P. Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland

Cover
Titel
Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute


Autor(en)
Reichel, Peter
Erschienen
München 2001: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 13,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Haß, Berlin

Peter Reichel verfolgt einen hohen Anspruch: Auf 250 Seiten soll ein Überblick über die vielfältige und umstrittene Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in einem Zeitraum von mehr als 50 Jahren gegeben werden. Das Buch ist in zehn Kapitel unterteilt. Neben einem Einleitungsteil, in dem Reichel seinen Ansatz und sein Vorgehen erläutert, und einem Schlussteil mit dem Titel „Erinnern und Gedenken“ liegen acht inhaltliche Kapitel vor: Entnazifizierung, Nürnberger Prozesse, Wiedergutmachung und Entschädigung, Remer-Prozess, Bewältigung der Vergangenheitsbewältigung, Antisemitismus, Auschwitz-Prozess und Verjährungsdebatten. In allen Kapiteln finden sich materialreiche Schilderungen der Ereignisse und hilfreiche Hinweise zu weiterer Literatur.

Eingangs legt Reichel sein Verständnis von „Vergangenheitsbewältigung“ dar. Hierbei zeigt sich, dass der Begriff ungenau ist. Reichel benennt dies, wendet den Begriff dann jedoch ausschließlich auf rechtliche und politische Versuche des Umgangs mit der NS-Vergangenheit an, ohne überzeugend zu begründen, warum er beispielsweise gesellschaftliche und künstlerische Versuche der Vergangenheitsbewältigung außer Acht lässt (S. 20). Hier wäre eine Berücksichtigung der Diskussion um weitere analytische Kategorien wie „Aufarbeitung der Vergangenheit“, „Geschichtspolitik“ und „Vergangenheitspolitik“ wünschenswert gewesen.1 Helmut König hat kürzlich darauf hingewiesen, dass Reichel den Terminus „Vergangenheitsbewältigung“ noch 1995 selbst als nicht hinreichend bezeichnet hat.2

Im ersten Kapitel schildert Reichel die Entnazifizierungsbemühungen der Alliierten und die Reaktionen der deutschen Bevölkerung. Nach anfänglicher Akzeptanz wandelten sich die Reaktionen schnell in offene Kritik und Versuche, die Entnazifizierung zu untergraben. Reichel kommt zu dem Schluss (S. 36): „Nach Lage der Dinge ist 1945 der Versuch einer – in ihrer massenhaften Dimension beispiellosen – politischen Säuberung ebenso unausweichlich gewesen, wie ihr Scheitern unter den gegebenen Umständen unvermeidlich erscheint.“ Für einen positiveren Verlauf wäre die Selbstbefreiung die Voraussetzung gewesen – und diese fand nicht statt, weil das NS-Regime „in hohem Maße auf ‚volksgemeinschaftlicher‘ Massenloyalität und Massenfaszination“ gründete (S. 37).

Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit den Nürnberger Prozessen. Neben der Darstellung des Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher gibt Reichel auch den Nachfolgeprozessen Raum. Aufgrund des geringen Umfangs kommt er hierbei nicht über die Nennung der verschiedenen Prozesse mit ihren Angeklagten und den Anklagepunkten hinaus. Für weitergehend Interessierte werden jedoch umfangreiche Literaturhinweise geliefert.

Die vielfältigen Versuche der Entschädigung und „Wiedergutmachung“ werden im vierten Kapitel geschildert. Entgegen den in der Öffentlichkeit weit verbreiteten und sich in ihrer Zielrichtung widersprechenden Meinungen, dass es entweder keine bzw. nur eine auf allen Ebenen mangelhafte Entschädigungspraxis gegeben habe oder dass die geleisteten Zahlungen völlig überdimensioniert gewesen seien, stellt Reichel die verschiedenen Phasen der Verhandlungen vom Londoner Schuldenabkommen über das Luxemburger Abkommen bis zur Zwangsarbeiterentschädigung Ende der 1990er-Jahre differenziert dar. Hierbei zeigt er die widerstreitenden Interessen, die auch auf deutscher Seite bestanden, anhand des Konfliktes zwischen der deutschen Delegation, die in Luxemburg über die Entschädigung der jüdischen Opfer verhandelte, mit Hermann Josef Abs. Dieser war zur gleichen Zeit deutscher Delegationsleiter in London, wo über die Begleichung der Schulden des Deutschen Reiches verhandelt wurde (S. 87). Anhand des Konfliktes wird deutlich, wie umstritten auf deutscher Seite generell die Berechtigung von Entschädigungsforderungen war. Der Schilderung der Zwangsarbeiterentschädigung Ende der 1990er-Jahre gibt Reichel wenig Raum und problematisiert auch die Bedeutung der Phase, in der diese Entschädigung stattfand – mehr als 50 Jahre nach dem Krieg –, nur unzureichend. Seiner Darstellung der Entschädigung als eines kontinuierlichen Prozesses, der letztlich erfolgreich verlaufen sei, kann lediglich bedingt zugestimmt werden. Hier wäre eine stärkere Berücksichtigung der Perspektive der ehemaligen Zwangsarbeiter wünschenswert gewesen.

Das Kapitel über den Remer-Prozess und den Umgang mit dem Widerstand des 20. Juli gehört zu den knappsten und gleichwohl spannendsten des ganzen Buches. Reichel schildert hier den Beginn der Versuche von Innenminister Robert Lehr, die Sozialistische Reichspartei (SRP) als nationalsozialistische Ideologie und Politik vertretende Partei zu verbieten. Ansatzpunkt hierfür waren die verleumderischen Attacken Ernst Remers auf die Widerstandskämpfer des 20. Juli. Fritz Bauer, damals leitender Staatsanwalt in Braunschweig, nutzte diese Verleumdungen im Prozess gegen Ernst Remer dazu, die Bedeutung des Widerstands gegen die Diktatur zu rechtfertigen und zu verteidigen. Nicht zuletzt aufgrund seines Engagements setzte eine allmähliche Neubewertung des deutschen Widerstandes ein. An diesem Kapitel zeigt sich, inwieweit die politischen Auseinandersetzungen der 1950er- Jahre in ihren geschichtspolitischen Implikationen bis in die Gegenwart reichen und nicht nur als Ereignisse der Vergangenheit verstanden werden können.

In den übrigen Kapitel des Bandes werden die Themenkomplexe Amnestie und Rehabilitierung, die Kriegsverbrecherfrage, antisemitische Skandale, der Auschwitz-Prozess als Beispiel der versuchten justiziellen Aufarbeitung und die Debatten des Bundestages zur Frage der Verjährung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen vorgestellt. Im Kapitel über den Auschwitz-Prozess widmet Reichel drei Angeklagten nähere Aufmerksamkeit. Dadurch gelingt es ihm, die besondere zeithistorische Situation und einige der Dimensionen des Frankfurter Prozesses eindrücklich herauszuarbeiten. Auch hier wäre aber eine stärkere Darstellung unterschiedlicher Perspektiven sinnvoll gewesen. Waren in der Gesellschaft der ehemaligen Täter und Mitläufer viele der Skandale, politischen Stellungnahmen und Rechtfertigungen nur schwer erträglich, so müssen sie für die Opfer und deren Angehörige besonders demütigend gewesen sein. Ein solcher Perspektivwechsel wäre ein guter Ansatzpunkt gewesen, um aus heutiger Sicht die unterschiedlichen Versuche der Vergangenheitsbewältigung kritisch zu betrachten. Dies gilt auch bei Reichels doch eher skizzenhaften Anmerkungen zur Entwicklung der 1970er- bis 1990er-Jahre. Das Holocaust-Museum in Washington D.C. bedarf beispielsweise der Kontextualisierung innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft - ansonsten reproduzieren viele Stellungnahmen eher Klischees, als dass Zusammenhänge verständlich gemacht werden.3

Trotz der lesenswerten und gut dargestellten Teile des Buches müssen einige prinzipielle kritische Anmerkungen gemacht werden. Die Einzelkapitel sind in sich durchaus schlüssig, aber sie geben keinen umfassenden Überblick über die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland von 1945 bis in die Gegenwart (wie es der Titel eigentlich verspricht). Sie sind ein guter Einstieg in die Beschäftigung mit dem Thema Vergangenheitsbewältigung in den 1950er und 1960er Jahren vornehmlich in der Bundesrepublik Deutschland. Die besondere Situation in der DDR wird immer wieder aufgegriffen, es bleiben jedoch große Lücken bestehen.

Die Auseinandersetzungen von den 1970er-Jahren bis ins Jahr 2001 kommen nur als Randnotizen und Anhänge in den einzelnen Kapiteln sowie als Kurznotizen im Schlusskapitel vor. Die Bedeutung des Kniefalls von Willy Brandt in Warschau, die TV-Serie „Holocaust“, die Rede Richard von Weizsäckers zum 8. Mai 1985, der Bitburg-Skandal, der Historikerstreit, die Jenninger-Rede, die Goldhagen-Debatte, der 50. Jahrestag des Kriegsendes, der Streit um die Wehrmachtsausstellung(en), die Walser-Bubis-Debatte – um nur einige der großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu nennen – fehlen oder werden nur angerissen, ohne sie analytisch zu fassen. Dies gilt ebenso für die Entwicklung der Gedenkstätten in der Bundesrepublik während der letzten 25 Jahre, die Entstehung und Bedeutung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten in der DDR sowie die veränderte „Gedenkstättenlandschaft“ seit Anfang der 1990er-Jahre.

Der Versuch, die Eingrenzung des Themas über eine Definition von Vergangenheitsbewältigung als rein politischer und justizieller Bewältigung unter Auslassung gesellschaftlicher Prozesse zu begründen, erweist sich als zu formal, inhaltlich nicht schlüssig und letztlich nicht überzeugend. Das ist ärgerlich, und man wird den Verdacht nicht los, dass der vollmundige Titel vor allem den Verkauf fördern soll.4 Es zeigt sich, dass die jeweils 40-jährige Geschichte der (alten) Bundesrepublik und der DDR inzwischen selbst zu einem zeitgeschichtlichen Forschungsfeld geworden ist und sich nur schwer in einem knappen Überblicksband fassen lässt.5 Dieses anzuerkennen und auch im Titel deutlich zu machen hätte dem ansonsten lesenswerten Buch von Peter Reichel gut zu Gesicht gestanden.

Anmerkungen:
1 Für ein Verständnis der Situation in den 1960er Jahren nach wie vor wichtig: Adorno, Theodor W., Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt am Main 1963, S. 125-146. Aus der neueren Diskussion: Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996; Wolfrum, Edgar, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948–1990, Darmstadt 1999.
2 König, Helmut, Die Zukunft der Vergangenheit. Der Nationalsozialismus im politischen Bewusstsein der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2003, S. 8. König selbst verwendet den Begriff ebenfalls. Er konstatiert vier „lange Wellen“ der Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik: 1945–1949, 1950–1960, 1960–1990 und die Zeit nach der Vereinigung. Stärken und Schwächen von Königs Ansatz können hier nicht diskutiert werden. Siehe auch http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-020 (Rezension von Jan-Holger Kirsch).
3 Vgl. Haß, Matthias, Gestaltetes Gedenken. Yad Vashem, das U.S. Holocaust Memorial Museum und die Stiftung Topographie des Terrors, Frankfurt am Main 2002.
4 Ähnliches ließ sich schon bei Novicks Buch „Nach dem Holocaust“ feststellen. Im Klappentext fehlte jeglicher Hinweis darauf, dass sich der Autor ausschließlich mit der Situation in den USA beschäftigt hat. Vgl. Novick, Peter, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, München 2001.
5 Als eines der zuletzt erschienenen Bücher ist ein Sammelband zu nennen, in dem Kontinuitäten und Brüche zwischen dem Nationalsozialismus und der Bundesrepublik analysiert werden: Herbert, Ulrich (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002. Vgl. neuerdings auch Berg, Nicolas, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003.

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