M.T. Fögen: Römische Rechtsgeschichten

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Titel
Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems


Autor(en)
Fögen, Marie Theres
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 172
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
230 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido Kirner, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

"Aufrichtigkeit" - so Richard Rorty in bezug auf das Schreiben von Geistesgeschichte - heißt "die Möglichkeit im Gedächtnis zu behalten, daß wir unsere der Selbstrechtfertigung dienenden Gespräche nicht mit historischen Gestalten, ja nicht einmal mit ideal umerzogenen historischen Gestalten führen, sondern mit Geschöpfen unserer eigenen Einbildung." Der Satz liest sich wie eine Provokation für jene Historiker, die Sinn und Legitimation ihrer wissenschaftlichen Praxis darin erkennen, die narrativ überlieferten Fiktionen aus der Welt der historisch vermeintlich gesicherten Fakten zu verbannen. Zum einen beruht dieser Vorsatz aber selbst auf (methodischer) Einbildungskraft, zum anderen sind Imaginationen kulturelle Schöpfungen, die es selbst erst einmal zu erklären gilt. Beides trifft insbesondere auf die historische Rekonstruktion der Anfänge des römischen Rechts zu, bei der wir es rezeptionsgeschichtlich mit einer ganzen Kette legitimatorischer Imaginationen zu tun haben, zumal bereits die Römer des ersten vorchristlichen Jahrhunderts die Ursprünge ihres Rechtssystems nicht mehr kannten und sich statt dessen ihre eigenen Geschichten darüber erfanden. Besonders deutlich wird dies an heutigen Editionen des sogenannten Zwölftafelgesetzes. Dieses Produkt der modernen romanistischen Forschung überliefert, kodifiziert und kanonisiert einen "Gedächtnistext" der Römer, der bereits in der römischen Republik ein virtueller Text war und von dem kein Mensch der Antike behaupten konnte, ihn je gesehen zu haben (S. 71-73).

Die Juristin Marie Theres Fögen - Professorin für Römisches Recht an der Universität Zürich und Direktorin am Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte - zieht deshalb die Konsequenz, die einschlägigen Texte der Römer von der Tyrannei der Differenz zwischen Fakten und Fiktionen zu befreien, welche die historische Forschung weithin bestimmt hat. Dabei vollzieht sie nicht zuletzt in Anlehnung an die Systemtheorie Niklas Luhmanns einen doppelten Befreiungsschlag: Zum einen befreit sie sich vom Anspruch einer Beobachtung erster Ordnung (wie es eigentlich gewesen ist) und behandelt die antiken Sensationsgeschichten bei Livius, Dionysios u.a. als eine Form der Selbstbeschreibung von der Geburt und Evolution ihres Rechtssystems (S. 16f.); zum anderen löst sie sich vom kausalen Entwicklungsbegriff historischer Zwangsläufigkeiten des fortschrittsoptimistischen 19. Jahrhunderts und rekurriert stattdessen auf evolutionstheoretisches Instrumentar (Variation, Selektion, Restabilisierung). Der mythenhafte Charakter der von den Römern tradierten Geschichten braucht folglich nicht mehr als Hindernis begriffen werden, sondern versteht sich als verlockende Chance für die Beobachtung zweiter Ordnung, d.h. zu erfahren, auf welche Art und Weise sich die Römer erklärten, "wie es zu diesem singulären, merkwürdigen und meisterhaften Recht kommen konnte, das wir als römisches Recht kennen" (S. 19). Auf dieser methodischen Grundlage werden dann in fünf Kapiteln "Rechtsgeschichten" behandelt, die seit den von Niebuhr, Mommsen u.a. aufgestellten quellenkritischen Standards kaum mehr ernsthafte Erwähnung in wissenschaftlichen Werken fanden.

Die erste Geschichte berichtet von der Entstehung der Republik. Die Römer erklärten sich die Unwahrscheinlichkeit der Systemveränderung in Form eines Skandals. So wird überliefert, wie die tugendhafte Lucretia (508 v.Chr.) die Vergewaltigung des Königssohns Sextus Tarquinius über sich ergehen ließ, da er sie andernfalls zusammen mit ihrem Lieblingssklaven ermordet und nackt in ein Bett gelegt hätte, um zu behaupten, er habe beide bei der Unzucht erwischt und sogleich bestraft. Tags darauf gesteht Lucretia in der Öffentlichkeit, was ihr angetan wurde, und wählt sogleich den Freitod zur Sühnung ihrer Schande. In der allgemeinen Empörung kommt es unter der Initiative des Brutus zum öffentlichen Schwur, das Königsgeschlecht zu vertreiben, sowie zu dem Beschluss, eine neue Staatsordnung einzurichten. Nach Fögens Interpretation steht Lucretia für den Staat, der vergewaltigt wurde. Da die Gewalt dabei über die Tugend siegte, musste nach römischer Vorstellung zur Versöhnung der Götter ein supplicium erbracht werden. Der Selbstmord der Lucretia ermöglichte es der neuen republikanischen Ordnung, nicht mit der Last des besudelten Anfangs ins Leben zu treten. In der offenen Kontingenz der Entscheidungssituation, wie der neue Staat einzurichten sei, kommt es zur Umbenennung und Verdopplung der alten Struktur: In der nun eingerichteten Republik werden Brutus und Collatinus (der nun verwitwete Ehemann der Lucretia) zu den ersten beiden Konsuln gewählt. Zugleich wird die Macht, die sich fast noch im Naturzustand befunden hatte, "in von Menschen geplante, formierte, strukturierte und legitimierte Macht transformiert. Lucretias Tod ist der Auslöser von Variation und der symbolisch aufgeladene Abschied von unreiner Vergangenheit" (S. 36).

Die zweite Geschichte erzählt ebenfalls vom Tod einer tugendhaften Heldin. Sie spielt zur Zeit des gerade erst durch ein Zehnmännerkollegium (Dezemvirat) erlassenen Zwölftafelgesetzes (449 v.Chr.), das die Römer als den Anfangspunkt ihrer Rechtsgeschichte darstellten. Erstaunlicherweise wird für die Anwendung dieses Gesetzes sogleich von Willkür und Rechtsbruch berichtet. So begehrte der damals mächtigste Mann im Staat, Appius Claudius, die schöne Jungfrau Verginia. Um indirekt in ihren Besitz zu gelangen, stachelt er einen seiner Klienten an, Anspruch auf sie mit der Behauptung zu erheben, Verginia sei die Tochter einer seiner Sklavinnen und damit sein Eigentum. Darüber kommt es auf dem Forum zum Prozeß, bei dem Appius Claudius selbst Richter ist. Unter Bruch gegen den von ihm einst selbst als Dezemvir eingebrachten Rechtsgrundsatz zur Feststellung des Personenstatus spricht er Verginia seinem Klienten als Sklavin zu. Ihr Vater sieht deshalb keine andere Möglichkeit, als Verginia beiseite zu nehmen und vor aller Augen mit dem Ausruf zu erdolchen, nur so könne er die Freiheit seiner Tochter bewahren.

Fögen deutet das Verfahren als die große Auseinandersetzung zwischen Gewalt und Recht, die um den Schlüsselbegriff der Vindikation als Vermittlungsformel kreist. Im Urprozess der römischen Rechtsgeschichte triumphiere die nackte Gewalt über Sprache und Recht. Mit Appius Claudius erscheine die merkwürdige Figur des "Gesetzgeber-Gesetzesbrechers" (S. 102), die unentbehrlich sei, um im Zeitraffer die Genese des römischen Rechtssystems zu repräsentieren. In ihr zeige sich die Brüchigkeit der Satzung, die über das kontrastierte Unrecht den Konstitutionsakt des Rechts überhaupt erst sichtbar macht (S. 104). Die Opferung der Tochter durch den Vater verkörpere die Vorstellung, die Republik "aus der Unterdrückung in die Freiheit 'vindiziert' zu haben" (S. 106f.). Fögen nimmt die Geschichte zum Anlass, weitere Merkmale der Überlieferung zum Zwölftafelgesetz zu erörtern, so u.a. die angebliche Anleihe bei den solonischen Gesetzen, die pythagoräischen Einflüsse bei Livius, der fehlende Einfluss von Göttern, Philosophen oder Gedanken an eine höhere Ordnung im Zwölftafelgesetz selbst sowie die Änderungsphobie der Römer, wie sie in der Geschichte von der Hybris der Vollständigkeitssucht des zweiten Zehnmännerkollegiums zum Ausdruck kommt.

Nach diesen beiden Gründungslegenden zur Staats- und Rechtsform wird für das Jahr 304 v.Chr. noch das Anekdötchen erzählt, wie der Schreiber Gnaeus Flavius im Dienst des berühmten Patriziers Appius Claudius Caecus, ein Urenkel des oben genannten Dezemvirn, seine heimliche Abschrift der Klageformeln und des Gerichtskalenders veröffentlichte. Der Anlass war, dass die Patrizier die Rechtmäßigkeit seiner Wahl zum kurulischen Ädilen anzweifelten, die bisher für einen Sohn eines Freigelassenen undenkbar war. Seine Kopie bewirkte, dass das Recht dem exklusiven Wissen der Priesterkollegien entzogen wurde, die sich aus Mitgliedern der angesehenen Patrizierfamilien zusammensetzten und den Senat und andere Staatsorgane berieten. Die einstige Öffnung des Rechts aufgrund seiner schriftlichen Fixierung implizierte die Gefahr der unendlichen Auslegung und potentiellen Beliebigkeit, so dass seine operative Schließung mittels der Verwaltung durch die Priesterkollegien bewerkstelligt wurde. Die erneute Öffnung des Rechts durch den Schlag gegen ihr Rechtsmonopol behandelt Fögen im Zusammenhang mit dem Eingang der Plebejer in die Priesterkollegien (lex Ogulna 300 v.Chr.), der sozialgeschichtliche Stellung der Schreiber, der Bedeutung der Claudierfamilie für die Popularisierung des Rechts sowie den Einflüssen der Geldwirtschaft auf die Rechtsentwicklung.

Im nächsten Kapitel wird die erneute operative Schließung des Rechts auf verbreiterter sozialer Grundlage abgehandelt. Ohne Sensationsgeschichtchen versteht es sich als Abriss zur Entfaltung und Professionalisierung des römischen Rechtswesens: Renaissance des Zwölftafelgesetzes, Rückzug der Juristen aus dem öffentlichen Leben, Schulstreit zwischen Sabinianern und Prokulianern; originell ist Fögens Funktionsbeschreibung der Klageformeln beim Legisaktionsverfahren als "Thermostat" des Rechts. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt auf der Frage nach dem Verhältnis zwischen Recht und Politik. Fögen kommt zu dem Ergebnis, daß in den ersten 150 Jahren nach Gnaeus Flavius das Rechtswesen keineswegs funktional ausdifferenziert wurde. Vielmehr verstand es sich als "Appendix eines Universalwissens", dessen Kenner zugleich auch erfolgreiche Männer des Gemeinwesens sein mussten. Recht wurde von nun an von Honoratioren betrieben und durch die politischen und sozialen Strukturen der römischen Gesellschaft kontrolliert (S. 175). In rechtsgeschichtlichen Abhandlungen steht zumeist das Amt des Prätors "als Hüter des Zivilrechts" im Mittelpunkt. Fögen legt dar, wie eine Vielzahl an Liviusstellen diesbezüglich irritierend wirken, wenn hier die Prätoren alles tun, was auch den anderen hohen Amtsträgern in militärischen und zivilen Angelegenheiten obliegt, nur eines nicht: Sie sprechen kein Recht, erlassen kein Edikt und verkünden keine Formel (S. 193). Deshalb vertritt sie die These, dass die Juristen, die selbst keine Prätoren, Konsuln oder Pontifices mehr waren, ihr Recht durch die Einleitungsformel praetor ait mit dem Gewaltkapital des Magistraten ausstatteten, um so die Brücke zwischen Recht und Politik zu schlagen. Mit dieser Simulation habe sich das Recht im Konsens mit Nichtjuristen bei der Politik geholt, was es braucht: "Den politischen Segen für die Texte und die strukturelle Kopplung der Staatsgewalt" (S. 198).

Mit dem Herrschaftsantritt des Augustus holte sich die Politik von nun an aber auch vom Recht, was es brauchte. So behandelt das letzte Kapitel die ambivalente Autonomie des Rechts während der Kaiserzeit. Die Kaiser schafften es, zumindest eine partielle Kontrolle über die Juristen zu erlangen, indem sie einigen von ihnen das ius respondendi gewährten und sie damit in den Rang des privilegierten Rechtsberaters erhoben (S. 203ff.). Abgesehen von dieser Hierarchisierung des Juristenstandes entdeckten die Kaiser seit Augustus zudem die Gesetzgebung (auch im Zivilrecht) als Mittel der Regierungspolitik. Doch wird es noch einige Jahrhunderte dauern, bis die kaiserliche Rechtssetzung und die Einbindung von Juristen in die kaiserliche Bürokratie das Zukunftsmodell der strukturellen Kopplung zwischen Politik und Recht wurde (S. 206). In der Zwischenzeit konnte der Juristendiskurs eine gewisse Unabhängigkeit bewahren. Das zwiespältige Verhältnis zur politischen Macht repräsentieren zwei Juristencharaktere: Tacitus berichtet, wie Augustus den unterwürfigen und opportunistischen Capito förderte, damit er den mit unbestechlichem Freiheitssinn ausgestatteten Labeo in seiner Ämterlaufbahn überholen konnte. An den beiden Haltungen schieden sich die politischen Geister der Historiker und Schriftsteller der Kaiserzeit. Den Juristen Pomponius hingegen interessierte nur noch die professionelle Einstellung: "Wer, wie Capito, politische Karriere macht, ist als Jurist nicht viel wert"; Labeo hingegen ist "professioneller Jurist, der in Einsamkeit und Freiheit forscht und lehrt" (S. 203).

Abschließend skizziert Fögen noch einmal prägnant die Eigenheiten des römischen Rechts im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Bereichen (Religion, Wirtschaft, Politik, Militär). Seine Sonderstellung führt sie darauf zurück, dass es sich "am frühesten und stärksten aus der Ursuppe gesellschaftlicher Kommunikation ausdifferenzierte"; so etablierte es eine eigene Fachsprache, bildete seine Fachleute unter zunehmender Missachtung ihrer sozialen Herkunft aus, fand eigene Diskursformen und entwickelte relativ abstrahiert von der Lebenswelt seine ganz spezifischen Beobachtungsformen (S. 210). Seine Leistung für seine Umwelt (vor allem im Streit um Besitz) bestand darin, die Gewalt zu kanalisieren und erhöhte Erwartungssicherheit zu garantieren (vgl. S. 130). Aber Anzeichen dafür, dass die Politik diese Leistung verlangt, gefördert oder gelenkt hätte, vermag Fögen zumindest für die Zeit der Republik nicht zu erkennen. Dafür war es aber vor Kritik, Anfeindungen und Vorwürfen gesichert. So verdanke sich die Evolution des römischen Rechts vermutlich der lange ausbleibenden Koevolution anderer gesellschaftlicher Teilsysteme, besonders des politischen Systems. Wohl deshalb blieb es eine "einsame, hochgezüchtete Pflanze inmitten einer systemisch schwach kultivierten Umwelt" (S. 211f.).

Marie Theres Fögen hat diesem Gewächs mit seinen kulturellen Blüten einen vorzüglichen Erinnerungsort geboten. Abgesehen von der fachlichen Souveränität ihrer Darstellung in Verbindung mit einem unverkrampften Rekurs auf moderne theoretische Ansätze (abgesehen von Luhmann u.a. Assmann, Benjamin, Bourdieu, Derrida, Foucault, Simmel) sind nicht zuletzt ihre Exkurse zur Rezeptions-, Kultur- und Kunstgeschichte samt belebender Illustrationen zu würdigen. Rechtsgeschichte ist häufig eine sperrige Lektüre für Spezialisten. Fögens Rechtsgeschichten sind dagegen ein intellektueller Genuss für alle Interessierten.

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