Cover
Titel
Theodor Mommsen. Eine Biographie


Autor(en)
Rebenich, Stefan
Erschienen
München 2002: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
272 S., 22 Abb.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido O. Kirner, Historiker, Berlin

Auf dem Höhepunkt von Theodor Mommsens Lebensweg konnte bei Zeitgenossen der Eindruck entstehen, daß in der philosophisch-historischen Klasse der Akademien und in den entsprechenden Fakultäten der Universitäten alle für Mommsen arbeiten, d.h. in sein weit gespanntes Netz wissenschaftlicher Kooperationsprojekte eingespannt waren. Dies gilt mittelbar auch heute noch für jene, die sich mit römischer Geschichte beschäftigen: Entweder arbeiten sie an Großprojekten weiter, die Mommsen auf dem Gebiet der antiken Epigraphik, Numismatik, Prosopographie, Papyrologie oder Editionsreihen initiiert, kontrolliert oder wenigstens unterstützt hat, oder sie kommen schlicht um seine Hauptwerke nicht herum, an denen sie sich immer noch wie an einem Steinbruch abarbeiten. Viel hat die Forschung inzwischen an Mommsens Werk methodisch wie inhaltlich kritisiert, keiner konnte jedoch ein alternatives Œuvre vorlegen, daß sein opulentes Werk zum römischen Staats- und Strafrecht überwunden hätte.

Daneben war Mommsen Citoyen, ein liberaler „Gelehrtenpolitiker“, mehrfacher Abgeordneter und Journalist, der sich mit Verve in die Debatten seiner Zeit einmischte. Obgleich ihm gegen Ende seines Lebens die politische Anerkennung versagt blieb, war es für ihn einer der schlimmsten Fehler, „wenn man den Rock des Bürgers auszieht, um den gelehrten Schlafrock nicht zu kompromittieren.“ Alles in allem war Theodor Mommsen schlicht einer der bekanntesten Gelehrten seiner Zeit, und zwar lange Zeit bevor er 1902 für seine ‚Römische Geschichte’ den Literaturnobelpreises erhielt. Ein Buch über Theodor Mommsens Lebensweg weckt also hohe Erwartungen.

Die vierbändige Biographie von Lothar Wickert 1 kann mangels übergreifender Fragstellungen und wegen einseitiger Akzentuierung des epigraphischen Projekts sowie fehlendem Verständnis gegenüber Mommsens politischer Einstellung vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts als gescheitert gelten. Schärfster Kritiker von Wickert war der Göttinger Althistoriker Alfred Heuss 2. Er selbst schrieb die bislang bedeutendste Biographie 3, jedoch konnte er wichtige Archivbestände (zumal der damaligen DDR) nicht berücksichtigen, so daß vor allem der Wissenschaftspolitiker nicht ausreichend gewürdigt wurde. Nun hat Stefan Rebenich, Mannheimer Privatdozent für Alte Geschichte, nach materialreichen Spezialuntersuchungen zu Theodor Mommsen und zur Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts 4 eine ebenso kompakte wie auch für ein breiteres Publikum lesenswerte Biographie geschrieben.

Zunächst wird Theodor Mommsen als Endprodukt eines familiären Aufstiegs vom Pauperismus des schleswig-holsteinischen Kleinbauerntums über den „Plattformberuf“ des protestantischen Pastors zum gebildeten Beamtentum geschildert. Protestantisches Arbeitsethos, die Abneigung gegen „Junkertum“, die frühe Politisierung im Hinblick auf ersehnte Einheit Deutschlands angesichts der „Schleswig-Holstein-Frage“ und die gelebte säkularisierte Bildungsreligion in Orientierung am Ideal des Neuhumanismus humboldtscher Provenienz blieben prägende Einflüsse auf seinem langen Lebensweg (1817-1903). Die Investition in Bildung, sollte sich im Erhalt von Stipendien und in der Aufnahme am Altonaer Christianeum auszahlen, um schließlich einen der umkämpften Posten im gesicherten Staatsdienst anstreben zu können. Daraus erklärt sich auch die Wahl der Ausbildung zum „Brotberuf“ des Juristen an der Kieler Universität.

Das Römische Recht blieb die Grundlage des gesamten Jurastudiums und erlebte eine neue Renaissance. Mommsen machte über seine akademischen Lehrer (u.a. Georg Christian Burchardi, Niels Nikolaus Falck, Johann Friedrich Kierulff, Eduard Osenbrüggen, Otto Jahn) die Bekanntschaft mit den wichtigsten neuen wissenschaftlichen Strömungen dieser Zeit: Historische Rechtsschule, Hegels Rechtsphilosophie und die Neue klassische Philologie. Rebenichs akademische Filiationsketten von Gelehrten samt Erläuterungen sind beispielhaft und konzentrieren sich auf das Wesentliche zum Verständnis der damaligen Schulrichtungen. Daß aber die Einflüsse auf Mommsen so weit gingen, daß sein späteres Modell des antiken römischen Rechts „die spezifisch politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen seiner Entstehung, Entwicklung und Anwendung“ berücksichtig habe, geht zu weit und widerspricht der Forschungskritik, unabhängig davon, ob Mommsen „Niebuhr, Savigny und Hegel zusammenführen [wird].“ (S. 36)

Entscheidend für Mommsens weiteren Lebensweg nach der Dissertation ist abgesehen von den Unruhen des Vormärz und den Ereignissen von 1848 in mehrfacher Hinsicht der Erhalt des großzügigen dänischen Reisestipendiums. Angesichts der Stellenblockade bot sich ihm damit überhaupt erst die realistische Chance, einmal Universitätsprofessors werden zu können und bis dahin finanziell unabhängig zu forschen; zudem entwickelte sich hier der Plan zu einem umfassenden Corpus lateinischer Inschriften nach neuen Methoden der Autopsie, die ihm hauptsächlich von Bartolomeo Borghesi in Italien vermittelt wurden. Das Projekt eines Copus Inscriptionum Latinarum wird sich über mehrere Stationen seines Lebens zu einem wahren Gigantismus wissenschaftlicher Großforschung ausweiten. Für Mommsen war es das Sprungbrett zur Mitgliedschaft in der Preußischen Akademie der Wissenschaften; beides zusammen machte den späteren Ruf an die Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin trotz personalpolitischer Querelen fast unvermeidlich.

Rebenich macht implizit deutlich, daß eine Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhundert, ohne Kenntnisse über die Entwicklung der Altertumswissenschaften kaum Sinn macht, wenn sich mit dem Namen Mommsen wegweisende Entwicklungen der modernen Wissenschaftsorganisation verbinden. Unter dem Dach der preußischen Akademie entsteht das Modell für die fachübergreifende Verflechtung von Universitäten, Akademien, Instituten und Kommissionen, es bilden sich neue Formen der Mischfinanzierungen aus privaten wie stetig wachsenden öffentlichen Mitteln; gleichzeitig entwickelt sich der „bürokratische Caesarismus“ innerhalb des ebenso berüchtigten wie manchmal bewunderten Machtkartells der preußischen Universitäts- und Berufungspolitik unter Friedrich Althoff, dem Mommsen als wichtiger Ratgeber diente.

Die Konsequenzen von Mommsens unvergleichlichen Erfolgen läßt Rebenich nicht unerwähnt: Die unerbittlich fortscheitende Fragmentierung und Ausdifferenzierung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die zur Entfremdung von neuhumanistischen Bildungsidealen führt und letztlich die von Mommsen selbst beschworene Einheit der Altertumswissenschaft zerstört; damit das Primat der Forschung vor der Lehre sowie allgemein die Unterwerfung des Gelehrtenindividuums unter den akademischen Großbetrieb. Die unermüdliche Arbeitsaskese und „Kärrnerarbeit“ Mommsens geht einher mit der Dogmatisierung eines positivistischen Totalitätsanspruchs in der Erfassung sämtlichen antiken Materials zum fortschrittsoptimistischen Selbstzweck.

Leider geht Rebenich nicht auf die Frage ein, in welchem Verhältnis eigentlich der Ertrag von Mommsens Großprojekten zu dem seiner eigenen Hauptwerke steht. War z.B. die Masse neuedierter Inschriften wichtig zur Stützung von Mommsens zentralen Thesen zum Römischen Staatsrecht? In bezug auf Mommsens Programm einer Aktualisierung der Antike durch seine vollständige Historisierung darf man vermuten, daß es gerade nicht Mommsens in die Hunderte gehenden trockenen Fachaufsätze waren, welche diese leisteten, vielmehr seine davon unabhängige politische Pädagogik, insbesondere in den ersten drei Bänden zur Römische Geschichte. Hier scheute er bekanntlich auch vor bewußten Anachronismen nicht zurück, um die zeitgenössischen politischen Probleme Deutschlands auf dem Schauplatz der Römischen Politik auszutragen. Rebenichs kurze Werkanalyse ist diesbezüglich bestechend, wenngleich das Kondensat seiner Belege den Gesamteindruck etwas verzerrt.
Weit schwieriger ist die Werkbeschreibung von Mommsen anderem großen Wurf, dem Römischen Staatsrecht. Rebenichs Ausführungen geben zumindest Anlaß, das Verhältnis zwischen der methodischen Ordnung als System, dem Verständnis der römischen Rechtswirklichkeit und dem historiographischen Anspruch vor dem Hintergrund von Mommsens eigenem Methodenverständnis noch einmal prinzipiell zu problematisieren; zumindest läßt sich seine Staatsrechtskonzeption weder allein mit dem häufigen Verweis auf die zeitgenössische Pandektenwissenschaft, der Rechtsphilosophie Hegels oder der vorgeblichen Unbrauchbarkeit früherer Werke im Genre der sog. Staatsaltertümer zufriedenstellend erklären.

Was war Mommsen für ein Mensch? Im Verlauf der Gesamtdarstellung Rebenichs wirkt er nicht gerade sympathisch - wahrscheinlich wurde er auch von seinen Zeitgenossen mehr bewundert als gemocht. Es vermittelt sich der Eindruck eines egozentrischen Autokraten, dessen mitunter arrogant wirkende Selbstgerechtigkeit zwar durch seine singulären Leistungen legitim erscheinen konnte, der seine Überlegenheit aber auch stark auf Kosten anderer auslebte: gezielte Indiskretionen gegenüber Kollegen, die Unfähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, vernichtende Polemiken, ohne selbst Kritik zu vertragen, sind nur einige Charakterzüge. Wissenschaftliche Emanzipation von seiner Person führen zum Bruch. Bei seinem Schwiegersohn, dem Gräzisten Ulrich von Wilamovitz-Moellendorff, gab es sicherlich noch andere Gründe für das Zerwürfnis. Jene, die wie Karl Julius Beloch Mommsen heftig attackierten, konnten nur noch außerhalb Deutschlands Karriere machen.
Für die Bürger der Universitätsstädte, in denen er lehrte, hat Mommsen wenig übrig, zumal wenn der Professor nicht gleich zur sozialen Elite zählte und das aufstrebende Besitzbürgertum – wie in Zürich oder Breslau – mehr Gewicht hatte als das Bildungsbürgertum. Die Mehrheit seiner Kollegen verachtet er, außer sie werden für begabt empfunden, was soviel bedeutet, daß sie in der Lage sind, seinen Projekten zuzuarbeiten. Wenigen zollt er politisch Respekt, wenige sind seiner wissenschaftlich würdig. Soziales Leben findet deshalb vor allem in elitären Zirkel, Vereinigungen und Vereinen mit Gleichgesinnten statt. Mommsen, der mit Herzblut gegen die ererbten Privilegien der Ständegesellschaft wettert, legt seinerseits beständigen Wert auf soziale Exklusivität. Studenten sind ihm eine permanente Last, da die Lehrverpflichtungen wertvolle Zeit für Forschung stehlen. Die Vorlesungen werden heruntergenörgelt und sind entsprechend schlecht besucht; in den Seminaren wird keine abweichende Meinung geduldet und zumeist monologisiert der gefürchtete Großmeister.

Näher kommt einem dagegen der Mensch, die sich besondere Taschen in den Mantel einnähen läßt, um schwere Folianten zu transportieren; der in Lektüre versunkene Akademiker, der vom Pferdebahnschaffner zum aussteigen aufgefordert wird, damit er seine Haltestelle nicht verpaßt; der Gelehrte am heimischen Bücherregal, der sich mit der Kerze in der Hand mehrmals die Haare verbrennt (einmal führt dies weniger amüsant auch zu einem Hausbrand); oder der Berliner Salongänger, der nach einem Bonmot Max Webers zwei Gläser Wein vertrug, aber stets drei trank. Respekt nötigt einem der politische Agitator und Journalist ab, der mehrmals in seinem Leben für seine Meinung ungeachtet persönlicher Nachteile einsteht, besonders aber der „überständige Meergreis“, der sich aus altliberaler Gesinnung den nationalistischen und antisemitischen Tendenzen des späten 19. Jahrhundert widersetzt. Die Darstellung des Politikers und Journalisten in seinen entscheidenden Phasen (Vormärz, 1848, 1871, 1878/9; Wilhelminismus) kommt nicht zu kurz. Ohne daß Rebenich sich hierbei selbst in politischen Wertungen erginge, kann man etwas von den Widersprüchen, der Tragik und dem politischen Scheitern des deutschen Liberalismus und borussischen Bildungsbürgertums nachempfinden.

Abschließend bleibt festzuhalten, daß Rebenich sein Buch geschickt gliedert und die biographische Entwicklung mit thematischen Schwerpunkten zu verbinden weiß. Sicherlich mag der Leser sich hier und da eine umfassendere Behandlung wünschen (zum ‚Römischen Strafrecht’ weiß Rebenich wenig zu sagen, der Name Fustel de Coulanges fehlt); dafür gelingt Rebenich das Kunststück einer soliden und abgerundeten Komposition auf engem Raum, die keine wesentliche Punkte vermissen läßt und in ihrem Facettenreichtum beeindruckt. Die Zitate sind pointiert gewählt und vermitteln einen lebendigen Eindruck von Mommsens Persönlichkeit. Die lokal-, kultur- und ereignisgeschichtlichen Informationen erläutern die Zeitumstände ebenso knapp wie hilfreich, verlangen aber Vorwissen. Insgesamt setzt Rebenichs Biographie der Ikone der deutschen Gelehrtenrepublik ein würdiges Denkmal, und was vielleicht wichtiger ist, sie bietet eine ausgezeichnete Grundlage, um sich mit Mommsens erstaunlichem Lebenswerk im folgenden Gedächtnisjahr zu seinem hundertsten Todestag noch einmal kritisch auseinanderzusetzen. Dies wäre wünschenswert, auch wenn der politisch verbitterte Mommsen 1885 an seine Frau schrieb: „Auf meinem Grabe soll weder ein Bild noch ein Wort, nicht einmal mein Name stehen, denn ich will von dieser Nation ohne Rückgrat persönlich so bald wie möglich vergessen sein und betrachte es nicht als Ehre, in ihrem Gedächtnis zu bleiben.“

Anmerkungen:
1 Lothar Wickert, Theodor Mommsen, Eine Biographie, 4 Bde., Frankfurt a.M. 1959-1980.
2 Vgl. den Veriß von Alfred Heuss, Gnomon 43, 1971, 772-801.
3 Alfred Heuss, Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert, Kiel 1956.
4 Neben zahlreichen Aufsätzen vgl. insbes. Stefan Rebenich, Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Editionen und Kommentierung des Briefwechsels, Berlin/New York 1997.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension