K.-J. Hölkeskamp: Rekonstruktionen einer Republik

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Titel
Rekonstruktionen einer Republik. Die politische Kultur des antiken Rom und die Forschung der letzten Jahrzehnte


Autor(en)
Hölkeskamp, Karl-Joachim
Reihe
Historische Zeitschrift. Beiheft. Neue Folge 38
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
146 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Herbert Heftner, Institut für Alte Geschichte, Altertumskunde und Epigraphik, Universität Wien

Die vorliegende Monografie des bereits als einer der besten Kenner der römischen Republik ausgewiesenen Kölner Althistorikers Karl-Joachim Hölkeskamp nimmt ihren Ausgang von einer kritischen Auseinandersetzung mit der vor etwa zwei Jahrzehnten von Fergus Millar in die Diskussion gebrachten Neubewertung des politischen Charakters der römischen Republik. Ausgehend vor allem von der Rolle der römischen Volksversammlungen als Organe der Gesetzgebung und Magistratenwahl hatte Millar die traditionelle Vorstellung von der Republik als eines Staatswesens aristokratisch-oligarchischer Prägung in Zweifel gezogen und der republikanischen Ordnung Roms einen im Grunde demokratischen, ja sogar direkt-demokratischen Charakter zuschreiben wollen. In Frage gestellt wurde von Millar auch die Vorstellung vom aristokratischen Charakter der römischen Führungsschicht als solcher, da es sich nicht um eine geschlossene Adelskaste gehandelt habe; die Zugehörigkeit zum Kreis der politischen Entscheidungsträger sei ja nicht erblich gewesen, sie hing vielmehr von der Bekleidung bestimmter Ämter ab, die vom populus per Volkswahl vergeben wurden. Aus diesen Gründen kam Millar zu dem Schluss, dass Rom in gewissem Sinne eine direkte Demokratie gewesen sei, die der klassischen Demokratie Athens ähnlicher war, als man habe wahrhaben wollen.

Dieser Sicht der Dinge, die in den beiden Jahrzehnten seit ihrer Präsentation viel Anklang gefunden hat, setzt Hölkeskamp zunächst den berechtigten Einwand entgegen, dass dabei die Ordnung der Republik als ein statisches, in den Kategorien des modernen Staatsrechtsbegriffes fassbares System verstanden werde. Eben diese Vorstellung aber ist in der neueren Forschung (Hölkeskamp verweist hier vor allem auf die bahnbrechenden Arbeiten Christian Meiers) längst schon in entscheidenden Punkten modifiziert worden: Die Verfassung der römischen Republik könne nicht mehr als ein eigenständiger Bereich sui generis verstanden werden; sie sei vielmehr untrennbar mit der Gesamtheit der in der Welt des republikanischen Roms gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen und kulturellen Konditionierungen verbunden und nur in diesem Kontext angemessen zu verstehen. Dazu gehören zentrale Wertbegriffe wie auctoritas, dignitas, honor usw., vor allem aber das unter dem Begriff des mos maiorum zusammengefasste Reservoir an Verhaltensmaßstäben, -normen und -exempeln, das - mehr als irgendwelche formalgesetzlichen Normen - die Basis für das Agieren der politischen Protagonisten, die Entscheidung strittiger Fragen und die Lösung von Konflikten im öffentlichen Leben Roms dargestellt habe (S. 19-25). Schon allein im Hinblick auf diese umfassende Bedeutung des mos maiorum könne man die römischen Volksversammlungen nicht - wie es Millar tut - als autonome Entscheidungsträger ansehen; sie seien vielmehr in ein hierarchisch gegliedertes System der Entscheidungsfindung eingebunden gewesen, innerhalb dessen der bestimmende Einfluss bei den Angehörigen der politischen Führungsschichten lag (S. 26-29).

Steht in den ersten beiden Kapiteln die Auseinandersetzung sowohl mit Millars Auffassungen wie auch mit dem traditionellen Bild der römischen Republik im Vordergrund, so wendet sich Hölkeskamp in der Folge jenen Forschungsansätzen zu, die geeignet sind, uns einen besseren Weg zum Verständnis der klassischen Republik und ihrer politischen Kultur zu weisen. Vielversprechend erscheinen ihm dafür nicht der traditionelle rechts- und verfassungsgeschichtlich ausgerichtete Zugang, sondern ein strukturgeschichtlicher Ansatz, der auf die "Interdependenzen zwischen Politik, politischer Willensbildung und Entscheidungshandeln einerseits und ihren sozialen, mentalen und sonstigen kulturellen Bedingungen andererseits" abzielt (S. 31).

In der Folge thematisiert Hölkeskamp die sich auf der Basis dieses Ansatzes ergebenden Sichtweisen zu einigen grundlegenden Problemkomplexen: Hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis der politischen Kraftzentren zueinander betont er, dass die Nichtfestlegung der Kompetenzen zwischen den einzelnen Institutionen es dem Senat ermöglichte, sich zum Zentrum der Entscheidungen und zur allgemein anerkannten Instanz der Konfliktbeilegung aufzuschwingen - und gerade in dieser Rolle habe sich eine Kernfunktion des Senats, die "Verwaltung" (Bewahrung, Anwendung, Interpretation) des mos maiorum (S. 33-36) manifestiert. Für die sich daran knüpfende Frage nach den realen Machtverhältnissen in Rom verweist Hölkeskamp auf die durchgehend hierarchische Prägung der römischen Sozialordnung, in der alle Bereiche der Lebenswelt mit einem Geflecht ungleicher, durch ein deutliches Machtgefälle gekennzeichneten Beziehungen zwischen Personen und Gruppen durchzogen waren (S. 37-42; vgl. 55). Dies bedeute jedoch nicht, dass wir mit der Existenz fixer, jederzeit einsetzbarer Klientelen rechnen dürften: Die vielfältigen Patronage- und Verpflichtungsbeziehungen spielten in der Politik eine Rolle, aber sie überkreuzten einander, konnten miteinander kollidieren und sich daher auch gegenseitig neutralisieren (S. 42-45).

In der Betrachtung der konkreten Inhalte der römisch-republikanischen Politik stellt Hölkeskamp die Frage in den Mittelpunkt, was in der klassischen Republik überhaupt als "politisierbar" (d.h. im Rahmen der politischen Entscheidungsvorgänge zur Disposition stehend) galt und was nicht. "Die Abgrenzung dieser beiden Bereiche bietet die Möglichkeit, jene [...] institutionellen Fundamente, sozialen Gegebenheiten, moralischen Orientierungen und [...] Grundwerte hervortreten zu lassen, über die in einer bestimmten Gesellschaft ein allgemeiner Konsens besteht - die also gerade nicht wegen ihrer Strittigkeit, sondern wegen ihrer Unstrittigkeit nicht zum Gegenstand von Politik werden." Am Verhältnis zwischen dem politisierbaren und dem außer Streit stehenden Bereich lasse sich sogar der Grad der Stabilität einer Gesellschaft, Gruppe oder "Klasse" ermessen: Letzterer sei dort besonders hoch, wo "über ein breites Spektrum 'politisierbarer' Themen scharfe Kontroversen ausgetragen werden können, diese aber das gemeinsame Fundament nicht berühren" (S. 46f.).

Mit dem Stichwort des allgemeinen Konsenses spricht Hölkeskamp die Frage an, die für den anschließenden Hauptteil seiner Schrift gewissermaßen das Leitmotiv bildet: Welche Möglichkeiten bieten sich der althistorischen Wissenschaft, diesen für das Funktionieren der republikanischen Ordnung fundamentalen Grundkonsens in seinen Ursachen, Charakteristika und Wirkungen angemessen zu erfassen (S. 56)? Der in der Forschung zunächst begangene Weg führte über die Untersuchung wichtiger römischer Wertbegriffe und der hinter ihnen stehenden Grundüberzeugungen; dabei habe sich gezeigt, dass diese Begriffe stets als Leitmarken eines öffentlich sichtbaren und kontrollierbaren Sozialverhaltens gedacht sind und dass in ihnen stets die Konnotation eines streng hierarchisch strukturierten Systems der Ober- und Unterordnung mitschwingt (S. 54f.).

Damit ist eine Basis für weitere Forschungsbemühungen gewonnen, die sich, wie Hölkeskamp betont, nicht in einer isolierten Betrachtung von Wert- und Moralkonzepten erschöpfen dürften; nötig sei vielmehr eine umfassende, auf die Gesamtbeschreibung der römischen politischen Kultur abzielende Untersuchung der im republikanischen Rom gegebenen "Wirklichkeits- und Weltbilder" und der "Systeme der Wahrnehmung, Deutung und Beurteilung der Lebenswelt" (S. 56f.). Ins Auge zu fassen seien dabei insbesondere auch die symbolischen Ausdrucksformen der politischen Lebenswelt: Feste, Spiele, Triumphzüge, pompae funebres, ebenso aber auch die Heiligtümer und Siegesmonumente, Münzlegenden und Inschriften - kurzum, alle Erscheinungen, die in irgendeiner Weise als Träger von Botschaften fungieren konnten, in denen, "die allgemeine Geltung der Kollektivmoral und ihrer tragenden Konzepte" betont, zugleich aber auch der Führungsanspruch der politischen Klasse herausgestrichen worden sei (S. 58-65). Betrachte man diese diversen Ausdrucksformen und Botschaften im Sinne des von Jan Assmann entwickelten Konzepts des "kulturellen Gedächtnisses", so werde offenbar, wie die mittels unterschiedlicher Medien betriebene Konstruktion der eigenen Vergangenheit als Vorgeschichte imperialer Größe zur Bildung einer spezifisch römischen kollektiven Identität beigetragen hat (S. 65f.).

Um die in diesen Phänomenen zutage tretende "besonders dicht erscheinende Vernetzung von Wertekanon, Regeln, kulturellen Praktiken/civic rituals, Bildern und Botschaften" zu würdigen, müsse man jenen eigentümlichen Typus von "Staatlichkeit" ins Auge fassen, dem sie entwachsen sind: das Konzept der "Stadtstaatlichkeit", wie es in der neueren Forschung herausgearbeitet wurde (S. 66f.). Dieses Konzept vermeide den erst in der modernen Staatslehre entwickelten Dualismus von "Staat" und "Gesellschaft" ebenso wie die damit einhergehenden Vorstellungen von Souveränität und abstrakter, zentralisierter Staatsgewalt; es definiere die Staatlichkeit vielmehr als "Regelsystem", als "normative Strukturen, die aus der Wiederholung und Verstetigung vergangenen Handels und seiner Verfestigung zu [...] verläßlichen Handlungsmustern" entstehen und erst in ihrer voll entwickelten Form die Gestalt staatlicher Institutionen im Sinne von Ämtern, Ratsgremien usw. annehmen (S. 67f.) - und diese seien nicht als ein für allemal feststehende Größen zu betrachten, sondern müssten sich durch die Darstellung ihrer tragenden Ordnungs- und Wertprinzipien immer wieder von neuem legitimieren (S. 69).

Im speziellen Fall der römischen Republik liege ein wesentliches Charakteristikum in der Tatsache, dass die Träger des politischen Handelns einander immer direkt gegenübergetreten seien; das staatliche Handeln vollzog sich in einem überschaubaren Raum in aller Öffentlichkeit (S. 71), wodurch sich eine ganz besondere Prägung der politischen Kultur Roms ergab. Um diese zu erfassen, sei es vonnöten, die "verschiedenen Formen und Ebenen der Kommunikation und Interaktion im Rahmen der spezifischen soziokulturellen Rahmenbedingungen der römischen Stadtstaatlichkeit" zu kontextualisieren.

Im Anschluss an diese generellen Probleme der Rekonstruktion der römisch-republikanischen Lebenswelt und politischen Kultur fasst Hölkeskamp einen Teilbereich ins Auge, dessen Verständnis für die Bewertung des Gesamtkomplexes von zentraler Bedeutung ist: Charakteristik und Selbstverständnis der "politischen Klasse" der Republik, d.h. der Senatsaristokratie (S. 73-105). Hölkeskamp gibt zunächst einen Überblick über die bekannten Fakten; er verweist auf die Tatsache, dass es sich bei der römischen Senatorenschicht nicht um einen erblichen, durch Privilegien abgesicherten Stand gehandelt hat, da die Zugehörigkeit an die Bekleidung der höheren Ämter gebunden war, die durch Volkswahl vergeben wurden und auch Außenstehenden offen standen. Auf der anderen Seite sei es unleugbar - hier wendet sich Hölkeskamp wohl zu Recht gegen Millar und dessen Anhänger -, dass die Senatorenschicht trotz dieser relativen Offenheit Züge einer aristokratisch-elitären Führungsschicht trug. Hölkeskamp betont, dass auch eine in ihrer Zusammensetzung nicht statisch geschlossene Elite in ihrem Selbstverständnis von einem exklusiven Konzept geprägt werden kann. Im Falle der römischen Führungsschicht beruhte dieses vor allem auf deren Identität als regierender Klasse innerhalb der res publica und dem daran geknüpften Ordnungs- und Wertesystem (S. 73-79): Die politische Tätigkeit sei für die Mitglieder dieser Schicht der einzige Lebensinhalt gewesen, und der Erfolg in der Konkurrenz um Positionen und Prestige im Dienste der res publica bildete für sie den Maßstab des persönlichen Wertes.

In diesem Zusammenhang trifft Hölkeskamp die interessante Feststellung, dass gerade wegen der allgegenwärtigen Konkurrenz das Prinzip der Volkswahl unverzichtbar gewesen sei: Indem es die Entscheidung im Ringen um die knappen Führungspositionen einer außerhalb der regierenden Klasse stehenden Instanz (nämlich dem Volk) übertrug, sicherte es die Stabilität und Konsensfähigkeit innerhalb dieser Klasse (S. 83) - ein Gedanke, der im anschließenden Kapitel weiter ausgeführt und zu einem soziologischen Konzept, der Konkurrenztheorie von Georg Simmel, in Beziehung gesetzt wird: Nach Simmel ist die Konkurrenz ein Streit, bei dem die Kontrahenten um denselben Preis ringen, der sich aber nicht in der Hand eines von ihnen, sondern in der Gewalt einer dritten Instanz befindet. Diese dritte Instanz sei im Falle Roms das die Ämter und Ehren vergebende Wählervolk gewesen, und unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erweise sich die intensive Interaktion zwischen den römischen nobiles und dem populus als ein Ausfluss dieser Konkurrenzsituation - um in der Konkurrenz zu bestehen, seien Roms Politiker gezwungen gewesen, ihre Leistungen und Qualitäten ständig zur Darstellung zu bringen (S. 85-88).

Unter solchen Vorzeichen werde deutlich, dass politische Teilhabe des Volkes und die Ämtervergabe durch Wahl keineswegs nur in einem 'demokratisch' geprägten Ambiente auftreten können; im Falle der römischen Republik erscheinen sie geradezu als die notwendigen Voraussetzungen einer in ihrem Wesen 'aristokratischen' politischen Kultur (S. 89), innerhalb derer dem "Volk" (als "Institution" betrachtet) bei der Konstitution und Ergänzung der Aristokratie eine entscheidende Funktion zukam. Unter solchen Bedingungen konnte die Konkurrenz eine "sozialisierende Kraft" (S. 89) entfalten, konnte sie dazu dienen, die Nobilität an den populus heranzuführen. Allerdings konnte ein solches System nur auf der Basis fester und allgemein akzeptierter 'Spielregeln' funktionieren: es musste sowohl die Rangfolge der zu vergebenen honores unumstritten sein als auch die Frage, welche Qualitäten und Leistungen einen Anspruch darauf begründen konnten (S. 90-92). Die Verbindung von allgegenwärtiger Konkurrenz und unumstrittenem Konsens bildete so die eigentliche Grundlage für die innere Homogenität des römischen Senatsadels.

Im Anschluss an diese Ausführungen zur Konkurrenz bringt Hölkeskamp ein weiteres von der modernen Sozialwissenschaft entwickeltes Konzept ins Spiel: den Begriff des "sozialen bzw. symbolischen Kapitals" (P. Bourdieu). Dieses bestehe, generell gesprochen, in jenen "Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind" (S. 93). Es sei Aufgabe der Althistorie, herauszufinden, worin im Falle der römischen Senatsaristokratie dieses symbolische Kapital bestanden habe, wie es eingesetzt wurde und in welchen Facetten es sich in verschiedenen Kontexten präsentieren konnte. Hölkeskamp ist sich darüber im Klaren, dass die Forschung in diesen Fragen von definitiven Ergebnissen noch weit entfernt ist, er kann jedoch einige Aspekte der Problematik aufzeigen, die besondere Beachtung verdienen. Da ist vor allem die Tatsache, dass zum symbolischen Kapital eines römischen nobilis nicht nur die eigenen Leistungen zählten, sondern auch die Verdienste der Vorfahren, so dass auf diesem Weg eben doch ein Element der Erblichkeit zur Geltung kam (S. 93f.; vgl. 102f.), weiters die Feststellung, dass dieses Kapital, um wirksam zu werden, ständig gepflegt werden musste, etwa im Zuge der spektakulären Leichenbegräbnisse auf denen die Leistungen des Verstorbenen und seiner Ahnen in Erinnerung gerufen wurden (S. 97-100). Besondere Beachtung verdient auch Hölkeskamps Bemerkung, dass die Leistungen der Vorfahren in der Rückerinnerung konsequent mit offiziellen Amtsstellungen und Imperien verknüpft wurden; die individuellen Leistungen wurden dadurch zugleich als Beiträge zur kollektiven Tradition der res publica ausgewiesen und so überhöht (S. 102).

Im Abschlusskapitel kommt Hölkeskamp dann nochmals auf den im Zuge der letzten drei Jahrzehnte stattgehabten Paradigmenwechsel innerhalb der althistorischen Disziplin zu sprechen: Die Althistorie sei in dieser Zeit von einer neuen Offenheit gegenüber den Theoriedebatten der Geschichts- und anderer Humanwissenschaften geprägt worden, dementsprechend zeige sich auch eine verstärkte Bereitschaft zur Reflexion über Grundprobleme der Geschichtswissenschaft, etwa über das Spannungsverhältnis zwischen dem Handeln historischer Akteure und den ihrem Handeln zugrunde liegenden Bedingungen (S. 107-109). Auf der Basis dieser Ansätze postuliert Hölkeskamp die Entwicklung eines umfassenden, historisch-politikwissenschaftlich fundierten Konzepts der politischen Kultur, das gewissermaßen als Dach für eine Zusammenführung und Verknüpfung der verschiedenen neuentwickelten Ansätze dienen könne und dabei "im Rahmen einer interdisziplinären Forschungspraxis" einer "systematischen empirischen Erprobung bzw. Umsetzung" zu unterziehen sei (S. 111f.).

Hölkeskamp hat im vorliegenden Werk ein brillantes Plädoyer für die Entwicklung neuer methodischer Zugänge zur alten Frage nach dem Wesen der römischen Republik und ihrer Führungsschicht vorgelegt, ein Werk, das auch und gerade dem traditionell-quellenkundlich orientierten Althistoriker zur Lektüre ans Herz gelegt sei. Sein Versuch, aufzuzeigen, wie moderne soziologische Konzepte dazu beitragen können, die der römisch-republikanischen Lebensordnung zugrunde liegenden Prinzipien besser zu erfassen, kann, zumindest hinsichtlich des in der vorliegenden Monografie fokussierten Kernbereiches - der Charakteristik und Selbstdarstellung der römischen Senatsaristokratie, als gelungen angesehen werden: Seine mit Hilfe des Simmelschen Konkurrenzmodells erarbeitete Deutung macht verständlich, wie sich im republikanischen Rom das Prinzip der Volkssouveränität und der Führungsanspruch einer elitären Regierungsschicht so treffend zusammenfügte, dass die Volkswahl sogar die entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren der inneraristokratischen Konkurrenzmechanismen darstellen konnte (womit, nebenbei bemerkt, auch die früher weitverbreitete Annahme einer effektiven 'Lenkung' der Abstimmungsvorgänge durch die Magistrate widerlegt ist - nur bei einer freien Abstimmung konnten die Comitien ihre Funktion als Schiedsrichter der aristokratischen Konkurrenz erfüllen).

Besonders wichtig ist Hölkeskamps Feststellung, dass die ungewöhnlich weitgehende Bereitschaft des populus Romanus, sich den Anforderungen des von der senatorischen Oberschicht entwickelten Wertekanons zu unterwerfen, nicht einfach als gegeben vorausgesetzt werden kann, sondern als erklärungsbedürftiges Problem der Forschung begriffen zu werden hat (S. 56). Er selbst steuert zur Lösung dieses Problems die wesentlichen Punkte bei, indem er immer wieder auf die Suggestionskraft der Rituale, Symbole und anderer Träger ideeller Botschaften verweist - und gerade die Vielfalt und Intensität dieser politischen Ausdrucksformen lässt erkennen, dass die senatorischen Führungsschichten die Geltung ihres Wertesystems als eine durch steten Einsatz suggestiver Botschaften immer wieder neu zu erringende und zu konsolidierende Zielsetzung angesehen haben.

Es sei in diesem Zusammenhang der Hinweis erlaubt, dass auch zur Zeit der scheinbar unumstrittenen Dominanz des von Hölkeskamp so eindrucksvoll herausgearbeiteten senatorisch-aristokratischen Wertesystems im 'klassischen' Zeitalter der Republik Kräfte und Strömungen existierten, die - zumindest potentiell - geeignet waren, ebendiesen Konsens in Frage zu stellen: Die Tatsache, dass die bestehende politische Ordnung aus einer Serie von Konflikten zwischen einer aristokratischen Führungsschicht und verschiedenen von breiteren Volksschichten getragenen Protestbewegung hervorgegangen war, dass erst die im Laufe dieser Kämpfe den regierenden Eliten abgerungenen Kompromisse die Basis für jenen Konsens darstellten, der dann im 3. und frühen 2. Jahrhundert v.Chr. das politische Leben bestimmte, muss im Allgemeinen Bewusstsein präsent gewesen sein. In der Tat haben wir einige Indizien dafür, dass die Tradition plebejischer Widerständigkeit und des Interessengegensatzes zwischen der 'Plebs' und der (nicht mehr nur patrizischen) Nobilität bis weit ins 3. Jahrhundert hinein am Leben geblieben sind; es sei hier nur auf die kontroversen Aktivitäten des C. Flaminius in den 230er und 220er-Jahren sowie auf das bei Livius (30,19,9) überlieferte Gesetz verwiesen, das den Söhnen kurulischer Magistrate zu Lebzeiten ihrer Väter die Bekleidung des Volkstribunates und der plebejischen Ädilität verbot.

Vor diesem Hintergrund betrachtet, erscheint der Konsens nicht nur als Ausfluss fest verankerter und verinnerlichter Grundüberzeugungen (wenngleich die von Hölkeskamp herausgearbeiteten ideellen Botschaften des senatorischen Wertekanons sicher ihre Wirkung getan haben), sondern zugleich auch als Produkt eines aus historischen Erfahrungen und dem Bewusstsein real bestehender Spannungsfelder geborenen Krisenbewusstseins, das bis zur Zeit der Gracchen alle Akteure der römischen Politik davon abhielt, ihre Auseinandersetzungen bis zu dem Punkt zu treiben, an dem die im frühen 3. Jahrhundert erreichte Balance der Institutionen und Kräfte gefährdet worden wäre.

Es würde lohnen, diesen Aspekt weiter zu verfolgen; dass er in Hölkeskamps Monografie etwas in den Hintergrund tritt, entspricht der Schwerpunktsetzung des Autors, der sich im vorliegenden Werk ganz bewusst auf die senatorischen Führungsschichten und ihre Position im Leben der Republik konzentriert. Von diesem Thema ausgehend bietet sein Werk eine aus souveräner Sachkenntnis und innovativer methodischer Gedankenarbeit geschöpfte Darlegung grundlegender Strukturelemente der politischen Lebensordnung der Republik wie auch eine Fülle wegweisender Fragestellungen und Anregungen für weitere Forschungsbemühungen. Es steht zu hoffen, dass es an solchen Bemühungen nicht fehlen wird und dass sie den von Hölkeskamp gesetzten Standards gerecht werden.

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