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Titel
Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik


Autor(en)
Fried, Johannes
Erschienen
München 2004: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
509 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Müllerburg, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Schiffsrümpfe schieben sich ineinander, schildbewehrte Kämpen fechten von Deck zu Deck. Aus dem Gewirr von Schiffsplanken, Leibern und Wellen tauchen da und dort das kaiserliche Adlerwappen und der venezianische goldene Löwe auf rotem Grund auf. Die Galeerenschlacht, wie sie der Maler Spinello Aretino Anfang des 15. Jahrhunderts auf den schwarzen Wellen vor Venedig sich abspielen ließ, stellt den Sieg der Lagunenstadt über die weit überlegene Flotte des Kaisers Friedrich Barbarossa im Jahre 1177 dar. Auf der Flucht vor dem Kaiser, so will es die Überlieferung, hätte sich Papst Alexander III. nach Venedig gerettet, dessen Herrscher er, nachdem sie ihn so glücklich beschützt hätten, als Vorkämpfer der Kirche bezeichnet und mit zahlreichen Privilegien ausgestattet haben soll. Doch die Seeschlacht mit all ihren von Aretino so liebevoll ausgestalteten Details und den angenehmen Folgen für die Dogen ist eine Mythe, eine dem kollektiven Gedächtnis „implantierte Erinnerung“. Das tat aber ihrem Fortleben unter der Maske historischer Wahrheit bis in die antipäpstlichen Polemiken Martin Luthers hinein keinen Abbruch.

Dass man sich einer Begebenheit erinnert, verbürgt allemal noch nicht deren historische Wirklichkeit. Diese Einsicht zwingt gerade jene Wissenschaft zur methodologischen Reflexion, die sich das Verständnis vergangenen Geschehens zur Aufgabe macht. Der Frankfurter Mediävist Johannes Fried hat in seinem jüngsten Buch „Der Schleier der Erinnerung“ diese Herausforderung angenommen. Er will darin, wie es im Untertitel heißt, „Grundzüge einer historischen Memorik“ entwickeln, die ergänzend zu den herkömmlichen Methoden der Geschichtswissenschaft hinzutreten und der es gelingen soll, den Schleier zu lüften und der Begebenheit ins Angesicht zu schauen.

Das Buch endet mit der Feststellung, ganz am Anfang zu stehen. Die „neurokulturelle Geschichtswissenschaft“ (S. 393), die Fried beabsichtigt, bedarf zunächst einer Sichtung jener Einflüsse, die dafür sorgen, dass Erinnerung kein authentisches Abbild der Vergangenheit ist. Dazu bedient sich Fried, mit der Zuversicht interdisziplinären Aufbruchs kulturwissenschaftliche Borniertheit überwindend, kognitions- und neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. An den Beginn seines Buches stellt er vier Fälle, die die Allgegenwart unzuverlässiger Erinnerung veranschaulichen, die uns Heutige nicht minder betrifft als die weitgehend oralen Gesellschaften der Antike und des Mittelalters. Die Geschichtswissenschaft habe dieser Tatsache allerdings bis in die Gegenwart hinein kaum Rechnung getragen. Diesem Übel zu steuern, tritt der systematische Teil der Arbeit an. Hier beschreibt Fried das Gedächtnis als ein Zusammenspiel natürlicher, d.h. durch den neuronalen Aufbau des Gehirns bedingter und kulturell durch Sozialisation, Weltbild und sprachliche Strukturierung etwa, geformter Erinnerungsprozesse. Vor diesem Hintergrund legt Fried in gut verständlicher, ja gefälliger Sprache und mit minuziöser, bisweilen in Redundanz umschlagender Ausführlichkeit seine These dar: Es gebe keine zwei identischen Erinnerungen, weil sowohl zwei Individuen ein und dasselbe Ereignis unterschiedlich wahrnähmen und daher unterschiedlich erinnerten als auch das Gehirn eines Individuums die Erinnerung mit jedem neuen Abruf verändere. „Erinnerung ist stets Gegenwart, nie Vergangenheit. Sie ist Schöpfung, Konstrukt.“ (S. 105) Jenseits aller bewussten Manipulation widerführen dem erinnerten Material Verformungen, die sich der Willkür des sich erinnernden Individuums entzögen.

Für die Betrachtung der Überlieferung, insbesondere oraler oder halbliterater Gesellschaften wie denen des Mittelalters, hat die Auffassung vom Erinnerungsakt als einer vielfach bedingten konstruktiven Leistung des Gehirns weitreichende Konsequenzen. Die Quelle wird zu einem kontingenten Produkt des launenhaften Neuronenfeuers. „Zehn Jahre früher oder später, morgens oder abends würde derselbe auf seine Erinnerungen angewiesene Chronist unter anderen Bedingungen schreiben, folglich sein Gedächtnis anders aktiviert und er selbst über das nämliche Geschehen jeweils anderes und auf andere Weise festgehalten haben, als er es zum Zeitpunkt seines Niederschreibens tatsächlich tat.“ (S. 138) Kaum eine Quellengattung, deren Anspruch, Vergangenheit getreulich zu überliefern, nicht vom „endlosen Strom sich wandelnder Erinnerungen“ (S. 232) fortgespült würde. Insbesondere gegenüber erzählenden Quellen, denen die Geschichtswissenschaft zumeist die Kenntnis historischer Zusammenhänge verdankt, ist Skepsis angebracht. „Alles, was sich bloß der Erinnerung verdankt, hat prinzipiell als falsch zu gelten.“ (S. 48) Auch die Diplomatik bleibt von diesem Postulat nicht verschont. Befragt man die Urkunde auf die Vorgeschichte des beurkundeten Rechtsaktes und nicht lediglich auf dessen bloßes Faktum hin, so wird man der narratio als Erzählung dieser Vorgeschichte die gleiche Skepsis entgegenbringen müssen wie auch anderen erzählenden Texten.

Es scheint daher, der Geschichtswissenschaft bliebe angesichts der Kontingenz des Überlieferten nichts, als es aufzugeben, das Goldkorn der wahren Begebenheit aus dem „Strom der Erinnerungen“ waschen zu wollen. Denn ganz gleich, welche Fortschritte die Neurowissenschaften noch machen werden – dem Historiker wird vom Schluckauf des Thietmar von Merseburg und den Verformungen, die dessen Chronik der Verkrampfung des Zwerchfells verdankt, keine Kunde zufallen. Der mannigfaltige Einfluss äußerer wie innerer, somatischer wie psychischer Reize erlaubt keine Aussage über die Art der Verformungen, die der Erinnerung widerfuhren. Sicher ist nur: Sie fanden statt. Diese bescheidene Wahrheit mag immerhin zu jener von Fried geforderten grundlegenden Skepsis führen, deren erneuter Befragung sich manches Zeugnis wird stellen müssen, dem mit dem Attribut der Neutralität auch das der Zuverlässigkeit allzu bereitwillig zuerkannt wurde. Neues, der Aufgabe der „Umwertung der erhaltenen Quellen“ (S. 385) gewachsenes quellenkritisches Werkzeug aber stellt das Buch keines zur Verfügung. Dass Vergleichsquellen die Verlässlichkeit eines Zeugnisses erhöhen oder zunichte machen können, dass die Zeit des beschriebenen Geschehens und die Zeit der Niederschrift zu unterscheiden sind, dass gesellschaftlicher Kontext, Bildungshorizont des Autors, legitimatorische Absichten bei der Interpretation einer Quelle beachtet werden müssen – das alles ist nichts wesentlich Neues. Auch dass vermeintliche Erinnerungen an ein nie geschehenes Ereignis im individuellen wie im kollektiven Gedächtnis installiert werden können, war zuvor bekannt.

Der Erfinder der historischen Memorik verwahrt sich aber gegen den Vorwurf, seine Methode sei rein destruktiv und lasse die ohnehin schon dünne Quellengrundlage der Mediävistik weiter abbröckeln. Er sieht vielmehr Erkenntnisgewinne winken, ja die Geschichtswissenschaft auf dem Weg zu neuen „Forschungsfelder[n] [...], die bislang unbetretbar waren“ (S. 390). Als Ertrag dieser historiografischen Neulandgewinnung nennt er Fragen der kulturellen Zuweisung des Sinns, der Kommunikation des Wissens, kurz: den „gesellschaftlich bedingten Formierungsprozeß des kulturellen Gedächtnisses“ (S. 388). Gesellschaftliche Bedingtheit aber interessiert die historische Memorik nur, soweit sie für den neuronalen Aufbau des Gehirns in der Kindheit verantwortlich ist. „Die Kindheit bietet den Schlüssel zu aller kulturellen Entfaltung; in ihr werden die Erinnerungsweisen eingeübt, [...] die dann das Bewusstsein des Erwachsenen lenken und ein Leben lang vorhalten müssen.“ (S. 392) Ein solch statisches Modell fällt hinter die bereits gewonnene Einsicht zurück, dass Erinnerung ein Akt ist, der in der Gegenwart stattfindet und dessen Bedeutung und Form vom gegenwärtigen Erleben des sich erinnernden Individuums mitbestimmt werden.

Der Weg, auf dem die Memorik ihr Ziel, die gedächtnisbedingten Verformungen erzählender Quellen sichtbar zu machen, erreichen könnte, wäre daher nicht so sehr die Geschichte der Kindheit, für die Fried plädiert, als vielmehr die Analyse der historischen Bedingungen, unter denen die Menschen sich erinnern. In solchen Fragestellungen allerdings trifft sich die Gedächtniskritik mit diskursanalytisch orientierten Techniken und muss sich daher fragen lassen, welchen spezifischen Erkenntnisgewinn sie ihnen gegenüber zur Verfügung stellt. Eine Auseinandersetzung mit dem Diskursbegriff und der aus ihm hervorgegangenen geschichtswissenschaftlichen Methode wehrt Fried jedoch durch den Einwand ab, das Gedächtnis sei, wie für alle gesellschaftlichen Phänomene, so auch für jeglichen Diskurs grundlegend. „Keine Sprache dient ursprünglich [...] Diskursen; jede vielmehr der hirninternen, neuronal enkodierten symbolischen Repräsentation äußerer Wirklichkeit und der Kommunikation über dieselbe.“ (S. 132) Indem Fried den Diskurs nur als kommunikativen Prozess auffasst, eskamotiert er aus dessen Begriff die überhaupt erst Erkenntnis- und damit Erinnerungsobjekte schaffende Funktion. Unter den Begriff der Kultur gefasst, wird die Relevanz diskursiver Praktiken lediglich für den neuronalen Aufbau des Gehirns, nicht aber für die Aktualität des Erinnerungsaktes gesehen und zu Ende gedacht.

In dieser Lesart schmilzt der Vorsprung dahin, den Frieds Memorik gegenüber herkömmlichen historiografischen Methoden zu haben schien. Denn da die Kontingenz neuronaler Abläufe der Geschichtswissenschaft die Erkenntnis des natürlichen Momentes des Erinnerns versperrt, die Fragen aber, die an sein kulturelles Moment zu richten wären, mit diskursanalytischen Mitteln zu stellen, vielleicht auch zu beantworten sind, bleibt vom großen Entwurf einer Memorik, allen Bekenntnissen zum Konstruktiven zum Trotz, wenig mehr als die grundlegende Skepsis gegen die Quellen. Doch können ja auch die „Umwertung der Quellen“ und das „Eingeständnis des überlieferungsbedingten Nichtwissens“ (S. 385) treibende Kräfte geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts sein.

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