Cover
Titel
'Anthrax'. Bioterror als Phantasma


Autor(en)
Sarasin, Philipp
Reihe
es 2368
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
€ 9,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan A. Keller, Zürich

Politik als «Seuchenkontrolle»

Welcher Kulturwissenschaftler würde es sich nicht wünschen, dass seine Publikationen auf spürbare (massen-)mediale Resonanz stossen? Dem Zürcher Professor für Geschichte Philipp Sarasin, der sich als Vertreter einer diskurstheoretisch fundierten Geschichtswissenschaft einen Namen gemacht hat1, ist dies mit seiner neuesten Publikation «‹Anthrax›. Bioterror als Phantasma» gelungen. Das Buch wurde nicht nur in Fachzeitschriften und einschlägigen Foren rezensiert, sondern auch von vielen Tages- und Wochenzeitungen eingehend diskutiert. Und dies nicht nur weil Sarasin ein hochaktuelles Thema – die Terrorattacken in den USA – aufgreift.

Es handelt sich – so der Autor – um keine historische Untersuchung, sondern um einen in essayistischer Form gehaltenen Versuch, politische Vorgänge einem «kulturwissenschaftlichen – und damit auch historischen – Blick auszusetzen» (S. 9). Den ereignisgeschichtlichen Ausgangspunkt des Essays stellen die Anschläge des 11. September 2001 auf das World Trade Center und die unmittelbar darauf folgenden Briefanschläge mit Anthrax-Sporen dar. Sarasin fragt nach den Zusammenhängen dieser Ereigniskette, weisen doch die Anschläge auf das World Trade Center keinerlei Verbindung zu Bioterror auf. Dennoch wurde diese Verbindung von der US-Regierung und auch in den Medien hergestellt. Die Verknüpfung dieser Ereignisse ist für Sarasin kein Zufall: Diese Möglichkeit liegt in einer diskursiven Vorurteilsstruktur des Westens begründet, dessen zentraler metaphorischer Kern die «Infektion» darstellt. Dabei handelt es sich um eine Reihe von tiefverwurzelten Bildern, die das «westliche Imaginäre» seit dem 19. Jahrhundert heimsuchen. Bioterror oder konkreter «Anthrax» ist für Sarasin deshalb nicht nur eine Bezeichnung für den terroristischen Einsatz von Biowaffen, sondern eine Metapher für eine «gefährlich[e] und hochgradig infektiös[e]» Bedrohungsimagination (S. 14). «Anthrax» macht dieses Narrativ wahr und offenbart somit seinen phantasmatischen Kern. Die USA hätten die Anthrax-Briefe erwartet, als eine Kultur, «die den Bioterror träumt» (S. 16). Bioterror oder die Angst vor der Infektion erscheint als neues Dispositiv der Macht im Zeitalter der Globalisierung. «Anthrax» war somit auch mitentscheidend für die Kriegseinsätze in Afghanistan und dem Irak.

Für Sarasins diskurstheoretische Perspektive zentral ist seine Annahme, dass «Bilder und Fiktionen, Phantasmen und Träume Wirklichkeit formen» (S. 9). Im Falle von «Anthrax» wird dies durch die sog. «Signifikantenkopplung» ermöglicht: (Faktische) Evidenz erzeugt sich durch ständige Wiederholung bestimmter Signifikanten. «Anthrax» wird nach den Anschlägen von zwei Signifikanten supplementiert: «Bioterror» und «weapons of mass destruction». Der Versuch, etwas zu bezeichnen, gelingt laut Sarasin sehr viel besser, wenn Signifikanten mit anderen Signifikanten, die ihre «Wahrheit» schon unter Beweis gestellt haben, gekoppelt oder durch diese ersetzt werden. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center versucht die amerikanische Kultur den Riss zwischen Ereignis und Sprache zu kitten, d.h. das Ereignis in bekannte diskursive Formen zurückzuholen. Der Rekurs auf eine tödliche, unsichtbare Bedrohung, die Infektion von aussen erscheint in der Folge als in Erfüllung gegangener Wunschtraum. Um diese Analogien zu untermauern, rekurriert der Autor sowohl auf Beispiele des amerikanischen (populären) Kulturschaffens (Musik, Literatur) als auch auf historische Ereignisse und Prozesse wie Antisemitismus, den Giftgaskrieg des ersten Weltkriegs, die Lebenskampfmetaphorik der im 19. Jahrhundert etablierten Bakteriologie oder die daran anknüpfende Ideologie des (rassisch) reinen «Volkskörpers», die sich durch eine scharf ausgrenzende Innen-Aussen-Dichotomie auszeichnet. Im 20. Jahrhundert erreichen diese sprachlich geformten Imaginationsbilder die gesamtgesellschaftliche Ebene: «Die Utopie der Säuberung, das Phantasma der Reinheit und die Angst vor der Vergiftung des Gesellschaftskörpers begleiteten alle politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts.» (S. 158)
Das Phantasma der Reinheit etabliert sich als «Basis-Code» der politischen Sprache: «Der Basis-Code ist ein kleines Stück Sprache, eine kurze Signifikantenkette, ein wenig Semantik, ein paar einfache Regeln für metaphorische Verschiebungen und zwei, drei Anwendungsinstruktionen, mehr nicht.» (S. 158f.) Das Phantasma befördert ein biologisiertes Bild von Politik bzw. einen politischen Traum der Disziplin(ierung), den die westlichen Kulturen seit der Epoche der Aufklärung träumen.

Wer sich mit einem tagespolitisch so aktuellen Thema wie den Ursachen und Beweggründen des «war on terror» der US-Regierung befasst, kommt nicht umhin, dass man von ihm Erklärungsangebote oder politische Stellungnahmen erwartet. Auch Sarasin beschäftigt sich mit den Ursachen und Beweggründen, wendet sich aber dezidiert gegen «simple Verschwörungs-Theorien» (S. 124). Er bezeichnet die Handlungen der US-Regierung als «hysterisch» (S. 68), deren Akteure als gefangen im Phantasma der Reinheit. Nur der Basis-Code der Sprache verbleibt als vermeintlich mächtiger Akteur, der seine Existenz aber den sprechenden und handelnden Subjekten verdankt. Somit verbleibt schlussendlich das Fiktionale, Imaginierte als Kern der Realität.

Der (allfällige) Wunsch der Leserschaft nach (einfachen) Erklärungen wird daher nicht befriedigt. Sarasin bietet keine klassischen Erklärungsszenarien an. Zwar betreibt er selbst eine gewisse Art von Signifikantenkopplung, indem er die Falken im Pentagon als treibende Kraft im diskursiven Spiel um das Phantasma der Reinheit darstellt, die so ihre Ziele zu verwirklichen suchen, und bedient so eine Spielart von intellektuellem Antiamerikanismus und Antimilitarismus.

Auch um eine deutliche politische Stellungnahme ist Sarasin – leider erst ganz am Schluss des Essays – nicht verlegen: «Die Aufgabe der Kulturwissenschaft ist es […], zu verhindern, dass Politik zur Seuchenkontrolle verkommt.» (S. 195) Das vielfältige Medienecho zeigt, dass diese selbst gestellte Aufgabe zumindest auf Resonanz stösst – und das ist grundsätzlich zu begrüssen. Denn verfolgt man aus der Sicht europäischer Medien die Kontrollwut US-amerikanischer Behörden an Flughäfen und Grenzen aber auch im Innern des Landes, so scheint man jenseits des Atlantiks zuweilen nicht mehr so weit weg von einer «Seuchenkontrolle» zu sein.

Versucht man den Essay auf die methodische Umsetzung der theoretischen Vorgaben hin zu prüfen, so zeigt sich, dass Sarasin sein früher entworfenes Programm Punkt für Punkt umsetzt.2 Gewisse assoziative Verknüpfungen metaphorischer Gehalte wirken zumindest in ihren Schlussfolgerungen recht gewagt, so zum Beispiel wenn die Angst vor bzw. die Lust am Spiel mit der «Infektion durch das Fremde» anhand einer bösartig grinsenden nationalsozialistischen Judenkarikatur auf einem Ansteck-Button einer US-Metal-Band namens «Anthrax» zum Ausdruck des «westlich Imaginären» (Infektionsangst) bzw. zum provokativen Spiel der Band mit dieser Angst stilisiert wird (S. 138ff). Die Verknüpfungen erzeugen aber einen hohen Grad an Plausibilität – was nicht zuletzt an Sarasins schillerndem Spiel mit der Sprache und ihren Bedeutungen liegt. Die Lektüre ist denn auch eine wahre Lust, insbesondere dann, wenn Sarasin die analysierte Biosprache selbst als stilistisches Mittel verwendet. So wie das Phantasma des «Bioterrors» die Angst vor dem Fremden codiert, befördert es auch die schamlose Lust an der Infektion als radikaler Akt der Subversion. Diese «Jouissance», die Lust am subversiven Akt korrespondiert mit der Wirkung des Textes von Sarasin auf den Leser, welcher aufklärend (mithin «infizierend») wirkt.

Anmerkungen:
1 V.a. mit der Habilitationsschrift «Reizbare Maschinen». Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Suhrkamp Frankfurt am Main 2001, sowie «Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse», Suhrkamp Frankfurt am Main 2003.
2 Vgl. «Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse», S. 10-60.

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