D. Gugerli u. D. Speich: Topografien

Titel
Topografien der Nation. Politik, kartografische ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Gugerli, David; Daniel Speich
Erschienen
Zürich 2002: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 29.90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Kirchhoff, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur e. V. an der Universität Leipzig

In seinem 1990 in deutscher Übersetzung erschienen Essaybändchen „Geographie und politisches Handeln“ forderte Yves Lacoste, geographische Sichtweisen wieder in den Blickpunkt der politischen Wahrnehmung zu rücken. Seien die Jahrzehnte zuvor die Ära der Ökonomen gewesen, so schlage dieselbe „Stunde [...] heute den Geographen“. 1 Wenig später war an anderer Stelle, in einem Sammelband zum Thema „Empire und Geography“, sogar von einem „geographical turn“ in der Gesellschaftstheorie die Rede. 2 Solch weitgehende Formulierungen muss man nicht teilen. Fraglos aber erfreuen sich die räumlichen Dimensionen des Kulturellen, des Sozialen, sowie des politischen Handelns heute erheblicher Beachtung. Die Theorie kollektiver Gedächtnisse hat „ihren“ Raum in den im metaphorischen wie im Wortsinn aufgefassten Erinnerungsorten, den „lieux de mémoire“, gefunden. Vielerorts ist von „mental maps“ die Rede. Häufig aufgegriffen wird auch Benedict Andersons Hinweis auf die Bedeutung von Landkarten für die „Erfindung der Nation“. 3

Eben diesem Verhältnis von Kartographie und „Imagined Communities“ geht nun die Studie „Topografien der Nation“ nach. „Kartografiegeschichte müsste zur Gesellschaftsgeschichte erweitert werden (et vice versa)“ (145), schlagen die Autoren David Gugerli und Daniel Speich vor. Dazu liefern sie selbst einen bedeutenden Beitrag. „Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert“ lautetet der wohl bewusst ohne Ortsangabe gehaltene Untertitel. Konkret allerdings geht es um die kartografische Konstruktion der Schweiz.

Im Zentrum der Darstellung steht das Kartenwerk mit dem offiziellen Titel „Topographische Karte der Schweiz, vermessen und herausgegeben auf Befehl der eidgenössischen Behörden ...“. Die 25 Blätter der Karte, die zusammen eine Fläche von 3,5 x 2,5 Metern einnehmen, stellen das Resultat des mehr als drei Jahrzehnte, von 1832 bis 1865, währenden Vermessungsprojekts der Schweiz dar. Von den Zeitgenossen als Meisterleistung gefeiert und mit zahlreichen internationalen Auszeichnungen versehen, findet sich noch heute in Lexika unter dem Namen des verantwortlichen Leiters, des Generals Guillaume-Henri Dufour, der Hinweis auf die für die Entwicklung von Gebirgskarten bahnbrechende Wirkung der „Dufourkarte“. Durch ihren dreidimensionalen Eindruck, mittels eines imaginären Blicks aus der Luft, trat „die Schweiz“ hervor.

David Gugerli und Daniel Speich verorten die Entstehungsgeschichte und Wirkung dieser amtlichen Karte in einer Dreieckskonstellation aus Macht, Wissen und Raum. „Die staatliche Vermessung der Schweiz dient als exemplarischer Gegenstand, an dem die Verflechtungen der drei Kategorien sichtbar werden.“ (15) Zentral für ihren Ansatz, der sich von einer konventionellen Kartografiegeschichte, aber auch von einer vorschnellen Annahme einer plumpen, nationalistischen Instrumentalisierung der Kartografie absetzt, ist der Begriff der „Topografie“: „Die Topografien der Nation sind als die je geltenden Konfigurationen von Politik, kartografischer Ordnung und Landschaft zu verstehen.“ (16) Topografien können gesellschaftlich genauso überraschend neu etabliert oder erfunden werden, wie sie, oder wesentliche ihrer Elemente, von langer Dauer sein können. Weil die kartografischen (Re-)Produktionen der Nation in ihrer seit dem 19. Jahrhundert etablierten Form heute als selbstverständlich erscheinen, tatsächlich aber das hochverdichtete Aggregat von vielfältigen, im Ergebnis unsichtbar gewordener Verfahren und Entscheidungen sind, sprechen die Autoren mehrfach von der Karte als „Blackbox“. Sie zu öffnen, gelingt ihnen eindrucksvoll – und das gleich auf mehreren Ebenen.

1. Politik

Der erste Hauptteil mit dem Titel „Die Karte und der Bundesstaat“ nähert sich der hinter und in der Karte verborgenen politischen Ebene. Die Reihenfolge ist hier Programm – erst die Karte, dann der Staat. Zwar hatte das Ancien Régime Kartografie als Staatsaufgabe betrachtet, aber das in amtlichen Karten enthaltene Verwaltungswissen als Herrschaftswissen streng geheim gehalten. Das aufklärerische Ziel, den geografischen Raum transparent zu machen, bedeutete zugleich die Durchsichtigkeit des politischen Raumes. Die grundlegenden Arbeiten an der eidgenössischen Karte fielen nun in die strukturbildende Phase des schweizerischen Liberalismus zwischen 1830 und 1848. Das veröffentlichte Produkt verkörperte mithin den „bundesstaatliche[n] Triumph des Liberalismus, unter dessen Ägide die Eidgenossenschaft zu einer politisch geeinten Nation geworden war“ (22). Dabei war der Entschluss zur Karte der formellen Gründung des schweizerischen Bundesstaates im Jahr 1848 vorausgegangen. Der verfassungsgeschichtlichen Periodisierung lässt sich ein verwaltungsgeschichtlicher Vorlauf zur Seite stellen. Verwaltungsgeschichtlich halten David Gugerli und Daniel Speich gerade den Beschluss des alle Kantone involvierenden und „Verfahren“ erfordernden Kartenprojekts für essentiell: „Das Vermessungsprojekt kann als Nukleus der zentralen Verwaltung gelten“ (20).

Karten stellen einen „Möglichkeitsraum“ dar, dessen offeriertes Handlungspotenzial zur Veränderung der Realität einlädt. Zudem geht von ihnen eine „Benennungsmacht“ auf die bezeichneten Räume aus, die oft realitätsprägend ist. „Landkarten zeichnen sich also durch eine doppelte Pragmatik aus: Sie stellen Handlungsmöglichkeiten bereit, und sie sind selbst machtpolitische Akte“ (75). Die frühe Rezeptions- und Anwendungsgeschichte der Dufourkarte bietet hierfür anschauliche Belege: Als 1845 ihre ersten Blätter erschienen, löste dies eine hohe Resonanz, aber auch Entrüstung aus. Kritiker erhitzten sich an „falschen“ oder fehlenden Ortsnamen, oder dem Verlauf bestimmter Grenzen. So hatte die Eidgenössische Militärkommission beispielsweise – einem Dekret gleich – bestimmt, dass bei existierenden Mehrfachbenennungen eines Landschaftsobjekts auf der Karte nur ein Namen zu verwenden war. Hier wurde ihre Benennungsmacht offenbar.

Die Macht der Karte erwies sich wenig später auch, als es im Sonderbundskrieg von 1847 die „militärisch-politische Wahrheit“ festzustellen galt. Die Liberalen feierten Dufour als Retter der Nation, weil er als Chefkartograf und General in Personalunion die ihm vorliegenden, bereits fertigen Blätter als Grundlage des strategischen Vorgehens der Tagsatzungstruppen gegen die Kantone des Sonderbunds verwendete. So ließen sich die geringen militärischen Chancen des Sonderbunds vorhersehen, ja sogar sein Kapitulationszeitpunkt kartografisch vorausberechnen. Wie für die „politisch geeinte Nation“ war die Karte auch für das technisch-infrastrukturell geeinte Territorium von Bedeutung. Sie erschloss die Möglichkeitsräume für die raumgreifenden Großprojekte der Zeit, für die Eisenbahn ebenso wie für den Wasserbau.

2. Kartografische Ordnung

Im folgenden zweiten Teil öffnen die Autoren wiederum die „Blackbox“ der Karte, nun aber hinsichtlich der ihr eingeschriebenen Herstellungsbedingungen und Produktionsverfahren, sowie der Organisation und Legitimation von Wissen. Auf der organisatorischen Ebene ging die Vorgabe, kartografisch stets die gesamte Schweiz zu denken, mit der Umkehrung des bisherigen Verfahrens einher. Die beabsichtigte virtuelle Aufsicht auf das Land aus einer standpunktlosen vertikalen Perspektive korrelierte mit der Etablierung eines Top-Down-Verfahrens. Die Leitung gab die Grunddaten vor, an denen sich die Einzelvermessungen in den Kantonen und ein ganzer Stand von Kartografen und Vermessern zu orientieren hatten. Auch auf dieser Ebene also erfolgte eine Zentralisierung und Vereinheitlichung.

In plausibler Anlehnung an Luhmann sprechen David Gugerli und Daniel Speich hinsichtlich der Organisation des kartographischen Wissens von einer „Legitimation durch Verfahren“. Geradezu „radikal historisierend“ allerdings nimmt sich ihre Analyse des Zustandekommens und der Legitimation kartografischen Wissens aus. Diesen Anlauf unternehmen die Autoren in Kapitel 6 anhand einer minutiösen Vermessungsgeschichte der Basis, also der Grundlinie des trigonometrischen Netzes, das wiederum die Grundlage der ganzen Karte bildete. Hier wagen sie, inspiriert durch Foucault, einen „kontextualisierende[n] Schritt, den die Kartografiegeschichte nicht wagen will, weil er die radikale Historisierung der messtechnisch-wissenschaftlichen Konsistenz erfordert und die Trennungslinie zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zum Verschwinden bringt“ (145). Das 1840 veröffentlichte Ergebnis der Basisvermessung im Großen Moos lautete: „Die ... Länge der Grundlinie ist 13'053,74 Meter.“ Dank der gesellschaftlichen Rekontextualisierung der Autoren tritt nun, auf fünfzehn Seiten einem kleinen Drama gleich erzählt, die hinter dem Messergebnis liegende Geschichte hervor. Berichtet wird von einem auf Holzpfählen installierten Messlabor, das für jede einzelne Messungen um exakt 5,847 Meter verschoben werden musste, vom drohenden Scheitern des Unternehmens und von Interventionen, die das Projekt retteten. Dadurch war das Messergebnis aber noch nicht gesichert. Vielmehr wurde bei der Auswertung der Daten ein komplexes Netz sich gegenseitig verstärkender Autoritätszuschreibungen aktiviert. Entscheidend war die Rückversicherung der konkreten Messergebnisse durch das französische Dépôt de la Guerre in Paris, damals „sozusagen das geodätische Hauptquartier der Welt“ (160). Auf dessen Kritik wurden die Rohdaten solange erneut gerechnet und verhandelt, bis die geringe Differenz zum „geforderten“ Ergebnis – es ging um wenige Zentimeter – in kartographischem Einverständnis zum Verschwinden gebracht werden konnte. Auch die Basis fand ihre Legitimation durch Verfahren, die Gemeinschaft der Ingenieure fand sich stabilisiert, die Akzeptanz des ganzen Vorhabens durch die Politik und mithin die geodätisch gestützte kartografische Konstruktion der Nation war gesichert.

3. Landschaft

Mit ähnlich mikrologischem Blick nähern sich Gugerli und Speich im dritten Teil ihrer Studie den „Tücken der Landschaft“. Nachdem die Ingenieure, teilweise in Lebensgefahr, auch den Hochalpen ihre Daten abgerungen hatten, galt es, das Unmögliche möglich zu machen: Die Daten dreidimensional auf Papier zur Geltung zu bringen, vor allem die Alpen auf dem Blatt „hervorzutäuschen“. Letztlich kombinierte die Karte rationale Objektivität mit einer effektvollen Darstellung. Als 1898 der erste Versuch der Alpenüberquerung im Ballon stattfand, wurde deutlich, dass das Relief auf der Karte viel stärker hervortrat, als es sich dem tatsächlichen Blick von oben darbot. Überraschenderweise monierte der Ballonfahrer nicht die kartografische Übertreibung, sondern bemängelte „dass wir im Ballon so wenig vom Relief sehen“ (210).

„Topografien der Nation“

David Gugerli und Daniel Speich leisten einen bedeutenden Beitrag zu einer zur politischen Gesellschaftsgeschichte erweiterten Kartografiegeschichte. Zugleich ergibt sich daraus eine kartographiegeschichtliche Bereicherung der Nationalismusforschung. Nicht zuletzt durch die Selbstverortung der Rezipienten tritt die nationale Landkarte als ein Medium, und im Wortsinn als Unterlage des eigentlich Unfassbaren der imaginierten Gemeinschaft hervor. Eine solche komplexe „Topografie der Nation“ ermittelt zu haben, verdankt sich dem intensiven Quellenstudium wie der hohen Theoriefreude der Autoren gleichermaßen.

Anmerkungen
1 Yves Lacoste, Geographie und politisches Handeln. Perspektiven einer neuen Geopolitik (Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek 26), a. d. Franz., Berlin 1990, Zitat: s. Einband. In dem Band geht es nicht nur um „Geopolitik“, sondern auch um „Landschaft“.
2 Anne Godlewska und Neil Smith, Introduction: Critical Histories of Geography, in: Dies. (Hgg.), Geography and Empire, Oxford, Cambrige/MA 1994, 1-8, Zitat: 3. Vgl. dort auch die Literaturhinweise.
3 Bendedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/Main, New York 1996 (engl. Originalausg. London 1983), 172-180.