Cover
Titel
Byzanz. Das zweite Rom


Autor(en)
Lilie, Ralph-Johannes
Erschienen
Berlin 2003: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
576 S., Ill., Kt.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Kolditz, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Mit dem anzuzeigenden Buch hat der Berliner Byzantinist Ralph-Johannes Lilie bereits seine dritte Gesamtdarstellung der byzantinischen Geschichte vorgelegt, die erneut ausdrücklich für einen breiteren Leserkreis bestimmt ist.1 Wiederum geht es ihm nicht um eine ausgreifende Analyse überzeitlicher Strukturen, die das „Phänomen Byzanz“ und die Mentalität seiner Bewohner bestimmt hätten2, sondern um eine an der Ereignisgeschichte orientierte Darstellung mit gleichwohl spezifischem Fokus: War dies in Lilies Studienbuch die Institution des Kaisertums, so liegt der Schwerpunkt nun auf den Beziehungen zwischen byzantinischem Osten und lateinischem Abendland, ausgehend von der Konzeption des Siedler-Verlags, die Querverbindungen zwischen deutscher und byzantinischer Geschichte zu untersuchen. Die Problematik dieses Ansatzes, der für weite Perioden der byzantinischen Geschichte einen Nebenschauplatz ins Zentrum des Interesses rückt, ist dem Verfasser durchaus bewusst und er hat sich für die verschiedenen Abschnitte auf unterschiedlichen Wegen bemüht, sowohl dem spezifischen Blickwinkel als auch der allgemeinen Entwicklung des Reiches gerecht zu werden.

Bereits die Gliederung in vier Teile unter den Schlagworten „Monopol“ (4. Jh. - 751), „Konkurrenz“ (751-1071), „Abwehr“ (1071-1204) und „Niedergang“ (1204-1453) trägt dem Rechnung, indem sich die Zäsuren, insbesondere der Fall Ravennas 751, und die Charakterisierung an der jeweiligen Position von Byzanz in der Welt des christlichen Europa orientieren. Für die mitunter allzu knapp behandelte Frühzeit (Kaiser Justinian werden beispielsweise ganze vier Seiten Text gewidmet) wirft die spezifische Perspektive noch kein großes Problem auf, insofern Byzanz in seinen Strukturen und seinem Selbstverständnis in bruchloser Kontinuität zum spätantiken Imperium Romanum stand und mit dessen Zerfall zum natürlichen Hegemon der einst römischen Mittelmeerwelt wurde. Lilie betont, dass sich die beiden Reichshälften im 5. Jahrhundert unter den Bedingungen unterschiedlich starker äußerer Bedrohung, aber auch einer divergenten kirchlich-theologischen Entwicklung auseinander bewegt hätten(S. 52f.), wobei für Byzanz besonders der unangefochtene Besitz der ökonomisch essenziellen Provinz Ägypten stabilisierend gewirkt habe (S. 58).
Breitere Aufmerksamkeit schenkt der Autor dem 7. Jahrhundert; im Mittelpunkt steht die Herrschaft des Kaisers Herakleios (610-641), die einer Revision unterzogen wird. Seine Glorifizierung in den Quellen stellt Lilie ebenso berechtigt in Frage wie das besonders dunkel gezeichnete Bild des Vorgängers Phokas; Herakleios habe in den ersten Jahren seiner Regierung der existenziellen Krise des Reiches nichts entgegenzusetzen gehabt, auch wenn dies nach dem Sieg über die Perser 628/29 in Vergessenheit geraten sei (S. 82-87). Auch für die oft unterbelichtete zweite Hälfte des 7. Jahrhunderts gelingt Lilie eine ausgewogene Darstellung.

Die Schwierigkeiten der gewählten Periodisierung zeigen sich jedoch besonders deutlich am folgenden Jahrhundert. Während der Verfasser den Aufstieg der Franken (nicht nur in seinen byzantinischen Aspekten) detailliert bis zur Kaiserkrönung Karls des Großen verfolgt und in diesem Zusammenhang besonders die Kaiserin Eirene deutlich hervortreten lässt, bleiben die Protagonisten der isaurischen Dynastie, namentlich Leon III., eher im Dunkel. Und auch wenn es zweifellos richtig ist, die Bedeutung des Bilderstreits für diese Zeit gegenüber den Quellen zu relativieren, so wird Lilies extrem knappe Darstellung (S. 120-123, weitgehend redundant wiederholt auf S. 160-164) ohne Diskussion der dahinter stehenden theologischen Problematik diesem Feld doch nicht gerecht.3 Die zwischen dem ersten und zweiten Abschnitt des Buches zerrissene Herrschaft Konstantins V. scheint bei ihm von der Frankenfrage bestimmt, während die byzantinische Memoria Konstantin als Erz-Ikonoklasten verdammte: Warum, versteht der Leser nicht, zumal Lilie ungewöhnlicherweise dem zweiten Ikonoklasmus im 9. Jahrhundert eine höhere Intensität der Verfolgung zuschreibt. Die Zäsur 751 und der Versuch, byzantinische Entwicklung und fränkischen Aufstieg synchron zu behandeln, stiften beim Leser somit einige Verwirrung.

Der Kaiserkrönung Karls des Großen widmet Lilie ein eigenes Kapitel (S. 174-186), in dem er eine kleinteilige Analyse der vornehmlich lateinischen Quellen vorstellt, ohne jedoch den gerade für die byzantinischen Bezüge wichtigen Annales Laureshamenses größere Aufmerksamkeit zu schenken. Auch die Nachrichten des byzantinischen Chronisten Theophanes, die auf eine römische Vorlage zurückgeführt werden (S. 179f.), spielen in seiner weitgehend konventionellen Rekonstruktion der Ereignisse keine wichtige Rolle. In der Gesamtstruktur des Buches ist dieses Kapitel ein Fremdkörper, zumal auch Lilie berechtigterweise vor einer Überschätzung des Zweikaiserproblems (S. 187-192) warnt.

Die Geschichte des 9. und 10. Jahrhunderts in Byzanz wird wiederum souverän dargestellt, zwar mit einem Schwerpunkt auf den Ost-West-Beziehungen, aber hier entlastet ein sich anschließender detaillierter Exkurs zu Strukturen und einzelnen Phasen dieser Kontakte mit durchaus subjektiven Akzenten den Haupttext – eine Lösung, die besser auch für die Karolingerzeit gewählt worden wäre. Strukturelle Merkmale der Epoche in Byzanz wie das Einsetzen einer Missionspolitik im 9. Jahrhundert (S. 206f.), die Verfestigung des dynastischen Gedankens (S. 224) oder die Landgesetzgebung der Kaiser im 10. Jahrhundert (S. 227-231, S. 238) werden gebührend und doch prägnant behandelt. Auf die schon von den Byzantinern als goldenes Zeitalter apostrophierte Regierung Basileios’ II. wirft Lilie einen nüchternen Blick (bes. S. 252-256), da sich dieses Bild vor allem aus dem Krisenbewusstsein des 11. Jahrhunderts ableite. Diese Krise resultiere jedoch auch aus einer allgemeinen Überschätzung der Stärke der Byzantiner im 10. Jahrhundert, die vielmehr durch die Schwäche der Gegner bedingt sei (S. 169, 310).

Die doppelte Zäsur von 1071 (Mantzikert und Bari) mit dem Aufstieg der seldschukischen und normannischen Gegner leitet eine neue Etappe ein. Die daraus folgende Verlagerung des Reichsschwerpunktes aus Kleinasien in den Balkanraum (S. 444f.) und die expansiven Tendenzen des normannischen Süditalien hätten den europäischen Nachbarn in der byzantinischen Politik ein höheres Gewicht gegeben. Lilie kommt somit auch zu einem insgesamt anerkennenden Urteil über die Italienpolitik Manuels I., die einem realen byzantinischen Sicherheitsinteresse entsprach, auch wenn sie mitunter übersteigerte und damit zum Scheitern verurteilte Züge angenommen habe (S. 421f.). Als weitere Determinante der Epoche benennt Lilie die Expansion des lateinischen Europa in den Orient im Zeichen der Kreuzzüge, die lateinische Begehrlichkeiten auch gegenüber Konstantinopel in stärkerem Maße geweckt und somit zur Vorbereitung der Katastrophe von 1204 beigetragen habe. So überrascht es nicht, dass ein ganzes Kapitel (S. 336-362) allein dem Ersten Kreuzzug gewidmet wird, weit mehr als dem Vierten von 1204 und der Eroberung Konstantinopels. Eine derartige Gewichtung ist sicher problematisch, denn auch das abschließende Resümee über den Ersten Kreuzzug (S. 360f.) lässt nur vage eine direkte Fernwirkung dieser Ereignisse auf das folgende Jahrhundert erkennen. Insgesamt überwiegt im flüssig geschriebenen dritten Teil deutlich die Außenpolitik gegenüber lateinischen Mächten in Ost und West,4 während strukturelle Aspekte kurz und thesenartig thematisiert werden, so das Selbstverständnis der byzantinischen Aristokratie als Bildungselite (S. 456-458).

Für die spätbyzantinische Epoche hingegen vermag der Autor kein vertieftes Interesse aufzubringen. Die 250 Jahre der Laskariden und Palaiologen werden sehr gedrängt behandelt, als Appendix im Zeichen des unzweifelhaft gegebenen Niedergangs durch dynastische Wirren, osmanische Expansion und die Chancenlosigkeit der Bemühungen um eine Kirchenunion mit Rom. Dabei werden wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen, die bedeutende Rolle Konstantinopels im Mittelmeerhandel dieser Jahrhunderte, die zunehmende Öffnung weltlicher byzantinischer Eliten gegenüber dem Westen und andere gegenläufige Tendenzen kaum thematisiert. Angesichts der Konzeption des Buches überrascht es, dass Lilie zudem auf die nun erheblich intensivierten diplomatischen Kontakte der Byzantiner zum Westen kaum eingeht, sich jeder Aussage über Modifikationen gegenüber der mittelbyzantinischen Zeit enthält. Die Gelegenheit, ein sich in der Forschung deutlich abzeichnendes differenzierteres Bild des späten Byzanz einem breiteren Leserkreis zu skizzieren, ist leider nicht genutzt worden.5

Auch wenn sich somit ein insgesamt zwiespältiger Eindruck ergibt, ist doch unbedingt positiv hervorzuheben, dass Lilie seinen Lesern die byzantinische Geschichte nicht als gesicherte Folge von Fakten vermittelt. Häufig wird auf die nötige kritische Interpretation einzelner Quellen verwiesen, und auch gängige Konstruktionen der Forschung (wie etwa die „Familie der Könige“, S. 274-279, die Themenverfassung, bes. S. 133-138, oder die Rolle der „Soldatenbauern“, der Söldner und der grundbesitzenden „Mächtigen“ im 10. Jahrhundert, S. 305-309) werden problematisiert. In einem vorangestellten Kapitel, welches auch eine konzise Einführung in die Problematik der byzantinischen Quellen (S. 20-28) gibt, ist der Autor zurecht bemüht, Byzanz stärker in die umgebende Welt des Mittelalters einzuordnen. Dennoch insistiert er im Resümee (S. 521-523) auf einer ab dem 7. Jahrhundert bestehenden scharfen Kulturkreisgrenze zwischen Ost und West. Dass der starke Vergangenheitsbezug, die Feindlichkeit gegenüber Neuerungen dabei als Spezifikum der byzantinischen Kultur gewertet wird, überrascht, denn eine derartige Hochschätzung der Tradition und zögerliche, verdeckte Annäherung an das Neue ist doch ebenso für die intellektuellen Eliten des Abendlandes im Mittelalter prägend. Auch andere aufgeworfene Thesen, insbesondere der determinierende Einfluss äußerer Faktoren auf den Ablauf der byzantinischen Geschichte (vgl. S. 530), verdienten gründlich diskutiert zu werden.

Das ansprechend illustrierte Buch wird durch eine Zeittafel, ein Register sowie eine Auswahlbibliografie, die dem Leser einen guten Einstieg bieten kann, erschlossen. Neben umfangreicheren Quellennachweisen in Anmerkungen wäre insbesondere ein terminologisches Glossar wünschenswert, in dem byzantinistische Fachausdrücke (etwa Titel wie Katepan, Kaisar) kurz und allgemeinverständlich erläutert werden sollten.

Anmerkungen:
1 Lilie, Ralph-Johannes, Byzanz. Kaiser und Reich, Köln 1994; Ders., Byzanz. Geschichte des oströmischen Reiches, München 2001.
2 So beispielsweise bei Beck, Hans-Georg, Das byzantinische Jahrtausend, München 1994; Hunger, Herbert, Reich der neuen Mitte. Der christliche Geist der byzantinischen Kultur, Graz 1965; Ducellier, Alain, Le drame de Byzance, Paris 1994; Kazhdan, Alexander; Constable, Giles, People and Power in Byzantium, Washington 1982.
3 Vgl. dazu etwa Schreiner, Peter, Der byzantinische Bilderstreit, in: Bisanzio, Roma e l’Italia nell’alto medioevo, Bd. 1, Spoleto 1988, S. 319-407; Beck, Hans-Georg, Von der Fragwürdigkeit der Ikone, München 1975; Thümmel, Hans Georg, Bilderlehre und Bilderstreit, Würzburg 1991.
4 Lilie orientiert sich dabei stark an seinen früheren entscheidenden Arbeiten zu dieser Epoche: Byzanz und die Kreuzfahrerstaaten, München 1981, sowie Handel und Politik zwischen dem byzantinischen Reich und den italienischen Kommunen Venedig, Pisa und Genua in der Epoche der Komnenen und Angeloi (1081-1204), Amsterdam 1984.
5 Stellvertretend seien genannt Oikonomidès, Nicolas, Hommes d’affaires grecs et latins à Constantinople (XIIIe-XVe siècles), Montreal 1979; Matschke, Klaus-Peter; Tinnefeld, Franz, Die Gesellschaft im späten Byzanz. Gruppen, Strukturen und Lebensformen, Köln 2001; zur spätbyzantinischen Diplomatie; vgl. jetzt auch Malamut, Elisabeth, De 1299 à 1451 au cœur des ambassades byzantines, in: Bisanzio, Venezia e il mondo franco-greco (XIII-XV secolo), Venedig 2002, S. 79-124.

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