G. Hirschfeld u.a. (Hgg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg

Cover
Titel
Enzyklopädie Erster Weltkrieg.


Herausgeber
Hirschfeld, Gerhard; Krumeich, Gerd; Renz, Irina
Erschienen
Paderborn 2004: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
1002 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Erika Stubenhöfer, Stadtarchiv Erkrath

Anders als in den anderen kriegsteilnehmenden Ländern, ist in Deutschland der Erste Weltkrieg im öffentlichen Bewusstsein hinter den Zweiten Weltkrieg zurückgetreten, nachdem die Generationen, die ihn erlebt haben, weitgehend verstorben sind.

In der historischen Forschung spielte er dennoch weiterhin eine zentrale Rolle. Historiker im In- und Ausland beschäftigten sich gewissermaßen seit Ende des Krieges mit der Weltkriegsforschung, wobei zunächst dessen Ursachen und Abläufe im Mittelpunkt des Interesses standen. Im Laufe der Zeit traten die gesellschaftlichen Verhältnisse während des Krieges in den Vordergrund, und in jüngster Zeit widmen sich die Historiker und immer mehr auch die Historikerinnen vor allem der Geschichte der Mentalitäten und des Kriegsalltags.

Wie auch bei anderen Ereignissen aus der Geschichte – hier seien als Beispiel die Revolution von 1848 und ihr Jubiläum 1998 angeführt – lässt der diesjährige neunzigste Jahrestag des Kriegsbeginns den Ersten Weltkrieg durch Medienberichte, Ausstellungen etc. wieder in das Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit treten und findet seine Resonanz durch eine steigende Anzahl von Veröffentlichungen zum Thema.

Aus der Menge der Neuerscheinungen ragt die Enzyklopädie Erster Weltkrieg zunächst durch ihre Größe (Lexikonformat) und ihren Umfang (1.002 Seiten) heraus. Beim ersten Durchblättern fällt sofort auf, dass das Buch aus zwei unterschiedlichen Teilen besteht: einem Aufsatz- und einem Lexikonteil, die sich rein äußerlich durch ein- bzw. zweispaltigen Satz unterscheiden. Ergänzt werden die Texte des Lexikonteils durch Fotos, Karten, Statistiken und sonstige Abbildungen.

Im Vorwort bezeichnen die Herausgeber ihr Buch als erste moderne deutschsprachige Enzyklopädie des Ersten Weltkriegs, deren Ziel die „Überwindung sowohl der thematischen als auch der nationalen Grenzen“ (S. 9) sei. Die Verschiedenheit und die Ausdifferenziertheit der Forschungsansätze hätten zu einer solchen Fragmentierung in Spezialgebiete geführt, dass die Forschung in Gefahr sei, die Gesamtheit des Weltkriegs aus den Augen zu verlieren. Aber auch die national-kulturelle Beschränktheit der Forschung, die wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen sei, wirke kontraproduktiv auf die Weltkriegsforschung.

Die Enzyklopädie Erster Weltkrieg versteht sich laut Angabe der Herausgeber weniger als Sammlung des bisher verfügbaren Wissens über den Krieg, sondern als Versuch, die Grenzen der einzelnen Arbeitsfelder zu überschreiten und einen internationalen Vergleich zu ermöglichen. Dabei richtet sie sich nicht nur an Spezialisten aus der Historikerzunft, sondern ist ausdrücklich auch für die allgemein historisch interessierte Öffentlichkeit gedacht.

Der Teil mit den essayistischen Darstellungen ist gegliedert in die Abschnitte „Staaten“, „Gesellschaft im Krieg“, „Kriegsverlauf“ und „Geschichtsschreibung“. Die einzelnen Aufsätze sind von ausgewiesenen SpezialistInnen für die jeweiligen Themen geschrieben. Als Beispiele seien nur erwähnt Jay Winter über „Großbritannien“, Ute Daniel zum Thema „Frauen“, Alan Kramer über „Kriegsrecht und Kriegsverbrechen“ sowie Fritz Klein über „Die Weltkriegsforschung der DDR“.

Gleiches gilt für den lexikalischen Teil, der mit mehr als 650 Stichwörtern ergänzende Informationen zu Ländern, Personen, Begriffen und Ereignissen bietet. Insgesamt haben 146 Autoren aus 15 Nationen Beiträge zur Enzyklopädie geliefert.

Zur Abrundung enthält das Werk noch eine Chronik für die Jahre 1914 bis 1918, ein Autoren- sowie ein zusätzliches Stichwortverzeichnis, das den lexikalischen Teil noch einmal tiefer erschließt. Am Schluss eines jeden Essays ist zudem die grundlegende Literatur zum jeweiligen Thema aufgelistet, ebenso bei den meisten Lexikonartikeln.

Im Abschnitt „Staaten“ beschreiben die Autoren die Auswirkungen des Krieges auf die acht wichtigsten am Krieg beteiligten Länder, und zwar Deutschland, Frankreich, Belgien, Großbritannien, Österreich-Ungarn, Russland, Italien und die USA. Sie beschäftigen sich vor allem mit der innenpolitischen Situation von der Vorkriegszeit bis zum Kriegsende und deren Veränderungen, dem jeweiligen Weg in den Krieg und den langfristigen Auswirkungen des Krieges auf diese Staaten, richten ihr Augenmerk aber auch auf Themenbereiche wie Wirtschaft und Kultur.

Die gesellschaftlichen Gruppen dieser Staaten werden im Großkapitel „Gesellschaft im Krieg“ näher betrachtet, und zwar unter länderübergreifender Perspektive. Die ersten vier Aufsätze sind dabei vorwiegend den „kleinen Leuten“ gewidmet: Auf die „Frauen“ folgen „Kinder und Jugendliche“, „Arbeiter“ und „Soldaten“. Darauf folgen Betrachtungen über die „Wissenschaftler“ und ihre Haltung zum Krieg sowie über die Themenbereiche „Kriegsliteratur“, „Religion“, „Propaganda“, „Medizin“ und „Kriegswirtschaft“.

Erst das dritte Großkapitel ist den eigentlichen Kriegshandlungen gewidmet, beginnend mit dem „Weg in den Krieg“ und der Entwicklung „Vom europäischen Krieg zum Weltkrieg“. Die Kriegführung der Mittelmächte und der Entente wird in den folgenden beiden Kapiteln untersucht. Der Abschnitt endet mit Aufsätzen über „Kriegsrecht und Kriegsverbrechen“ und „Das Ende des Ersten Weltkriegs“.

Das abschließende Kapitel behandelt die Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg aus länderübergreifender Perspektive. Lediglich der DDR-Forschung ist ein separates Kapitel gewidmet. Die Historiografie begann bereits während des Krieges mit seiner Aufarbeitung und wurde lange nur aus nationaler Perspektive heraus betrieben, vor allem um die angebliche eigene Unschuld am Ausbruch des Konflikts zu belegen. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Darstellungen jedoch differenzierter und in jüngster Zeit durch Berücksichtigung einer internationalen Sichtweise erweitert. Aber auch die Desiderate an die künftige Forschung sind in diesem Teil der Enzyklopädie aufgeführt.

Im Lexikonteil wird kurz aber umfassend zu den einzelnen Schlagworten informiert. Neben Artikeln über Personen finden LeserInnen hier Details über die nicht im Aufsatzteil behandelten Länder, Beschreibungen von einzelnen Schlachten usw. Besonders ins Auge fallen aber sicherlich Stichwörter zu scheinbar kuriosen Themen, wie z. B. „Aberglaube“, „Barbaren“ oder „Ungeziefer“, und unter „Schlachtfeldtourismus“ erfährt das staunende Publikum, dass bereits während des Krieges in Frankreich die ersten Michelin-Führer zu einzelnen Frontabschnitten erschienen (S. 818).

Alles in allem bietet die Enzyklopädie einen Einstieg in fast alle Themenbereiche des Ersten Weltkriegs. Auch wenn laut Vorwort ausdrücklich nicht intendiert, handelt es sich bei dem vorliegenden Band durchaus um eine Enzyklopädie im echten Sinn des Wortes: Sie versammelt das derzeit verfügbare Wissen zum Thema im weitesten Umfang. Aufgrund der Fülle der in den letzten Jahren erschienenen Literatur, die sich zum Teil detailliert mit früher vernachlässigten Themenbereichen befasst, kann die Enzyklopädie wohl kaum über jede Facette bis ins kleinste Detail informieren. Dennoch bietet das Buch einen ersten Überblick über alle Themen mit der Möglichkeit, sich Spezialgebiete anhand der Literaturhinweise tiefer zu erschließen.

Die Enzyklopädie ist auch ein Beispiel dafür, was Militärgeschichte heute bedeutet, nämlich nicht nur die Beschreibung von Schlachten und die Beschäftigung mit dem Militärischen, sondern auch und vor allem die Berücksichtigung der kurz- und langfristigen Auswirkungen eines Krieges auf die beteiligten Staaten und ihre Gesellschaften.

Aus diesem Grund nimmt die Enzyklopädie, die inzwischen in zweiter, überarbeiteter Auflage erschienen ist, den Rang eines Standardwerkes und Handbuchs zum Ersten Weltkrieg ein. Sie berücksichtigt alle Aspekte des Krieges selbst, aber auch die Aufarbeitung danach durch Literatur und Historiografie.

Eine nicht nur umfassende, sondern komplette Darstellung ist eine kaum zu bewältigende Aufgabe, und so bleiben trotz der Gründlichkeit der Enzyklopädie noch einige Desiderate. Um eine bessere Vergleichbarkeit zu erreichen, hätten die Länderartikel mit paralleler Themenstruktur erarbeitet werden müssen. Ein ausführliches Gesamtregister zum Essayteil fehlt, so dass dieser insgesamt nur schwer erschließbar bleibt. Ein Index zum sowieso alphabetisch geordneten Lexikonteil ist dagegen vorhanden. Es ist nicht ersichtlich, nach welchen Kriterien einige Lexikonartikel Hinweise auf weiterführende Literatur geben und andere nicht. Hier hätte sorgfältiger gearbeitet werden müssen. Inhaltlich kamen die kolonialen Themen etwas zu kurz; sie hätten einen Aufsatz verdient gehabt statt mehrer Lexikonartikel.

Man mag auch darüber streiten können, welche Personen in den Lexikonteil aufgenommen werden sollen. Ganz sicher aber ist z.B. das Fehlen von eigenen Stichwörtern für Außenminister, wie Zimmermann – er ist nur unter der gleichnamigen Depesche aufgelistet -, Hintze und Solf (Deutschland) sowie Balfour (Großbritannien), der trotz einer Amtszeit von sechs Jahren nur als „Balfour-Declaration“ erscheint, ein grober handwerklicher Fehler; dies umso mehr als ihre Vorgänger und Nachfolger sowie die meisten ihrer Kollegen aus den übrigen Ländern sämtlich über ein eigenes Stichwort verfügen.

Dies sind jedoch trotz allem nur Bagatellen, die den Wert der Enzyklopädie als Nachschlagewerk und Arbeitsmittel für HistorikerInnen keinesfalls schmälern. Sowohl die Fachwelt als auch jede(r) interessierte LeserIn kann stets mit Gewinn in dem Band blättern und wird sich sicher oft „festlesen“.

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