S. Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum

Titel
Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg


Autor(en)
Lässig, Simone
Reihe
Bürgertum
Erschienen
Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
784 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uffa Jensen, History Department, University of Sussex

Simone Lässig hat mit ihrer Studie zur Verbürgerlichung der deutschen Juden im 19. Jahrhundert ein Standardwerk geliefert. In der höchst fruchtbaren Verbindung der Forschungen zum deutschen Judentum einerseits und zum deutschen Bürgertum andererseits setzt die Arbeit neue Maßstäbe. Lässigs Ausgangsfrage ist einfach: Wie lässt sich der wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aufstieg der deutschen Juden in das Bürgertum erklären? Dies ist in der Tat höchst erklärungsbedürftig, weil sich keine vergleichbare Gruppe in Deutschland derart erfolgreich verbürgerlichte und sich in dieser Bürgerlichkeit zugleich der spezifische Charakter des deutschen Judentums im europäischen Vergleich manifestierte. Der Untersuchungszeitraum ergibt sich hierbei automatisch: das Zeitalter der Emanzipation von den 1780er-Jahren bis zur Reichsgründung 1871. Im Zentrum stehen die vor 1840 geborenen Juden.

Lässig grenzt sich mit ihrer Arbeit zum einen gegenüber der herkömmlichen Bürgertumsforschung ab. Da hier bürgerliche Juden lange keine Rolle gespielt haben, hilft ihre Arbeit eine Forschungslücke zu schließen. Innerhalb der jüdischen Historiografie wendet sie sich gegen die immer noch gängigen Vorstellungen von Akkulturation und Assimilation. Diese implizieren in der Regel eine Anpassung der jüdischen Minderheit an eine fixierte Mehrheitskultur; sie ignorieren die im Judentum selbst schlummernden Potenziale einerseits und entwickeln andererseits keine Vorstellung von den Veränderungen, welche die vermeintlich fixierte „Umgebungskultur“ durch die Akkulturation durchmacht. Für ihre Fragestellung modifiziert Lässigs Pierre Bourdieus Überlegungen zum Kapitalbegriff und zum Habituskonzept, wobei sie insbesondere kritisiert, dass sein Modell zu statisch ist und kulturellen Wandel wie denjenigen, den sie beschreiben möchte, nicht berücksichtigen kann. Sie betont dagegen, dass unterschiedliche Kapitalformen nicht nur ineinander konvertiert werden können, sondern in Zeiten des Umbruchs ein Mangel in einer Form durch eine andere kompensiert werden kann: Juden, die ihrem ökonomischen Kapital entsprechend noch keine Bürger waren, konnten dies bereits durch ihren kulturellen Habitus suggerieren.

Lässig identifiziert drei Kernbereiche, welche die erfolgreiche Verbürgerlichung der deutschen Juden ermöglicht und geprägt haben: Bildungswesen, religiöse Praxis, Öffentlichkeit. Generell arbeitet sie dabei sehr klar eine zentrale These heraus: Die staatlichen Emanzipationsvorgaben können den Veränderungswillen der Juden und den erfolgten Wandel nicht ausreichend erklären; diese mussten auf Mobilisierungsfaktoren beruhen, die aus dem Judentum selbst stammen. Dass Lässig hierbei den Veränderungsdruck, der sich aus dem vermehrten Kontakt von Juden und Nichtjuden ergab, weitgehend außer Acht lässt, ist ein Problem, das es noch zu erörtern gilt. Gut begründet ist ihr Ansatz zunächst allemal: Nur so wird der Blick frei für die spezifisch innerjüdischen Modernisierungskräfte und die problematischen Fragen nach Assimilation, Integration und Akkulturation werden umgangen. Die Sozialisationsinstanzen Schule, Synagoge und Öffentlichkeit stehen nun nicht von ungefähr im Zentrum: Gerade weil sie das traditionelle Judentum lange Zeit zu stabilisieren und (relativ) abzuschotten geholfen haben, musste jede tiefgreifende Veränderungen in den Lebens- und Mentalitätsweisen bei ihnen ansetzen. In ihnen musste der bürgerliche Habitus heranreifen und zugleich stabilisiert werden.

Wie fruchtbar diese Herangehensweise ist, erweist sich nicht zuletzt an der großen Zahl von beachtenswerten Thesen, die Lässig erarbeitet. Hier sollen die wichtigsten fünf kurz vorgestellt werden. Um die Differenzen zu den Wegen anderer europäischer Judentümer in die Moderne zu verdeutlichen, verweist die Verfasserin erstens auf den – ihrer Ansicht nach – nur in Deutschland wirksamen Ansatz der konditionalen Emanzipationspolitik, wonach die verschiedenen deutschen Staaten ihren jüdischen Einwohnern Emanzipationsfortschritte nur im Austausch für erfolgte Anpassungsleistungen an staatliche Vorgaben (wie die Veränderung der jüdischen Berufsstruktur, das Erlernen der deutschen Sprache etc.) gewährten. Die geltende Forschungsmeinung modifizierend, der zufolge mit dieser Politik die „Judenfrage“ ungebührlich lange am Leben erhalten wurde und damit unter den Nichtjuden der Blick auf die Besonderheiten und „Mängel“ der Juden geschärft blieb 1, verweist Lässig auf ihr verbürgerlichendes Potential. Nur die deutsche Erziehungspolitik verpflichtete die Juden auf eine Modernisierung ihrer Lebenswelt. Für Lässig liegt hier einer der Ursprünge für die doppelte Sonderrolle der deutschen Juden in Europa: der hohe Grad ihrer Verbürgerlichung und ihre Bemühungen um eine Reform der jüdischen Religion.

Von der Emanzipationspolitik angestoßen, von den Juden aber kreativ aufgegriffen, erwiesen sich zweitens Bildungsfragen und insbesondere die Entwicklung eines modernen Schulwesens als zentral für die jüdische Verbürgerlichung. Ein weiteres bedeutsames Argument in diesem Zusammenhang ist die Betonung der jüdischen Reformschulprojekte. Diese seit dem Ende des 18. Jahrhundert in Zentren der jüdischen Aufklärung eingerichteten Institutionen seien in der Forschung häufig vernachlässigt worden, da man sie als Schulprojekte für Kinder aus bedürftigen Familien für wenig einflussreich und zudem chronisch unterfinanziert hielt. Lässig bricht radikal mit diesem Urteil und weist den jüdischen Freischulen eine zentrale, ja vielleicht die zentralste Position in der Modernisierungsgeschichte der deutsch-jüdischen Lebenswelt zu. Sie zeigt, wie zukunftsweisend es war, gerade die sozial schwächeren Teile der Gemeinden an moderne bürgerliche Bildungskonzepte heranzuführen. Hierin sieht sie zudem einen gewichtigen Unterschied zum christlichen Umfeld: Gerade weil sie den staatlichen Bildungsdruck in ein sozial egalitäres Projekt umwandelten, eigneten sich die Juden die Bildungsemphase flächendeckender und zugleich erfolgreicher an. Der Wunsch nach einer Verbürgerlichung aller Juden war keineswegs altruistisch, sondern besaß einen politischen Hintergrund: Nur mit einer möglichst kompletten Verbürgerlichung aller ließen sich die Vorbehalte in der Gesellschaft gegen die Juden und ihre Emanzipation beseitigen.

Auf dem Gebiet der Religion hebt Lässig drittens die Sonderrolle der deutschen Juden in religiöser Hinsicht hervor: „Es waren die deutschen Juden, die ein modernes Judentum erfanden, das später in seinen verschiedenen theologischen Ausprägungen auch auf andere Länder Europas und vor allem auf die USA ausstrahlte.“ (S. 247) Eine entscheidende Rolle spielte dabei das Wechselverhältnis von Religion und Bürgerlichkeit: Die Formen traditioneller Religiosität erschienen als reformbedürftig, weil sie nicht mit bürgerlichen Werten und Lebensweisen vereinbar waren. Zugleich stabilisierte die Reformfähigkeit der jüdischen Religion wie wohl kaum ein anderer gesellschaftlicher Teilbereich die neuartige Ausrichtung jüdischen Lebens auf den bürgerlichen Habitus. Das religiöse Feld wurde zur „Schaltstelle der Verbürgerlichung“ (S. 243). Der verbürgerlichende Einfluss zeigte sich u.a. in der Ästhetisierung des jüdischen Ritus. Während Eingriffe in die jüdische Religionsgesetze, die Halacha, in den Reformansätzen eher selten vorgeschlagen wurden, wie Lässig ebenfalls in Abgrenzung zu einer Reihe von älteren Forschungsansätzen argumentiert, versuchte man viel stärker jene Praktiken zu beseitigen, die bürgerlichen Geschmacksvorstellungen widersprachen, bzw. neue, ihnen entsprechende einzuführen. In der somit entstehenden „Bürgersynagoge“ (S. 260) wandelte sich zugleich grundlegend die Bedeutung von Religion: „Die Akzente verlagerten sich damit von einer extern vorgeformten Frömmigkeitspraxis zur Individualität des Glaubenserlebnisses, zu Erbauung, moralischer Belehrung und emotionaler Stärkung.“ (S. 275) Lässig sieht in diesen Veränderungen keinen Beleg für eine unterwürfige Anpassung an protestantische Modelle; darin sei vielmehr ein ernsthafter und autonomer Versuch der deutschen Juden zu sehen, ein neues, bürgerliches Lebensgefühl mit ihren religiösen Traditionen zu vereinbaren.

Der Ästhetisierung der Rituale standen Bemühungen um eine Historisierung des Judentums zur Seite. Im Rahmen der neubegründeten Wissenschaft des Judentums wie auch im weiteren Umfeld der zeitgenössischen Auseinandersetzungen ging es immer wieder um die Legitimierung der Veränderungen durch historische Analogien. Das Judentum erschien dabei nicht mehr als eine unveränderliche Gesetzespraxis, sondern als eine dem historischen Wandel unterliegende Religion, die stets Reformen erlebt und sich dadurch erhalten habe. In dieser so bürgerlichen Erfindung einer jüdischen Tradition lag, so Lässig, ein weiteres Erfolgsrezept für die Reformen begründet. Sichtbar wurden Ästhetisierung und Historisierung insbesondere in den deutschsprachigen Predigten, die neu in den jüdischen Gottesdienst eingeführt wurden. Hiermit vermittelte man – wie Lässig ausführlich darlegen kann – insbesondere bürgerliche Tugenden in die Gemeinde hinein. In den Predigten und darüber hinaus entdeckt Lässig zudem eine Tendenz zur Feminisierung der Religion. Während im traditionellen Judentum die Rolle der Frau eher unbedeutend war, trat sie nun als neue Priesterin des Hauses stärker in den Blickpunkt. Damit wurden zugleich ihre Bildungsvoraussetzungen wichtiger: Mädchenbildung wurde schnell auch von der Orthodoxie akzeptiert. Generell betont Lässig – und dies ist ein weiterer Kern ihrer These von der jüdischen Bürgerreligion – waren gerade durch die Verbürgerlichung beachtliche strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen religiösen Strömungen im sich ausdifferenzierenden Judentum entstanden: Orthodoxe und Reformer mochte religiös viel Ideologie voneinander trennen; gemeinsam verfügten sie über einen bürgerlichen Habitus, der eben auch ihre Religionsinterpretationen ähnlicher machte, als ihnen vielleicht bewusst war.

Bei ihrer Analyse des Strukturwandels der jüdischen Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert hebt Lässig viertens vor allem die Bedeutung der Bindestrich-Existenz des Bürger-Juden hervor. Auch wenn über diese Öffentlichkeit ebenfalls wichtige Verbürgerlichungsimpulse gerade auch außerhalb der Synagogen lanciert wurden, lässt sich das Entstehen einer – allerdings nur teilintegrierten – jüdischen Öffentlichkeit in Deutschland, die ebenfalls im internationalen Vergleich einzigartig dasteht, nur verstehen, wenn es ein ausreichend großes Bedürfnis nach jüdischen Lesestoffen und Debatten gab. Mit Bezug auf das jüdische Vereinswesens hält Lässig die These der Subkultur, wonach Juden jüdische Parallelvereine gegründet hätten, weil sie in den allgemeinen Vereinen nicht erwünscht gewesen seien, zumindest für ergänzungsbedürftig.2 Juden hätten sich durchaus bewusst in ihren eigenen Vereinen und unter ihresgleichen vergemeinschaften wollen und damit zugleich ein jüdisches „Laboratorium der Bürgerlichkeit“ (S. 518) geschaffen. Erst in ihrem letzten Kapitel diskutiert Lässig die soziale und berufliche Mobilität von Juden. Ihre fünfte zentrale These kommt bereits in dieser Gliederung zum Ausdruck: Der sozioökonomische Aufstieg der Juden führte nicht zur kulturellen Verbürgerlichung, sondern, umgekehrt, die beachtliche soziale und wirtschaftliche Besserstellung der Juden im Kaiserreich basierte auf einer kulturellen Kapitalakkumulation in den Jahrzehnten zuvor. Anhand von individuellen Biografien arbeitet sie hier schließlich ein idealtypisches Modell des sozioökonomischen Aufstiegs durch kulturelle Verbürgerlichung (S. 616) heraus, das Juden über zwei, drei Generationen schließlich ins Bürgertum, nicht selten gar ins Zentrum der bürgerlichen Eliten führte.

Die bemerkenswerte Breite der Studie soll hier nicht unerwähnt bleiben. Die Arbeit verdeutlicht ihre Thesen durch 40 Tabellen und 17 Diagramme, die Bibliografie umfasst fast 60 Seiten, die Liste berücksichtigter Archive ist beeindruckend. Die Vielfalt der verwendeten Quellenarten ist ebenfalls imponierend: Analysen von Schulbüchern (S. 137-145), von Synagogenordnungen (S. 265f.), Predigten (S. 290-325), Subskribentenlisten (S. 449, 487-493) u.ä. Ergänzt wird dies durch sehr interessante, thematisch orientierte biografische Skizzen zu bekannteren Persönlichkeiten wie Julius Rodenberg (S. 214ff.) oder Moritz Lazarus (S. 217, 620), aber auch unbekannteren wie Louis Lesser (S. 224ff.) oder Sekel Levi (S. 186f.). Lobenswert ist zudem der durchgängige Versuch, die allgemeinen Thesen auf Gemeinde- und gar individueller Ebene zu überprüfen. Dies stellt sicher, dass normative Texte der jüdischen Meisterdenker, aber auch staatliche Vorgaben oder allgemeine sozioökonomische Veränderungen in ihrer Alltagsrelevanz beurteilt werden können, wodurch überhaupt erst die Verbürgerlichung der deutschen Juden in all ihren Konturen und Dimensionen sichtbar wird.

Gerade weil die Verdienste dieser Studie groß sind, fordert sie mich zu einer eingehenderen, auch kritischen Überprüfung der Thesen heraus.3 Zentral ist dabei die Frage, wie stark man auch im Falle der jüdischen Verbürgerlichung die fundamentalen Aporien und Ambivalenzen des bürgerlichen Projektes berücksichtigen muss. Eine Schwäche der ursprünglichen Bürgertumsforschung legt hingegen die Studie – man ist geneigt hinzuzufügen: ein weiteres Mal – klar offen: Ohne kulturgeschichtliche Erweiterung lässt sich gerade der Aufstieg der Juden in das deutsche Bürgertum einfach nicht begreifen; eine sozioökonomische Betrachtungsweise, entlang von Einkommensstruktur und Berufslage, erklärt das Phänomen eben nicht. Auch dass mag ein Grund gewesen sein, dass sich die deutsche Sozialgeschichte lange Zeit mit diesem Fall so schwer tat. Der allerdings in den letzten Jahren aus dem Scheitern der sozialgeschichtlichen Analyse des Bürgertums entstandene Versuch, die Modernisierungspotentiale des Bürgertums hin zur Zivilgesellschaft zu verklären und die tiefgreifenden Schwächen des bürgerlichen Projektes in den Hintergrund treten zu lassen, bleibt zu hinterfragen.4 Eine historische Studie, die sich der „ebenso außergewöhnliche[n] wie prekäre[n] Erfolgsgeschichte“ (S. 668) der sich verbürgerlichenden Juden widmet, wäre ein interessanter, wenn nicht gar der vorzüglichste Testfall, um das Verhältnis von Licht und Schatten am bürgerlichen Wertehimmel zu überprüfen.

Tendenziell möchte Lässig die besondere Fähigkeit der Juden betonen, ein eigenes bürgerliches Projekt zu begründen, das zwar durch die konditionale Emanzipationspolitik angestoßen wurde, dann aber weitgehend autonom von jüdischer Seite kreativ ausgestaltet wurde. Das hat vieles für sich; zugleich droht dabei die Gefahr, die deutschen Juden wieder aus den Wirkungszusammenhängen und Alltagsbeziehungen des deutschen Bürgertums zu reißen. Das mag nicht Lässigs Intention entsprechen, aber das Bild, das sie mit vielen guten Argumenten liefert, legt eben doch nahe: Nachdem sie die Vorstellungen der Beamtenschaft aufgegriffen hatten, modernisierten sich die Juden im quasi-luftleeren Raum. Hier hätten die veränderungsrelevanten Beziehungen von bürgerlichen Juden und Nichtjuden auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts stärker berücksichtigt werden müssen. Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: Bei der inhaltlichen Auswertung des deutschsprachigen Predigten kann Lässig die verbürgerlichenden Effekte dieser neuen religiösen Praktik überzeugend zeigen. In diesem Zusammenhang (S. 304) kommt sie auch auf die besondere Bedeutung von Zurückhaltung und Bescheidenheit als Leitwerte zu sprechen, welche die Prediger ihren Gemeindemitglieder immer wieder ans Herz legten. Lässig bemerkt zu Recht, wie wichtig dieses Ideal gerade für Juden im Umgang mit ihrer nichtjüdischen Umwelt war. Sie sieht darin aber nur eine jüdische Internalisierung der von der Beamtenschaft einmal aufgestellten Normen. Hier haben doch die im Alltag regelmäßig erhobenen, nicht selten antisemitisch geprägten Forderungen von nichtjüdischen Bürgern, sich nicht so aufdringlich zu verhalten, eine beständige und damit nachhaltigere Wirkung entfaltet. Dass Juden diese Ansprüche dann umformten, wofür die Predigten gute Beispiele liefern, bleibt gleichwohl unzweifelhaft. Bürgerlichkeit wurde dennoch beharrlich an die Juden herangetragen, auch und gerade in Form von Vorwürfen, bürgerlichen Verhaltensmustern eben nicht zu genügen.

Erst durch die Beziehungen von bürgerlichen Juden und Nichtjuden problematisiert sich das Projekt der Verbürgerlichung. Dass sich Lässigs Studie weniger für die kritischen Aspekte des bürgerlichen Projektes interessiert, hängt zum einen mit ihrer Fragestellung zusammen: Sie untersucht vornehmlich diejenige, die es ins Bürgertum geschafft haben – und das ist natürlich legitim und wichtig. Zum anderen jedoch erweist sich hierfür ihre Anwendung von Bourdieus Überlegungen in zwei Punkten als hinderlich. Während Lässig das Problem der Wandelbarkeit eines Habitus einleuchtend löst, bleibt jedoch die Frage nach der Abgeschlossenheit des bürgerlichen Habitus: Wenn Juden vornehmlich – angestoßen durch die Vorgaben der aufgeklärten Beamtenschaft – unter Rückgriff auf endogene Traditionen und vornehmlich unter ihresgleichen Bürgerlichkeit lernten und sich anverwandelten, wieso erwarben sie dann die gleiche Bürgerlichkeit wie Nichtjuden? Wurden die Juden vielleicht gar nicht in „das“ Bürgertum hinein sozialisierten? Entstand nicht vielmehr ein eigenes jüdisches Bürgertum? Dies würde dann auch diejenigen Schwierigkeiten der jüdischen Verbürgerlichung radikalisieren, die sich für Lässig lediglich aus einem „Übermaß an Bürgerlichkeit“ (S. 668) aufseiten der Juden ergaben.

Eine weitere Überlegung stellt das Problem nichtobjektivierbarer Distinktion dar: Der soziale Aufsteiger verkörpert – und insoweit inkorporiert Lässig Bourdieus Ausführungen zum Distinktionspotential eines kulturellen Habitus – eine reale Möglichkeit des sozialen Zusammenlebens: Ein Aufsteiger ist, wer es ökonomisch schon geschafft hat, aber über die notwendigen kulturellen Eigenschaften noch nicht verfügt und daher als Parvenü gebrandmarkt werden kann. Die Verbürgerlichung der Juden war laut Lässig erfolgreich, weil sie es verstanden, ihren Aufstieg kulturell abzusichern und damit dem Verdikt, Parvenüs zu sein, tendenziell entkommen konnten. Gleichwohl sollte man die Figur des Aufsteigers als eine Möglichkeit im kulturellen Imaginationshaushalt einer Gesellschaft verstehen. Hier offenbart sich eine ganz andere Distinktionsdimension, die über eine – im Bourdieuschen Sinne – objektivierbare Kapitalgröße weit hinausgeht. Wie will ein sozialer Aufsteiger letztlich nachweisen, über genügend kulturelles Kapital zu verfügen? Ist es jemals genug, wenn man in einer sozialen Gruppe neu ankommt? Wenn nicht, reicht es bei den Kindern, den Enkeln oder gar nie? Bürgerliche Kultur konnte eben auch dazu benutzt werden, Distinktionen immer weiter zu treiben, auch über den Zeitpunkt hinaus, wo sie in der sozialen „Realität“ noch „messbar“ waren. Trotz und gerade wegen des großen Erfolges der Verbürgerlichung der Juden blieb stets die Möglichkeit, sie in der bürgerlichen Kultur als unbürgerlich zu denunzieren.

Aus diesen beiden Lücken im Bourdieuschen Konzept ergibt sich eine weitergehende Fragestellung: Wodurch lassen sich die Spannungen zwischen bürgerlichen Juden und Nichtjuden erklären? Lag es an der spezifischen Form der Verbürgerlichung, d.h. an der Tatsache, das Juden eine eigenständige Version des bürgerlichen Projektes entwickelten, die Unterschiede zu nichtjüdischen Bürgern reproduzierte? Oder lag der Urgrund der Problematisierungen in nichtjüdischen Distinktionsbemühungen, wodurch – gegründet auf der Exklusivität der Bürgerlichkeit – sich verbürgerlichende Juden niemals bürgerlich genug werden konnten? Oder galt beides, aber in welcher Form? Jede Untersuchung, die sich solchen Fragen zuwenden sollte, wird auf jeden Fall das Werk von Simone Lässig, das 2004 berechtigterweise den Habilitationspreis des deutschen Historikerverbandes erhalten hat, nicht ignorieren können. Im Gegenteil, es wird von nun an den Ausgangspunkt für neuere Analysen des deutschen und gar europäischen Judentums im 19. Jahrhundert darstellen.

Anmerkungen:
1 Diesen Zusammenhang hat vor allem herausgearbeitet: Rürup, Reinhard, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur "Judenfrage" der bürgerlichen Gesellschaft (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 15), Göttingen 1975.
2 Vgl. zu der entsprechenden These: Sorkin, David, The Transformation of German Jewry, 1780-1840, New York 1987.
3 In meiner eigenen Studie habe ich eine andere Perspektive zu entwickeln versucht: Jensen, Uffa, Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 167), Göttingen 2005.
4 Vgl. zu entsprechenden Überlegungen: Kocka, Jürgen, Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: Hildermeier, Manfred; Kocka, Jürgen; Conrad, Christoph (Hgg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen, Frankfurt am Main 2000, S. 13-40; Wehler, Hans-Ulrich, Die Zielutopie der "Bürgerlichen Gesellschaft" und die "Zivilgesellschaft" heute, in: Lundgreen, Peter (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986-1997), Göttingen 2000, S. 85-92.

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