D. Groh u.a. (Hgg.), Naturkatastrophen

Cover
Titel
Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert


Herausgeber
Groh, Dieter; Kempe, Michael; Mauelshagen, Franz
Reihe
Literatur und Anthropologie 13
Anzahl Seiten
434 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Uekötter, Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, Universität Bielefeld

Der vorliegende Band geht auf eine Tagung mit dem Titel „Naturkatastrophen und ihre Wahrnehmung in der Geschichte des Menschen“ an der Universität Konstanz im November 2000 zurück. Die Organisatoren hatten einen denkbar breiten Zugriff auf das Thema gewählt: Vom Erdbeben in Kampanien im Februar 62 n. Chr. bis zur Oderflut des Jahres 1997 und von Messina bis zum Yangzi-Strom in China reicht das chronologische bzw. geografische Spektrum der Themen. Anscheinend haben sich die Organisatoren der Konferenz entschlossen, vorzugsweise jene einzuladen, die bereits durch wichtige Veröffentlichungen zum Oberthema hervorgetreten waren. Ein so breiter und renommierter Referentenkreis garantiert gewöhnlich spannende Diskussionen auf der Tagung, aber oft auch einen recht heterogenen Tagungsband; so auch im vorliegenden Fall.

Dennoch ist man beim Lesen der Beiträge überrascht, dass sich überraschend häufig erhebliche Schnittmengen ergeben. Das gilt insbesondere für die religiöse Verarbeitung entsprechender Ereignisse, die vor allem im Topos der Naturkatastrophe als Gottesstrafe stattfand. Zwar war eine solche Sichtweise offenkundig nicht unwiderstehlich, wie etwa Christian Rohr am Beispiel der Historia Francorum Gregors von Tours zeigt: Dessen Interpretation kosmischer Zeichen dokumentierte vor allem seine persönliche Unsicherheit. Aber gerade vor dem Hintergrund solcher abweichender Resultate ist es bemerkenswert, dass schon im alten Rom der Topos der Gottesstrafe bekannt war. Kann es sein, dass Naturkatastrophen in religiösen Gesellschaften eine transzendierende Interpretation erzwingen, da das in solchen Situationen offenbar werdende Leiden sonst allzu arge religiöse Zweifel säen würde? Interessant sind in diesem Zusammenhang Manfred Jakubowski-Tiessens Bemerkungen zu den Physikotheologen des 18. Jahrhunderts, die Gottes Allmacht, Weisheit und Güte in den vielen kleinen „Wundern der Natur“ aufzuzeigen suchten, damit jedoch zugleich zur Popularisierung nichtreligiöser Deutungsmuster beitrugen.

„Integrationsprozesse“ heißt einer der fünf Abschnitte, in die die Herausgeber die insgesamt 18 Beiträge gruppiert haben. „Von der Religion zur Nation“ hätte ein etwas pointierterer Titel lauten können; denn offenkundig löste die Nation in der Neuzeit die Religion als zentralen Interpretationsrahmen von Naturkatastrophen ab. Für das 19. Jahrhundert zeigt Christian Pfister, wie Naturkatastrophen als nationale Mobilisierungsereignisse fungierten und damit im Schweizer Rahmen als funktionales Äquivalent erinnerungswürdiger Kriege und Schlachten dienten, an denen es den Schweizern im 19. Jahrhundert nun einmal mangelte. Ähnliche Zusammenhänge identifizieren auch Martin Döring in seinem Beitrag über die Oderflut 1997 und Stefan Kramer in seinem Aufsatz über die Fernsehdokumentation Juesheng über die Flutkatastrophe am Yangzi-Fluss 1998, obwohl die Überformung im chinesischen Fall eine ungleich größere propagandistische Zuspitzung besaß als das im Vergleich ziemlich harmlos erscheinende Gerede über das zusammenwachsende Deutschland. Aber gerade der Beitrag Dörings weckt nach der zwischenzeitlichen Elbeflut des Jahres 2002 doch gewisse Zweifel, denn diese ist schon anderthalb Jahre später nur noch als Steigbügel für Gerhard Schröders Wiederwahl im kollektiven Gedächtnis der Deutschen präsent. Offenkundig haben Naturkatastrophen etwas Bienenartiges: Sie stechen, und dann sterben sie.

Es gehört zu den erfreulichen Aspekten dieses Bandes, dass er auch die Rolle der Medien ausführlich thematisiert. Zu Recht verweist Kay Kirchmann dabei auf Siegried Kracauers Vermutung einer grundsätzlichen Affinität audiovisueller Massenmedien zur Katastrophendarstellung; und das entsprechende „emplotment“ präsentiert sich in diesem Band als lohnendes Thema. Weniger einleuchtend ist hingegen, dass auch Pest und Syphillis in diesem Band zu den Naturkatastrophen gezählt werden. Auch wenn die entsprechenden Beiträge von Neithard Bulst und Tilmann Walter zu den besten des Bandes gehören – die Naturkatastrophen werden als historisches Thema wohl überspannt, wenn sie auch noch die Medizingeschichte zu subsumieren suchen. Und wenn man am Ende den schönen Aufsatz Stefan Siemers über Wölfe im Paris des 15. Jahrhunderts liest, dann wird deutlich, dass die Definition des Katastrophalen in diesem Band mindestens ebenso anfechtbar (weil historisch kontingent) ist wie die Zuschreibung zur Natur. Die einleitenden Überlegungen der Herausgeber zur Definition einer Naturkatastrophe sind deshalb sehr angebracht. Ob sie freilich ausreichen, ein Forschungsfeld auf Dauer zu demarkieren, wird abzuwarten sein. Und da liegt wohl auch das Grundproblem dieses Bandes.

Denn wenn man diesen Band nicht als Akkumulation von zumeist sehr lesenswerten Einzelbeiträgen sieht, sondern als Momentaufnahme der geistes- und sozialwissenschaftlichen Erforschung von Naturkatastrophen, fällt das Ergebnis eher zwiespältig aus. Zwar sind Bedeutung und Wert entsprechender Forschung durch das zumeist hohe Niveau der Beiträge nachdrücklich dokumentiert – aber zugleich fällt es merkwürdig schwer, eine Agenda für die künftige Forschung zu erkennen. Gerade ein Querschnittsthema wie Naturkatastrophen bedarf schließlich attraktiver Leitfragen, wenn das entsprechende Forschungsfeld mehr sein will als ein Sammelpunkt disperser Einzelstudien. Was aber sind die Fragen, an denen sich gerade jüngere Forscher im hiesigen Themenfeld werden abarbeiten können? In ihrer Einleitung fragen die Herausgeber, „ob nicht in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Naturkatastrophen allgemeine Muster festzustellen sind“ (S. 24). In der Tat lassen die Beiträge des Bandes die Vermutung überzeitlicher anthropologischer Konstanten nicht völlig abwegig erscheinen – nur wäre dies eine schlechte Nachricht für all jene, die sich der historischen Erforschung der Wahrnehmung und Deutung von Naturkatastrophen widmen. Denn dann wäre diese Forschung letztlich dazu verdammt, in unterschiedlichsten Kontexten die immergleichen Reaktionsmuster zu identifizieren.

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