F. Bajohr: "Unser Hotel ist judenfrei"

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Titel
"Unser Hotel ist judenfrei". Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Bajohr, Frank
Reihe
Fischer Geschichte 15796
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: S. Fischer
Anzahl Seiten
233 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Owzar, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Schon vor zehn Jahren hat Ruth Gay in ihrer Geschichte der Juden in Deutschland auf ein Phänomen aufmerksam gemacht, in dem sich gleichermaßen die Ausgrenzung als auch die Selbstisolation deutscher Juden im Kaiserreich manifestierte: auf den so genannten Bäderantisemitismus. Nicht nur strenggläubigen Reisenden, die auf koschere Küche bestanden, waren in jüdischer Hand befindliche Hotels willkommen, sondern auch denjenigen, die „eine mögliche Abweisung durch antisemitische Gastwirte nicht riskieren wollten“ 1. Insbesondere auf Borkum war eine solche Diskriminierung jüdischer Badegäste seinerzeit gang und gäbe. Zeitgenössische Postkarten von der Nordseeinsel, auf denen das (von der Kurkapelle täglich gespielte und von vielen Gästen gesungene) Borkum-Lied 2 mit einer antisemitischen Zeichnung abgedruckt wurden, zeugen davon. Aber auch in vielen anderen deutschen Ferienorten waren Juden unerwünscht – ein Phänomen, das von der Forschung erst seit wenigen Jahren aufgearbeitet wird.3 Das überrascht insofern nicht, als der Alltag deutscher Juden noch immer seltsam unterbelichtet ist.4 Mit seiner Darstellung über den Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert ist der Zeithistoriker Frank Bajohr daran gegangen, auf der Basis intensiver Quellenrecherchen eine dieser Lücken zu schließen.

So speziell das Thema auf den ersten Blick auch klingen mag: es eröffnet einen grundsätzlichen Blick auf die christlich-jüdischen Beziehungen zwischen Reichsgründung und Holocaust. Und die gestalteten sich von Ferienort zu Ferienort verschieden, je nachdem, wie sich die Urlaubsgäste, die Vermieter und die Badeverwaltungen verhielten. So gibt Bajohr eine Topografie antisemitischer Kur- und Badeorte, die ein deutliches Nord-Süd-Gefälle erkennen lässt. Auf der einen Seite finden wir Orte, in denen sich Judenhasser eher selten lautstark artikulierten und in denen zahlreiche Hoteliers und Pensionsinhaber noch Mitte der 1930er-Jahre jüdische Gäste aufzunehmen bereit waren, darunter solche Ferienziele, die wie Norderney, Heringsdorf oder Bad Kissingen in dem Ruf standen, jüdische Residuen zu sein. Auf der anderen Seite, vor allem an der Nord- und Ostsee, gab es zahlreiche Bäder, die zusehends von Antisemiten bevölkert wurden. Zahlreiche Gastgeber stellten sich auf diese zahlungskräftige Kundschaft ein und signalisierten durch Inserate oder an ihren Unterkünften außen angebrachte Schilder antisemitischen Inhalts (wie „Juden und Hunde dürfen hier nicht herein!“), welche Gesinnung sie hegten. Nicht zuletzt aus wirtschaftlichem Kalkül duldeten die Verwaltungen zumeist eine solche antisemitische Hetze gegenüber ihren jüdischen Gästen, ja propagierten sie mitunter sogar.

Um zu einem Opfer antisemitischer Pöbeleien und auch tätlicher Übergriffe zu werden, reichte es aus, in einem Café beim Abspielen des Deutschlandliedes sitzen zu bleiben oder dem Phänotyp nach jenem Klischee zu entsprechen, das man sich vom ,Semiten‘ machte. Die Motive für diesen zunehmenden Radauantisemitismus verortet Bajohr primär im Sozialneid. Der fand im Urlaubsort um so mehr Nahrung, als gerade hier die materiellen Unterschiede besonders deutlich zu Tage traten. Denn die fast ausschließlich dem Adel und dem oberen, seit der Jahrhundertwende zunehmend auch dem mittleren Bürgertum angehörenden Gäste bewegten sich hier jenseits ihrer gewohnten Sozialhierarchie. Den Respekt und die Ehrbezeugungen, die ihnen in der Heimat traditionellerweise seitens sozial Tieferstehender oder Abhängiger entgegengebracht wurden, mussten sie sich in der Fremde erst erwerben: durch gepflegte Kleidung und wertvollen Schmuck, durch gutes Benehmen, durch Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit. Einem solchen Präsentationsdruck zeigten sich viele Gäste nicht gewachsen, zumal sie sich immer häufiger mit sozialen Aufsteigern konfrontiert sahen, die ihnen den Rang abzulaufen drohten. Wenn etwa „in der Konkurrenz um soziale Repräsentation ein wohlhabender und gebildeter jüdischer Händler die gesellschaftlichen Hierarchien unter Druck setzte und den Landadeligen im sozialen Ranking hinter sich ließ“ (S. 30), kompensierte dieser sein Minderwertigkeitsgefühl durch antijüdische Ressentiments.

Nach dem verlorenen Krieg vollzog sich eine Radikalisierung der antisemitischen Stereotype: aus dem ,jüdischen Parvenü‘ wurde der ,jüdische Schieber‘, ,Spekulant‘, ,Kriegs-‘ und ,Inflationsgewinnler‘. Gleichzeitig kam es zu einer intensiveren Verbindung zwischen gesellschaftlichem und politischem Antisemitismus, infolge dessen sich einige Urlaubsorte „nach 1918 zu Zentren der antisemitischen Agitation“ (S. 57) entwickelten. Das schlug sich nicht nur in Kundgebungen, Aufmärschen und Übergriffen auf jüdische Gäste, sondern auch in einer symbolischen Besetzung des öffentlichen Raums nieder. Immer mehr Gäste schmückten ihre Sandburgen mit der schwarz-weiß-roten Handelsflagge oder gar mit der Hakenkreuzfahne. So entbrannte während der Weimarer Republik in manchen Bädern ein regelrechter Flaggenstreit zwischen republikanischen Gästen auf der einen, deutsch-nationalen und nationalsozialistischen Gästen auf der anderen Seite. Die von staatlicher Seite unternommenen Versuche, diesem Treiben Einhalt zu gebieten, scheiterten durchweg an einer Justiz, die mit formaljuristischen Argumenten den Antisemiten den Rücken stärkte. Auch wenn die „Mehrzahl der deutschen Kur- und Badeorte weder zu den prononciert antisemitischen Erholungsstätten noch zu den ,jüdischen‘ Residuen“ zählten (S. 111): die wachsende Ausgrenzung belastete das jüdisch-christliche Verhältnis und führte zu einer wachsenden Selbstisolation deutscher Juden. Vom Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens regelmäßig veröffentlichte Listen antisemitischer Erholungsorte, Hotels und Pensionen informierten sie, welche Orte es zu meiden galt. Andere wiederum versuchten, ihre Identität zu verheimlichen und waren deshalb vor allem um Distanz zu ihren ostjüdischen Glaubensbrüdern und -schwestern bemüht, die seit der Jahrhundertwende ebenfalls in manchen Urlaubsorten verweilten.

Immerhin standen den Juden mit Erholungsinseln wie Norderney einige Räume weiterhin offen, in denen sie ihren Urlaub weitgehend ungestört von Diskriminierungen verbringen konnten. Das sollte sich nach der Machtübertragung ändern. Zuvor waren es die Gäste gewesen, die mit ihren antisemitischen Aktionen die um ihren Umsatz fürchtenden Zimmer-Vermieter, Hoteliers und Kurverwaltungen unter Druck gesetzt hatten. Nun verlagerte sich die Initiative auf die lokalen NSDAP-Funktionäre und die Kur- und Gemeindeverwaltungen, „die geradezu miteinander wetteiferten, ihren Badeort ,judenfrei‘ zu machen“ (S. 117). Lediglich im Inland, dort, wo auch internationales Publikum verkehrte, gewährte man den Juden mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung im Ausland, noch eine Galgenfrist. Spätestens Ende der 1930er-Jahre aber hatte die Verdrängung der Juden auch diese Kurorte erreicht.

Wenn es dennoch bis 1938 immer wieder zu Berührungen zwischen Christen und jüdischen Urlaubern kam, dann lag das an denjenigen Vermietern, die weiterhin ,nicht-arische‘ Gäste aufzunehmen bereit waren. Bajohr dokumentiert in seinem Kapitel über die administrative Gettoisierung im ,Dritten Reich‘, dass zumindest eine Minderheit der nichtjüdischen Deutschen genügend Zivilcourage besaß, um sich über den von offizieller Seite ausgeübten Druck hinwegzusetzen. Zwischen den Zeilen meint man dabei den Vorwurf herauszuhören, dass die „skeptische Distanz mancher Einheimischer gegenüber den antisemitischen Aktionen der örtlichen Nationalsozialisten [...] nur selten einer philosemitischen Haltung“ entsprungen und primär von wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt gewesen sei (S. 123f.). Die Quellen, mit denen Bajohr dies zu belegen versucht: Klagen über Einnahmeausfälle enthaltende Beschwerden einheimischer Pensionsinhaber über die antijüdischen Maßnahmen, sind freilich nicht allzu aussagekräftig. Nicht nur die Angst vor Verfolgung gebot es, grundsätzliche Kritik an der Judenpolitik zu vermeiden. Zurecht versprach man sich Einfluss auf die fanatischen Judenhasser nur von solchen Sachargumenten, die im Interesse der nichtjüdischen Mehrheit vorgebracht wurden.

Allerdings handelte es sich bei diesen Protesten immer nur um Einzelstimmen. Der seit 1933 nahezu allmächtig agierende politische Antisemitismus hatte vollendet, was der partiell auftretende gesellschaftliche Antisemitismus über mehrere Jahrzehnte hinweg vorbereitet hatte. Gleichwohl ist die Traditionslinie zwischen beiden Phänomenen keineswegs so ungebrochen, wie es aus der Rückschau zunächst scheinen mag. Welche Bedeutung kommt dem Phänomen des Bäder-Antisemitismus zu? Welche Rolle spielt er für die Ausgrenzung, Entrechtung und Vernichtung der Juden im Dritten Reich? Ohne der Gefahr einer Überbewertung zu erliegen, verortet Bajohr das Phänomen innerhalb des historischen Kontextes und warnt zurecht davor, „die Radikalisierung des Bäder-Antisemitismus in Deutschland teleologisch auf die nationalsozialistische Judenverfolgung und den Holocaust zuzuspitzen“ (S. 9). So zeigt ein Vergleich mit dem nordamerikanischen Resort Antisemitism, der in den USA noch in den 1950er-Jahren „stärker verbreitet [war] als in Deutschland vor 1933“ (S. 163), dass eine Analyse alltäglichen Antisemitismus’ nur ein begrenztes Erklärungspotential für die deutsche Sonderentwicklung nach 1933 bieten kann. Was beide Länder unterscheidet, ist die Rolle, die der politische Antisemitismus jeweils spielte: in Deutschland gelangte er an die Macht und entfaltete eine zerstörerische Dynamik; in den USA verhinderte dagegen „die hohe gesellschaftliche Akzeptanz der amerikanischen Demokratie und das wirksame konstitutionelle System der Checks and Balances“ eine Realisierung radikaler Judenpolitik (S. 165). Über die Verfassung konnten hier die Ausgeburten des gesellschaftlichen Antisemitismus allmählich systemintern korrigiert werden.

Gleichwohl sollte man die Bedeutung des deutschen Bäder-Antisemitismus für das Funktionieren der NS-Judenpolitik nicht unterschätzen. Schließlich förderte die Apartheid „eine Grundhaltung gegenüber der jüdischen Minderheit, ohne die die nationalsozialistische Ausgrenzungspolitik nicht so erfolgreich verlaufen wäre: die weit verbreitete Auffassung nämlich, dass es sich bei Juden nicht um ,Deutsche‘ oder gar ,Volksgenossen‘ jüdischen Glaubens handelte, sondern um ,Fremde‘, ja ,Andersartige‘, die nicht wirklich dazugehörten“ (S. 168).

Bajohr gelangt zu diesen überzeugenden Ergebnissen mittels einer methodischen Vorgehensweise, die ebenso vielfältig wie solide ist. Der Verfasser schafft es nicht nur, auf relativ engem Raum (233 Seiten) ein Einzelphänomen vergleichend zu behandeln, ohne den Gesamtkontext aus den Augen zu verlieren. Er schreibt auch anschaulich und zitiert ausführlich aus den Quellen, ohne dass dies auf Kosten der Analyse geschieht. Kurzum: ein rundum gelungenes Buch.

Anmerkungen:
1 Gay, Ruth, Geschichte der Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zum Zweiten Weltkrieg, mit einer Einleitung von Peter Gay, aus dem Englischen von Christian Spiel, München 1993, S. 175, siehe auch S. 205.
2 So heißt es in der dritten Strophe des vor 1914 auf die Melodie von Hipp, hipp, hurrah! gesungenen Borkum-Liedes: „Es herrscht im grünen Inselland/Ein echter deutscher Sinn./Drum alle, die uns stammverwandt,/Ziehn freudig zu dir hin./An Borkums Strand nur Deutschtum gilt,/Nur deutsch ist das Panier,/[:Wir halten rein den Ehrenschild/Germanias für und für!:]/Doch wer dir naht mit platten Füßen,/Mit Nasen krumm und Haaren kraus,/Der soll nicht deinen Strand genießen,/Der muß hinaus! der muß hinaus!/,Hinaus!‘“.
3 Siehe Borut, Jacob, Antisemitism in Tourist Facilities in Weimar Germany, in: Yad Vashem Studies 28 (2000), S. 7-50; Brenner, Michael, Zwischen Marienbad und Norderney: Der Kurort als „Jewish Space“, in: Jüdischer Almanach, Frankfurt am Main 2001, S. 119-137; Wildt, Michael, „Der muß hinaus! Der muß hinaus!“ Antisemitismus in deutschen Nord- und Ostseebädern 1920-1935, in: Mittelweg 36, 10, H. 4 (2001), S. 2-25.
4 Zu den wenigen Ausnahmen zählen die Studien von Kaplan, Marion A., Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich (Studien zur Jüdischen Geschichte 3), aus dem Englischen von Ingrid Strobl, Hamburg 1997 und von van Rahden, Till, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 139), Göttingen 2000.

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