J. Eibach u.a. (Hgg.): Kompass der Geschichtswissenschaft

Titel
Kompass der Geschichtswissenschaft.


Autor(en)
Eibach, Joachim; Lottes, Günther
Erschienen
Göttingen 2002: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eckhardt Fuchs, Lehrstuhl Erziehungswissenschaft, Universität Mannheim

Die Herausgeber, Historiker am Forschungszentrum Europäische Aufklärung in Potsdam, zielen mit ihrem Handbuch darauf ab, Lehrenden, Studierenden und historisch Interessierten eine Orientierungshilfe in der internationalen Forschungslandschaft zu bieten. Ausgehend von einer durch Pluralisierung und Paradigmenwechsel gekennzeichneten "Revolutionierung des Faches" und der Herausbildung neuer Strömungen im Laufe des 20. Jahrhunderts, so die Herausgeber, ist das Handbuch in fünf Abschnitte gegliedert: Sozialgeschichte, Politik- und Verfassungsgeschichte, Neue Ideengeschichte, Neue Kulturgeschichte sowie Geschichte und Postmoderne. Jedem dieser Abschnitte ist ein historisch-synthetisierender Überblick vorangestellt, dem insgesamt 19 Aufsätze zu den wichtigsten Strömungen folgen. Die Zusammensetzung der Verfasser bildet einen Querschnitt von international renommierten Historikern, etablierten deutschen Historikern und Vertretern der jüngeren Generation.

Der erste, von Joachim Eibach sehr gut eingeleitete Abschnitt zur Sozialgeschichte wird von informativen, aber wenig reflexiven Aufsätzen über die Geschichte, Inhalte, Konzeptionen und wichtigsten Vertreter der Annales (Jacques Revel) und der Neueren angloamerikanischen Sozialgeschichte (Charles Tilly) eröffnet. Während der interessierte Leser hier wenig Neues erfährt, zeichnen sich die folgenden Texte zur Historischen Sozialwissenschaft (Paul Nolte) und zur Marxistischen Geschichtswissenschaft (Matthias Middell) durch ihre kritische und distanzierte Analyse aus. Noltes Entmystifizierung der "Bielefelder Schule", die in der Aussage gipfelt, die Historische Sozialwissenschaft wäre "immer eine Variante der konventionellen Geschichtswissenschaft" (S. 62) geblieben, verkennt jedoch nicht den Innovationsschub dieser Richtung innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft. Leider wird auf die nationalsozialistische Verstrickung ihrer "Gründerväter" – die in den letzten Jahren zu vehementen Debatten und einer Neubewertung der bundesdeutschen Sozialgeschichte geführt haben – nur am Rande eingegangen (S. 58). Als Fazit bleibt, dass die Historische Sozialwissenschaft auch als "Normalwissenschaft" wichtig sein wird, sie müsse aber in der Zukunft, so Noltes abschließende und provokative Thesen, ein neues eigenständiges Profil entwickeln. Für Middell hat die marxistische Historiographie entscheidend zur Herausbildung der Sozialgeschichte beigetragen. Sein Versuch einer kritischen Historisierung dieser historiographischen Richtung beginnt bei Marx und erfasst dann die Professionalisierung und die Herausbildung verschiedener Ausprägungen marxistischer Geschichtsschreibung in Ost und West. Zumindest fragwürdig bleibt die Unterteilung einer politiknahen, auf Herrschaftslegitimierung ausgerichteten und einer universalgeschichtlichen und emanzipatorischen Richtung innerhalb der marxistischen Geschichtswissenschaft in den Ländern des Realsozialismus. Auch der Kontrast zwischen östlichem und westlichem Marxismus wird stärker gewesen sein, als hier dargestellt. Ein kritischer Vergleich zwischen beiden Varianten steht zwar noch aus, aber der Bruch mit dem Marxismus im Westen infolge des Stalin’schen Terrorregimes hatte unbestreitbar weitreichende Folgen für die marxistische Historiographie. Deren Krise und Legitimitätsverlust im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts scheint die Epoche der marxistischen Geschichtsschreibung beendet zu haben, nicht aber, so Middell, die Möglichkeit einer fruchtbaren undogmatischen "Relektüre".

Der zweite Abschnitt über Politik- und Verfassungsgeschichte, eingeleitet von Rudolf Schlögel, behandelt die internationalen Beziehungen (Andreas Wirsching), die Rechtsgeschichte (Diethelm Klippel), die Verfassungsgeschichte als Verwaltungsgeschichte (Joachim Eibach) und die Neue Politikgeschichte (Ute Frevert). Während Klippel und Eibach mit der Rechts- und Verwaltungsgeschichte eher Randgebiete aktueller Forschungsdebatten behandeln und – was deren Innovationspotential angeht – eher skeptisch argumentieren, stehen die beiden anderen Bereiche seit Jahren im Brennpunkt der Debatten. Wirsching gibt einen ausführlichen Überblick über die Forschungen zu den internationalen Beziehungen seit 1945 im internationalen Vergleich, ohne allerdings die neuesten deutschen Forschungsergebnisse zu berücksichtigen.1 Relativ blas bleibt auch die Vorstellung von methodischen Neuansätzen in diesem Zweig. Dies betrifft die noch immer vorherrschende Methodik einer "traditionellen Diplomatiegeschichte", die Frage, wie damit "die tieferen Schichten des [europäischen] Integrationsprozesses" (S. 125) aufgedeckt werden können und schließlich wie sich eine vorwiegend atheoretische Sichtweise zu den theoriegeleiteten Konzepten aus den Sozial- und Politikwissenschaften verhalten soll. Während also auch hier die Bilanz eher bescheiden ausfällt, kann man in der Tat von einer "neuen" Politikgeschichte sprechen. Frevert macht deutlich, dass die Marginalisierung der Politik durch die Sozialgeschichte – die allerdings in Deutschland nie so stark wie im angelsächsischen Raum war – seit den 1980er Jahren überwunden wurde und vor allem durch die Entstaatlichung des Politischen im Kontext der Alltags- und Geschlechtergeschichte eine neue Dimension erhielt. Die Entgrenzung des Politikbegriffes führte, so Frevert, zu einer Vielzahl unterschiedlicher Forschungsrichtungen, zu denen rituelle Politik oder Politik als Zeichensysteme, aber auch kulturgeschichtliche Perspektiven, wie die Rolle der politischen Semantik, gehörten. Das Ergebnis dieser kulturwissenschaftlichen Forschungsrichtungen fällt dabei durchaus ambivalent aus und Frevert plädiert für die Einleitung einer "'Modernisierung zweiter Ordnung" im Sinne einer kulturgeschichtlichen Weiterentwicklung sozialgeschichtlicher Konzepte. (S. 164)

Der dritte, von Martin Dinges eingeleitete Abschnitt zur Neuen Kulturgeschichte umfasst Texte über die New Cultural History (Roger Chartier), historische Anthropologie/Mikrogeschichte (Susanne Burghartz), Bild- und Mediengeschichte (Rolf Reichardt) und Frauen- und Geschlechtergeschichte (Rebekka Habermas). Dieser Teil behandelt – mit Ausnahme der kurzen historiographiegeschichtlichen Einleitung über die "alte" Kulturgeschichte, die Mentalitätsgeschichte und historische Anthropologie – keine historiographischen Traditionen, sondern befasst sich mit der wohl gegenwärtig dominierenden Praxis historischen Arbeitens. Die vorgestellten Themen widerspiegeln dabei die wichtigsten Bereiche kulturhistorischer Forschung, wobei die Beiträge von Burghartz und Reichardt herausragen. Sie offenbaren zugleich die Pluralität kulturhistorischer Ansätze und das Fehlen eines übergreifenden theoretischen Modells.

Der vierte Abschnitt befasst sich mit der neuen Ideengeschichte, die, so Günther Lottes in der Einführung, seit den 1960er Jahren unter dem Einfluss der Sozialwissenschaft, Sprachphilosophie und Strukturalismus zu einem methodischen Schub in der traditionellen Ideengeschichte führten, dessen Kennzeichen die Historisierung der Ideengeschichte durch die sozial-, begriffs-, sprach- und schließlich diskursgeschichtliche Kontextualisierung der Texte war. Die Aufsätze in diesem Abschnitt über Neue Geistesgeschichte (Luise Schorn-Schütte), Historische Semantik (Raingard Eßer), Neuere angloamerikanische Ideengeschichte (Iain Hampsher-Monk) und Diskursanalyse in Frankreich (Robert Jütte) verweisen dann auch auf die Traditionen der Begriffsgeschichte von Koselleck in Deutschland, die Studien der Cambridge School von Pocock und Skinner und die diskursanalytischen Ansätze französischer Provenienz. Deutlich wird dabei, dass sich die – in spezifischen nationalen Kontexten entstandenen – unterschiedlichen Strömungen des "linguistic turn" nicht ohne weiteres miteinander vereinbaren lassen. Angesichts eines Abflauens der Konjunktur der Sprache in der historischen Forschung stellt sich die Frage nach den zukünftigen Perspektiven der historischen Semantik, die, so Eßer, in einer stärkeren Einbeziehung der sozialen und kulturellen Kontexte historischer Sprachen liegen könnte. (S. 291)

Das Handbuch schließt mit einem Abschnitt über Geschichte und Postmoderne. Das überrascht insofern, als zahlreiche Ansätze und Forschungsrichtungen postmoderner Geschichtsschreibung bereits in vorherigen Abschnitten behandelt worden sind und die Beiträge keine Strömungen, sondern ausgewählte Problemstellungen behandeln. Marcus Sandl geht zwar einleitend in einem Abriss der Geschichte der Postmoderne-Debatte über die Geschichtswissenschaft hinaus, aber die Aufsätze von Gérard Noiriel über "Die Wiederkehr des Narrativen" und von Gabriel Motzkin über "Das Ende der Meistererzählungen" hätten sicher auch in einen anderen Abschnitt gepasst, vor allem im Hinblick auf die Folgen der Wiederkehr der Narrativität für die historische Forschung. Der Text von Steven Ellis über den Revisionismus ist zwar informativ, behandelt aber mit dem Zuschnitt auf die irisch-britische Revisionismusdebatte im Bereich der frühen Neuzeit eine Thematik, die eher marginal im Kontext historiographischer Debatten blieb.

Die Fülle der Themen und Autoren stellt zugleich einen wesentlichen Mangel des Buches dar, der in den zahlreichen Wiederholungen liegt. So finden sich viele der in den einleitenden Überblicksaufsätzen angeführten Informationen in den folgenden Texten wieder. Die Aufsätze sind zudem untereinander wenig abgestimmt, so dass der Leser – besonders auffällig im Abschnitt über die Neue Ideengeschichte – hintereinander gleiches liest. Darüber hinaus realisiert sich der Anspruch der Herausgeber nach einer internationalen Sicht nicht allein durch die Einbeziehung ausländischer Autoren. In vielen Texten bleibt er auf den französischen und angloamerikanischen Raum beschränkt, nicht selten überwiegt die deutsche Perspektive. Debatten im "nichtwestlichen" Kontext – man denke an die Dependenzdebatten in Lateinamerika oder die "subaltern studies" und deren historiographischen Konsequenzen – finden bis auf wenige Ausnahmen keine Beachtung. Natürlich macht es ein "Handbuch" jedem Rezensenten leicht, eine thematische Mängelliste zu erstellen. Dem hätten die Herausgeber durch eine größere Transparenz ihrer Auswahlkriterien entgegenwirken können. Der Hinweis im Vorwort, dass die fünf Stichworte von den Autoren diskutiert worden sind, ist da wenig aussagekräftig. Der Rezensent hätte sich schon eine Begründung gewünscht, warum etwa die Rechtsgeschichte behandelt wird, nicht aber Welt- oder Umweltgeschichte, und auf welcher Grundlage die teilweise recht fragwürdigen Zuordnungen einzelner Richtungen zu den Hauptabschnitten erfolgt sind. So ist das einseitige Vorwort der schwächste Teil des Handbuches, blieb doch hier die Chance ungenutzt, den eigenen Standort zu reflektieren und Grundprobleme der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft zumindest anzureißen. Außerdem hätten durch eine intensivere Lektoratsarbeit nicht nur die erwähnten Wiederholungen vermieden, sondern ein repräsentativeres Literaturverzeichnis angefertigt werden können. Die den einzelnen Abschnitten nachgestellten Literaturverweise bilden zwar die Belege zu den Texten, aber dadurch fehlen oftmals allgemeinere Verweise auf die Standardliteratur für den historiographiegeschichtlichen Laien.

Insgesamt bietet das Handbuch trotz dieser Schwächen einen informativen Überblick über wichtige historiographische Strömungen, der insbesondere Studierenden eine erste Orientierung ermöglicht. Mit dem impliziten Fokus auf kulturgeschichtliche Ansätze bildet es damit eine gute Ergänzung zu vorliegenden Einführungen in die Geschichtswissenschaft.

Anmerkung:
1 Loth, Wilfried; Osterhammel, Jürgen (Hgg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten München, 2000.

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