, „raumgreifender“ Denkmuster.

In seinem letzten, „Rückblick“ betitelten Kapitel schreibt der Historiker deutlich, dass er sein Buch nicht als Beitrag zur Imperialismus-Theorie versteht. Es geht ihm vielmehr darum, einen „Baustein zu einer sehr viel komplexeren Geschichte der weltweiten Vernetzung“ zu liefern. Damit ordnet sich das Buch in den Kontext seiner anderen Forschungen und Publikationen ein, etwa zur imperialen Infrastruktur in Afrika oder zu den sprichwörtlichen „weißen Elefanten“, also gescheiterten technischen Großprojekten. 2 Den Imperialismusbegriff versteht van Laak als „Kategorie, die historische Bewegungsabläufe beschreibt, wie etwa den Aufbau, die Verdichtung und die zunehmende Bedeutung weltweiter Vernetzung“, mithin als Teilaspekt der „Globalisierung“ (S. 12). Dabei bleibt sein Verständnis von Imperialismus sehr weit, bestimmt als „herrschaftlicher Versuch einer ‚Weltaneignung’, der das Eigene möglichst vorteilhaft mit dem Fremden in Beziehung zu setzen versucht und dabei die eigene Überlegenheit ausspielt“ (ebd.), jedoch in engeren Sinne an die Epoche gebunden, die den Begriff prägte, ohne jedoch bei den klassischen Zäsuren Halt zu machen. So behandelt das sechste Kapitel über den Wandel vom „nehmenden“ zum „gebenden“ Imperialismus 3 die Zeit nach 1945, denn „es waren fast alle Probleme, die das imperialistische Zeitalter geprägt hatten, auch nach 1945 noch präsent“ (S. 156). So blieb denn auch die politische Rhetorik in Ost und West zunächst in auffälliger Weise, weit über die Konflikte im geteilten Deutschland hinaus, dem imperialistischen Zeitalter verhaftet.

Die Kapitel zwei bis sechs sind weitgehend chronologisch aufgebaut. Nach einer Skizzierung der Vorgeschichte im zweiten Kapitel über den Weg zu einem „deutschen Indien“ folgt im dritten Kapitel die Phase der eigentlichen deutschen Kolonialherrschaft von 1884 bis 1918, als der „seit langem gedanklich vorbereitete Kolonisationswille in die Tat umgesetzt wurde“ (S. 70). Anhand dieser beiden Kapitel lässt sich zeigen, dass die große Stärke des Buches zugleich seine Schwäche birgt. Noch heute beginnen viele Darstellungen des deutschen Kolonialismus mit Bismarcks Ausspruch, dass mit ihm keine Kolonialpolitik zu haben sei, widmen sich dann in politischer Verengung der Lösung des Rätsels, warum Deutschland doch sein Imperium bekam, um dann mit dem Ende des Ersten Weltkrieg erleichtert auch das Kapitel Kolonialismus für Deutschland abzuschließen. Van Laak zeigt hingegen in großen Bögen und aus vielfältigen Blickwinkeln, dass Kolonialismus nicht allein Kolonialherrschaft bedeutet, sondern eingebettet ist in Prozesse, die sehr viel weiter zurückreichen und auch in Europa sehr viel länger andauern als bis zur Epoche der Dekolonisation. 4 Dabei gerät jedoch die andere Seite, die Perspektive der Kolonisierten und deren Periodisierung von Geschichte notwendig aus dem Blick. 1884 waren zum Beispiel im künftigen „Deutsch-Südwestafrika“ deutsche Missionare längst höchst einflussreich unter der afrikanischen Bevölkerung tätig, während sich eine wirkliche Kolonialherrschaft noch lange nicht durchsetzen konnte. Zwar erhebt das Buch keinerlei Anspruch darauf, afrikanische Geschichte zu behandeln, aber so bleiben die „Eingeborenen“ eben in klassischer Verkürzung auch in dieser sehr lesenwerten Studie Opfer und Objekte fremder Interessen.

Das vierte Kapitel behandelt die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. In diese Zeit fällt die Bewegung des Kolonialrevisionismus, der sich mit dem „Verlust“ der Kolonien, besiegelt im Versailler Vertrag, nicht abfinden mochte und später zeitweise auf Hitler und die NSDAP zählte. Die Kolonialliteratur boomte und blieb ein Hort imperialer Sehnsüchte, die sich nach dem „realen Bedeutungsverlust der fernen Kolonien“ (S. 109) auf wackere Helden und mannhafte Taten in fernen Ländern richteten. Auf politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene begann man jedoch auch die Vorteile des „frühen Verlustes“ der Kolonien zu realisieren, die sich abgesehen von privaten Investitionen wirtschaftlich ohnehin nie für das Kaiserreich ausgezahlt hatten. Hier ist eine frühe Wurzel der bis heute anhaltenden Rede vom kolonial unbelasteten Deutschland zu sehen, das sich mit dem Beginn der Entwicklungspolitik als ideale Mittlerin zwischen Europa und Afrika anpries.

Obwohl die Zeit des Nationalsozialismus „üblicherweise“, so van Laak, „nicht mit der Geschichte des deutschen Imperialismus verknüpft“ wird (S. 130), widmet er sich im fünften Kapitel den Jahren zwischen 1933 und 1945. In der Vorbereitung und Durchführung des Zweiten Weltkriegs sieht er, bei aller Eigenständigkeit, eine „übersteigerte Neuauflage“ des Ersten Weltkriegs und eine „Fortsetzung der imperialistischen Weltaneignung“ (ebd.). Auch in diesem Kapitel zeigt sich noch einmal, dass es ihm nicht darum geht, direkte Linien etwa von den ersten Forschungsreisenden über Weimar und den Zivilisationsbruch der Shoah bis in die Gegenwart zu ziehen, sondern unterschiedliche Facetten imperialistischer Ideologie und Praxis unter dem Begriff der „Weltaneignung“ zusammenzusetzen. Das Bild des Kaleidoskops drängt sich geradezu auf, wenn 185 Seiten ohne Anhang in 48 Unterkapitel und einen „Rückblick“ unterteilt sind. Trotz des ernsten Themas haftet den Buch so auch etwas Spielerisches an, man kann es „schütteln“ und sieht immer wieder ein anderes Bild. Damit empfiehlt es sich als Lesebuch, das theoretische und empirische Studien zu Imperialismus und Kolonialismus weder ersetzen kann noch will.

Anmerkungen
1 Osterhammel, Jürgen, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001.
2 van Laak, Dirk, Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999; Ders., Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas, 1880 bis 1960, Paderborn 2004.
3 Van Laak bezieht sich hier auf den Sozialphilosophen Alexandre Kojève, der nach 1957 einen Übergang vom „nehmenden“ zum „gebenden“ Kolonialismus diagnostiziert; siehe: Kojève, Alexandre, Kolonialismus in europäischer Sicht. Vortrag gehalten vor dem Rhein-Ruhr-Klub e.V. am 16. Januar 1957, in: Tommissen, Piet (Hg.), Schmittiana VII, Berlin 1999, S. 125-140.
4 Auch in den ehemaligen deutschen Siedlungskolonien in Afrika behielten die deutschen Farmer in der Regel nach 1918/19 ihr Land.