N. Davis: Die schenkende Gesellschaft

Cover
Titel
Die schenkende Gesellschaft. Eine Studie über die französische Renaissance


Autor(en)
Davis, Natalie Z.
Erschienen
München 2002: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Klaus Deinet

Geld, so weiß man, spielt in den menschlichen Beziehungen eine immer weiter zunehmende Rolle. Selbst Geschenke an Verwandte und Freunde nehmen heute oft die Gestalt des Schecks oder der (schamhaft im Briefumschlag verborgenen) Barzahlung an. Auch das einzige Geschenk, das unseren Alltag begleitet, das Trinkgeld, erfolgt, wie der Name schon sagt, in bar.

Wie anders war dies doch noch im Frankreich des 16. Jahrhunderts! Die Kultur des Schenkens war überaus reich und differenziert. Unübersehbar fast und doch raffiniert hierarchisiert präsentierten sich die verschiedenen Arten und die Varianten der Geschenke: Verzierte Nadeln schenkte ein durchreisender Geistlicher den Frauen in der Herberge; Bücher mit Widmungen tauschten die Gelehrten miteinander aus; Cidre, Honig, Bier und Ziegenmilch sandte der Grundherr seinem kranken Bauern; Rotwein, ein Zicklein und Tauben empfing von ihm die adelige Dame aus der Nachbarschaft. Alle diese Geschenke gehorchten zwar einem hergebrachten Muster, sie boten aber in der Art ihrer Auswahl und - vermutlich - ihrer Präsentation doch genügend Spielraum für die Betonung der jeweils subjektiven Bevorzugung oder Geringschätzung des Adressaten durch den Schenkenden.

Aus dieser Spannung zwischen dem Heute und dem Damals gewinnt das Buch von Davis seinen Darstellungsimpetus und seinen eigentümlichen Reiz. Die Autorin überwältigt den Leser geradezu mit der Vielzahl und der Anschaulichkeit ihrer Beispiele, die sie aus einem schier unerschöpflichen Fundus zeitgenössischer Berichte hervorzuholen scheint. Man hat dadurch das Gefühl, den Menschen des 16. Jahrhunderts (zumindest denen mit schriftlicher Hinterlassenschaft) ganz nahe zu kommen, ihren Alltag zu erleben, ohne das dazwischengeschobene historische Argumentations- und Strukturbollwerk von Daten, Kriegen, Staatsaktionen, das traditionelle historische Darstellungen für den Nicht-Historiker so oft zu einer trockenen und schwer verdaubaren Geschichte macht.

Das theoretische Gerüst von Davis' Buches erscheint dagegen eher filigran: Nach der einleitenden Absicherung durch einen Rekurs auf die soziologischen Vordenker der Gabe, allen voran auf Marcel Mauss, entwirft die Autorin zunächst ein Panorama des Schenkens im Rahmen des Lebens- und Jahreslaufs. Es folgt ein Kapitel über die "soziale Bedeutung des Schenkens", das die differenzierte Beziehungskultur auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen offen legt. Das Kapitel "Geschenke und Geschäfte" zeigt, dass eher von einem Nebeneinander als von einem Nacheinander in bezug auf die konkurrierenden Systeme des Schenkens und des Marktes gesprochen werden muss: Menschen des 16. Jahrhunderts variierten bravourös zwischen beiden Systemen, je nachdem, ob sie der "Gabe" einen mehr persönlichen oder einen geschäftsmäßigen Anstrich geben wollten. Zur Problematisierung des Schenkens tragen die beiden abschließenden Kapitel "Fehlgegangene Geschenke" und "Gaben, Bestechungsgelder und die Krone" bei, die zeigen, dass sich die Zeitgenossen durchaus der Widersprüche bewusst waren, die sich aus dem Nebeneinander der verschiedenen Systeme ergaben, auch wenn sie diese nicht so trefflich zu formulieren wussten wie Michel de Montaigne, dessen Überlegungen über die Eitelkeit die Autorin an herausgehobener Stelle zitiert. Montaigne kam zu dem Ergebnis, dass im System der Gabe, dessen Ausdruck und Bindemittel die Geschenke seien, die Abhängigkeit des einzelnen größer sei als auf dem Markt, wo jeder unabhängig vom anderen seine Dienste anbieten oder kaufen könne. Dies gelte auch und gerade dann, wenn der Gebende keine Gegengabe verlange. Denn: "Die Kette, die mich an das Gesetz der Ehre fesselt, scheint mir weit lästiger und lastender als die des rechtlichen Zwangs. Ein Notar nimmt mich viel lockrer an die Kandare als ich mich selbst."

Die Montaigne-Stelle erscheint so interessant, weil sie wie in einem Brennglas den Wechsel der Systeme aufzeigt: Das ältere System der Gabe, unendlich ausdifferenziert und dem subjektiven Variantenreichtum angepasst, erweist sich dennoch für das moderne humanistische Ich als inadäquat, weil es die Vielheit der Bindungen widerspiegelt. Der neue Mensch des 16. Jahrhunderts möchte seine Autonomie garantiert sehen, und er braucht dazu das Dach des modernen Staates, unter dessen Schutz die verschiedenen Individuen auf dem Markt gleichartiger Beziehungen, deren Ausdruck das Geld ist, miteinander in größtmöglicher Freiheit verkehren: "Ich behaupte..., dass unser Leben auf Recht und Gesetzesmacht gründen sollte, nicht auf Erkenntlichkeit und Huld." (S. 110)

Man bedauert ein wenig, dass die Autorin davor zurückscheut, solche Stellen interpretatorisch stärker auszubeuten. Vielleicht möchte sie vermeiden, damit in die alten Strukturprinzipien des traditionellen Historikers zurückzufallen. Aber schließen sich historische Anthropologie und traditionelle Historik denn so eindeutig aus? Es ist gerade für den traditionellen Historiker nicht ohne Reiz, die vermeintlich bekannte Welt des 16. Jahrhunderts mit ihren Staatsaktionen, ihren Kriegen und Konfessionskonflikten unter der ungewohnten Linse des Anthropologen zu sehen. Problematisch wird es nur dort, wo offensichtlich Lücken im Bild bleiben, die die Autorin möglicherweise nur deshalb nicht schließt, weil sie damit in eine traditionelle Sicht zurückzufallen befürchtet. Oder ist die Autorin an politischen oder religiösen Fragen überhaupt nicht interessiert? So scheint es zumindest in den ersten Kapiteln der Fall zu sein. Sie entnimmt ihre Beispiele scheinbar wahllos den verschiedenen religiösen Gruppen, ja sie scheint das Kriterium der Konfession bei der Präsentation der Quellen überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen. Erst im letzten Kapitel "Gaben und die Götter" holt die Autorin einen Teil der konfessionellen Fragestellung mit in ihre Studie hinein, indem sie die verschiedenen Wertigkeiten zeigt, die die Gabe in der katholischen und der protestantischen Religionsauffassung annahm. Das versöhnt den traditionellen Historiker dann doch ein wenig mit einer so überaus reichen und plastischen Darstellung des Lebens im Frankreich des 16. Jahrhunderts.

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