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Titel
Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom


Autor(en)
Flaig, Egon
Reihe
Historische Semantik 1
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 36,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Ronning, Seminar für Alte Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Egon Flaig legt mit seinem Buch zur ‚Ritualisierten Politik' im Alten Rom den Eröffnungsband einer neuen Reihe vor, die sich der Erforschung der historischen Semantik verschrieben hat. Flaigs spezifisches Ziel ist es, aufbauend auf Arbeiten von Paul Veyne, Claude Nicolet und Jean-Michel David "die semiotischen und sozialen Komponenten rituellen Verhaltens und ritualförmiger Prozesse" bzw. "die performativen Elemente in der öffentlichen Kommunikation antiker Gemeinwesen" (S. 9), hier bezogen auf Rom, in den Blick zu nehmen. Eine Übersicht über den Ritualbestand der römischen Res publica ist jedoch ausdrücklich nicht angestrebt. Wie Flaig zu Recht anmerkt, hat sich außerhalb Frankreichs diese Fragestellung bislang vor allem in der Mediävistik und der Frühneuzeit-Historik etabliert; in Deutschland vermochte sie nicht zuletzt durch Forschungen Gerd Althoffs auf dem Gebiet der "Symbolischen Kommunikation" Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Flaig erhebt vor diesem Hintergrund einen hohen Anspruch: Er will zum einen die bisher in diesem Zweig der Forschung vorgelegten divergierenden und bisweilen inkonsistenten Ansätze auf ihre Belastbarkeit und Erklärungskraft hin überprüfen, zum anderen in einer "theoriegesättigten Darstellung" (S. 11) anhand von Fallanalysen eine "Pragmatik" der römischen Politik nach Art einer "generativen Grammatik" vorlegen. Wie schon in früheren Publikationen Flaigs sind auch hier Max Weber und Pierre Bourdieu die gewichtigsten Referenzfiguren für seine Vorgehensweise. Kontrafaktisch fragend, spürt Flaig einem "Raster von objektiven Möglichkeiten" nach. Dies ist durchaus als eine Herausforderung traditioneller historischer (insbesondere althistorischer) Denk- und Arbeitsweisen gemeint, was sich auch in einem bewusst knapp gehaltenen Anmerkungsapparat und dem Postulat, sein Verfahren gestatte die "Konstruktion von notwendigen Sachverhalten - auch ohne Quellen" (S. 260), niederschlägt.

Flaigs Buch gliedert sich in elf Kapitel, die zu einem großen Teil auf bereits an anderen Orten publizierten Aufsätzen des Verfassers basieren (ein Umstand, der im Vorwort leider nicht erwähnt wird). Die Untersuchung erstreckt sich vor allem auf die Zeit der mittleren und späten Republik, mit einigen Ausflügen in den frühen Principat. Flaig behandelt zunächst grundlegende Strukturmerkmale der Res publica und fragt nach den Gründen für die erstaunliche politische Opferbereitschaft und "Gehorsamstiefe" (S. 13) der Plebs. Hierbei rückt er das römische Klientelwesen in den Mittelpunkt, das überzeugend als Sonderfall eines Patronage-Systems bestimmt wird. Schlüsselbegriffe seiner Analyse, die auch im weiteren Verlauf des Buches mehrfach wiederkehren, sind "Kontaktfrequenz", "Umgänglichkeit", "Personalisierung" und "Affektbesetzung" (S. 19); durch habitualisierte "Jovialität" (S. 24) gelinge es der Senatorenschaft, die bestehende soziale Distanz zwischen Herrschern und Beherrschten symbolisch zu überbrücken und das Vertrauen der nichtaristokratischen Bevölkerung zu binden. Es schließen sich Kapitel über den Triumph (2) und die Pompa Funebris (3) an, darauf aufbauend ein synoptischer Abschnitt zur römischen Memorialpraxis (4). Ein zweiter Komplex von Untersuchungen (5-7) widmet sich "zwingenden Gesten", dem Appellwert von Narben sowie Ritualen der Rache im gerichtlichen und außergerichtlichen Raum. Die drei folgenden Kapitel (8-10) gelten vor allem dem Stellenwert und der Funktion von Comitia und Contiones. Den Abschluss des Buches bildet ein Kapitel (11), in dem Flaig die Spiele und insbesondere die Gladiatur untersucht.

Ausgehend von einer grundsätzlichen, für das Überleben des politischen Systems essentiellen Konsensorientierung römischer Politik entwickelt Flaig ein in Teilen neues, vor allem aber ein dynamisches Bild der Republik, in dem die Senatorenschaft als politisch initiative Kraft, die Plebs jedoch als "Wächter über Konsens und Einheit" (S. 107) erscheint. Mit Zeichen und Gesten demonstrieren die beiden Statusgruppen ihre Verbundenheit, aber auch ihren Dissens. Die okkasionell aufbrechende Widerspenstigkeit der Plebs hatte ihren institutionellen Ort nicht in den Comitien, die - wie Flaig glänzend nachweist - als Konsensorgan fungierten, sondern in den Contiones. Hier konnten die antragstellenden Versammlungsleiter die "Präferenzstärke" (S. 195) sowohl ihrer Standesgenossen als auch der Plebs messen: Stand die Aristokratie geschlossen hinter dem Antrag beziehungsweise geschlossen gegen ihn? War die Plebs "politisiert" genug, um Vorhaben der Senatorenschaft die Stirn zu bieten? Flaig zufolge war sie es immer dann, wenn sie Grundwerte der Res publica gefährdet sah. Oder war ein Konsens zu erzielen? Und was würde er kosten? Im Zweifel war aber auch das entsprechend inszenierte Nachgeben eine Tugend, die mit einem Karrieresprung honoriert wurde. Um sich hier durchzusetzen, war der einzelne Aristokrat darauf verwiesen, symbolisches Kapital - etwa in Form von Triumphen, Ahnenmasken oder im Zweikampf empfangenen Narben - zu akkumulieren und immer wieder zu investieren, dabei aber auch den Verlust dieses Kapitals zu riskieren. Mit "Performanzen" (nach Flaig: Gesten und Akte, S. 20) versuchte man, auf die anderen Akteure einzuwirken und sie emotional zu beteiligen. Ein erfolgreicher römischer Politiker musste daher nicht allein über technische - militärische, administrative und rhetorische - Fähigkeiten verfügen; er musste in der Lage sein, sich situationsadäquat aus dem Zeichenrepertoire zu bedienen und die gewählten Zeichen mit "dramatischer Virtuosität" (S. 113) umzusetzen. Welche Bedeutung und welche Durchschlagskraft diese Zeichen allerdings hatten, entschied sich erst in der Aktualisierung.

Flaigs Fallanalysen sind vor allem eine Auseinandersetzung mit älteren (und auch einigen jüngeren) staatsrechtlichen Ansätzen, die die Res publica als ein System von Institutionen mit definierten, fixen Kompetenzen auffassen. Seine Kritik gilt darüber hinaus Erklärungsversuchen, die auf einer wie auch immer gearteten historischen Psychologie beruhen. Und schließlich stellt er sich einer neueren Forschungsrichtung entgegen, die mit Clifford Geertz Geschichte als Text begreifen will. Gegen sie alle legt er als ein Vertreter der anthropologischen Soziologie das "Veto der Praxeologie" (so der Titel eines Unterkapitels) ein. Flaig plädiert mit der bekannten gedanklichen und argumentativen Schärfe dafür, weder institutionelle Kompetenzen noch bestimmte Zeichenwerte für gegeben zu erachten. Was ‚Politik' in Rom ausmacht, sei allein mit einer Beschreibung der Institutionen und der Semantik nicht zu erfassen, geschweige denn zu verstehen. Es müsse darum gehen, jeweils die kulturell vermittelten Vorstellungen der Akteure, ihre Machtposition und Gruppeninteressen sowie die Kommunikationssituation bei der Interpretation zu berücksichtigen und ex eventu-Schlüsse zu vermeiden.

Von besonderem Wert sind diese Einwände Flaigs vor allem mit Blick auf neuere Tendenzen, historische Semantik absolut zu setzen und aus dem Einsatz einzelner Zeichen eine distinkte Wirksamkeit zu folgern. Aus methodischer Sicht ist das sechste Kapitel "Auf Narben weisen - Zur Kritik kultureller Semantik" daher eigens hervorzuheben. Flaig löst hier seinen Anspruch einer diskursiven Darstellung mustergültig ein. So ist sein Buch immer dann am überzeugendsten und inspirierendsten, wenn der Leser nicht apodiktisch mit einem Forschungsansatz konfrontiert wird, sondern die Chance erhält, dem Historiker bei der Arbeit über die Schulter zu schauen. Doch gilt dies nicht für alle Kapitel gleichermaßen, Transparenz wechselt sich mit einer suggestiven Darstellungsweise ab, die eine kritische Überprüfung der vorgelegten Ergebnisse bisweilen erschwert. Dazu trägt auch Flaigs Entscheidung gegen einen umfangreicheren Anmerkungsapparat bei. Obschon die programmatische Abkehr von der zum Teil ausufernden deutschen Fußnotenpraxis zu begrüßen ist, wird die Reduktion hier doch des Öfteren zu weit getrieben - und die Fußnote zudem zur wenig benutzerfreundlichen Endnote degradiert.

Angesichts der dezidierten Theorieorientierung Flaigs überrascht sein Verzicht darauf, zentrale Begriffe zu definieren und sich hier innerhalb der (theoretischen) Forschung zu positionieren. So enthält er dem Leser vor, was unter Ritual zu verstehen, wie es von Zeremoniell oder Verfahren abzugrenzen ist (andeutungsweise etwa S. 167, 222ff.). Ähnliches gilt für das Verhältnis von Ritual und Inszenierung. Ist jede Inszenierung ein Ritual? Wie steht der von ihm oft gebrauchte Terminus Performanz zum Begriff des Rituals? Was sind "ritualförmige Prozesse", was ist "rituelles Verhalten"? Verwirrend ist es auch, wenn die Comitien an der einen Stelle als Organ, an einer anderen als Institution, dann wieder als Ritual angesprochen werden. Dies mag im Einzelnen seine guten Gründe haben, sie werden jedoch nicht oder nur kursorisch expliziert. Angesichts einer in den letzten Jahren stark anwachsenden, von mehreren Fächern getragenen Forschungstätigkeit und einer Vielzahl von Ritualschulen wäre Klarheit auf diesem Gebiet äußerst wünschenswert, zumal die von Flaig verwendeten Begriffe je nach Forschungsrichtung mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen befrachtet sind. Damit ist kein Bekenntnis zu einer bestimmten Schule gefordert, vielmehr eine vor Missverständnissen schützende Verdeutlichung der eigenen Sprache. So ist nicht zuletzt der Titel des Bandes, "Ritualisierte Politik", auch im Licht der von Flaig vorgelegten Ergebnisse problematisch. Der Titel vermittelt den Eindruck, ‚Politik' als autonome Größe sei in Rom von einem bestimmten Punkt an gewissermaßen nachträglich ‚ritualisiert' worden. Flaig zeigt aber gerade, dass seit der frühesten, quellenmäßig überhaupt erfassbaren Zeit römische Politik immer eine Politik der "Performanzen" gewesen ist; Herrschaft im Alten Rom ist von Beginn an und untrennbar mit Zeichen und Gesten verbunden. In dieser Hinsicht ist es bedauerlich, dass das Buch über keinen Schlussteil verfügt; ein solcher hätte gerade diese terminologischen Fragen klären, den Ansatz Flaigs verdichtet darstellen und somit auf dem Markt der kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze klarer positionieren können.

Das "Politische unter dem Aspekt der Ritualität" zu betrachten (S. 9), stellt - wie Flaigs innovatives und engagiertes Buch belegt - einen äußerst lohnenden Ansatz dar, der geeignet ist, unser Bild von antiken Gesellschaften und ihren Funktionsweisen entscheidend zu verändern. Egon Flaig macht es seinem Leser nicht immer leicht, bietet ihm aber eine Fülle von neuen Aspekten, Fragestellungen und Methoden; konsequent und auf breiterer Basis angewendet, besitzen sie das Potential, die Alte Geschichte mehr noch als bisher der interdisziplinären und vergleichenden Forschung zu öffnen.

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