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Titel
Inzestverbot und Gesetzgebung. Die Konstruktion eines Verbrechens (300–1100)


Autor(en)
Ubl, Karl
Reihe
Millenium-Studien / Millenium Studies 20
Erschienen
Berlin 2008: de Gruyter
Anzahl Seiten
VIII, 591 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ludwig Schmugge, Historisches Seminar, Universität Zürich

Die Tübinger Habilitationsschrift greift ein in der Rechtsgeschichte viel diskutiertes Thema auf, das kanonische Inzestverbot, ein Ehehindernis, welches bis zum Jahre 1215 allen Heiratswilligen, die bis in den 7. agnatischen und kognatischen Grad verwandt waren, die legitime Ehe verbot. Das IV. Laterankonzil hat die Grenze dann auf den 4. Verwandtschaftsgrad heraufgerückt, weil „kein Mensch mehr in der Lage [war], alle 128 Vorfahren in der siebten Generation namentlich zu kennen, mit deren Nachkommen er nach dem kirchlichen Eherecht verwandt war“ (S. 477).

Ubl geht der Entstehung dieses Verbots nach, beschränkt jedoch seinen Untersuchungszeitraum auf die Jahre zwischen 300 und 1100, die Zeit zwischen Diocletian und Gregor VII., die Jahrhunderte vor der Entfaltung des kanonischen Rechts durch Gratian, die Dekretalen und die Universitäten, also das von ihm als eine Zeit der „Entdifferenzierung des Rechts“ (S. 27) bezeichnete Früh- und Hochmittelalter. Gleichwohl dient ihm der berühmte Ehetrennungsprozess, den Philipp II. Augustus seit 1193 in Rom führte, als Einstieg in die Materie. In dem Überblick über die einschlägige Literatur schlägt Ubl sich mit überholten Thesen (Goody, Poly) herum, während er religionsgeschichtlicher (Mitterauer) Deutung des Inzestverbots eher zuneigt.1 In einem nützlichen Abschnitt über die verschiedenen Modi der Verwandtschaftszählung kommt er zu dem Ergebnis, dass sich die kanonische Zählung erst im 11. Jahrhundert durchsetzte. Nach einigen theoretischen Überlegungen und Pflichtverbeugungen vor Luhmann, Fögen und der Theorie der „symbolischen Gesetzgebung“ und nach der Erkenntnis, es sei „nur eine kontextualisierte Rechtsgeschichte vor dem Gesamthintergrund der Gesellschaft erfolgversprechend“ (S. 32) geht Ubl dann doch (Gott sei Dank!) zur juristischen Realgeschichte über und untersucht die (zahlreichen) Rechtstexte und die (weniger zahlreichen) Rechtsfälle, in denen es um Inzest geht.

Das alte römische Inzestverbot bis zum 6. Grad, welches um 300 „nicht mehr zum Kernbestand der moralischen Wertvorstellungen“ (S. 46) in Rom gehörte, übte nach Ubl „keinen maßgeblichen Einfluss auf die Ausweitung des Inzestverbots in christlicher Zeit aus“ (S. 42). Seit Justinian (Codex 5.4.19) fällt auch die geistliche Verwandtschaft (später cognatio spiritualis genannt) unter das Inzestverbot und wird (im Westen erst seit 721) damit zu einem Ehehindernis. Die Volksrechte der frühmittelalterlichen Germanen enthalten keine „positiven Heiratsregeln“, deren „Vorschriften zum Inzestverbot stammen aus dem römischen und christlichen Traditionsfundus“ (S. 84). Das (schmale) „Dossier der Rechtsfälle“ (S. 84–103) bringt die gleichen Ergebnisse, ein Inzestverbot unter Verwandten und Verschwägerten existierte bei den Franken nicht. Im arianischen Herrschaftsbereich hingegen steht die Inzestgesetzgebung eindeutig in der römischen Tradition. Dass das Inzestverbot der Kirche darauf angelegt war, „die germanischen Sippenverbände zu zerschlagen“ (S. 114), entlarvt Ubl als eine Mär der älteren Forschung. Auch einen „germanischen Widerstand gegen das Inzestverbot“ (Mikat) hält er für nicht nachweisbar. Im Frankenreich wie in Burgund und bei den Westgoten waren die Bischöfe „Protagonisten des Inzestverbots“ (S. 117), seit Avitus von Vienne und dem Konzil von Epaon sei das Inzestverbot auf die gesamte Verwandtschaft ausgedehnt worden, eine Ehe bei Inzest war zu annullieren. Ubl spricht von einer „Obsession“ der kirchlichen Gesetzgebung in Sachen Inzest als einem Mittel zur Stärkung der Bischofsgewalt (S. 175). Die „Implementierung“ des Inzestverbots in das weltliche Recht des Frankenreiches (und seine Verschärfung) sei dann seit dem Ende des 6. Jahrhunderts sukzessiv in der Lex Salica und der Lex Ribuaria erfolgt, deren Datierung in der Forschung dem Bau von Kartenhäusern ähnelt. Bei den Westgoten habe sich ebenfalls das römische Inzestverbot mit der römisch-rechtlichen Definition der Verwandtschaft durchgesetzt und in der Lex Visigothorum Niederschlag gefunden. Fazit: Beim Inzestverbot ist (gegen Goody) keine kirchliche programmatische Steuerung festzustellen, die germanischen Sippen zu zerstören oder sich den Besitz des Adels aneignen zu wollen, sondern das Interesse von Königtum und Adel herrschte vor, durch Rekurs auf göttliches Recht in der Krise der Spätantike zu einer „Stabilisierung und Integration der Gesellschaft“ (S. 215) zu gelangen.

Ubl legt sodann dar, wie die Karolinger das Inzestverbot zu einem „Schlüsselthema ihrer Herrschaft“ machten. Nach seiner Abwendung von Byzanz verbot Papst Gregor III. in einem Brief an Bonifatius (von den Westgoten übernommen) die Verwandtenehe bis in den 7. Grad (römischer Zählung), was von fränkischen Synoden rezipiert wurde. Der „starrsinnige“ Bonifatius, angelsächsisch geschult, war vom „Zusammenstoß der Kulturen“ verwirrt (S. 219f., S. 250f.) und wollte insbesondere die geistliche Verwandtschaft wegen fehlender biblischer Grundlagen nicht als Ehehindernis akzeptieren, wie seine zahlreichen Anfragen nach Rom zeigen. Mit Pippin, der „mit dem Inzestverbot regelrecht Politik machte“ (S. 288) und der Etablierung der Karolinger nahm „die mit Diocletian beginnende große Zeit der weltlichen Inzestgesetzgebung ein Ende“ (S. 251). Jetzt übernahmen die Synoden und Konzilien die Kontrolle über das Inzestverbot im römischen Sinn und setzten sie mit Unterstützung der Karolinger im Frankenreich durch. Karl der Große hatte (weitsichtig) zur Vermeidung von Inzestehen bereits 802 eine voreheliche Untersuchung der Verwandtschaftsverhältnisse des Brautpaares, eine Vorform des späteren Aufgebots, reichsweit angeordnet, ohne jedoch eine Wirkung zu erzielen. Nach Ubl diente das Inzestverbot den Karolingern als Mittel zur Schaffung einer „Reichsaristokratie“ (Tellenbach).

Über die Ausdehnung des Inzestverbots herrschte dagegen noch Uneinigkeit, wie Ubl bei „einer Reise durch das Frankenreich“ demonstriert. Keineswegs galt bereits überall der 7. Verwandtschaftsgrad (S. 294–307, S. 374f.). Eigene Kapitel werden hier der Position des Hrabanus Maurus, Pseudoisidors und des Benedictus Levita, Hinkmars von Reims sowie Reginos von Prüm (mit teilweise neuen Interpretationsvorschlägen ihrer Rechtstexte) gewidmet. Durch Reginos Handbuch wurde der Inzest zu einem auch vom Sendgericht verfolgten Delikt. Erst im 11. Jahrhundert ist die Inzestgrenze schlussendlich auf den 7. Grad kanonischer Zählung ausgedehnt worden, wie Ubl gegen illustre Namen der älteren Forschung (Duby, Freisen, Fried, Mordek, Weigand) mit soliden Gründen nachweist. Heinrich II. „markiert den letzten Höhepunkt der staatlichen Verfolgung von Inzestdelikten“ (S. 384), vom König ging die Neuerung des Verbots bis zum 7. (kanonischen) Grad aus, was über Burchard von Worms, Petrus Damiani, Nikolaus II. und Alexander II. zu Gratian gelangte: Exogamie gegen die vom Adel vertretene Isogamie im Interesse der Legitimation Heinrichs II. Selbstverständlich dürfen hier die berühmten Prozesse gegen den Salier Konrad und Otto von Hammerstein nicht fehlen. Trotz der Inzestverbote scheint Dispensation bereits im 10. und 11. Jahrhundert (offensichtlich durch eine Schenkung an die Kirche erkauft, siehe S. 445f., S. 467f.) nicht selten gewesen zu sein. Im Spätmittelalter wurde in Rom dann zehntausendfach Dispens von fast allen kanonischen Ehehindernissen gewährt.2

Die Arbeit bietet profunde Quellenanalyse auf der Basis breiter Literaturverarbeitung. Ubl bewegt sich sicher in den Untiefen der vorgratianischen Kanonessammlungen, kennt die umfangreiche einschlägige Literatur und hat keine Angst, immer wieder die Quellen sprechen zu lassen, schreibt sprachlich glatt, scheut gelegentlich auch nicht vor Modernismen zurück. Einige Resultate kommen zwar mangels Quellen nur als „ansprechende Vermutungen“ daher, der Grundthese ist jedoch zuzustimmen: Sozialwissenschaftlicher Funktionalismus (Malinowski, Lévy-Strauss, Goody) könne den Wandel des Inzestverbots zwischen 300 und 1100 nicht erklären. Hingegen standen „Gesetze zur Ausdehnung von Exogamie [...] dort im Mittelpunkt der Gesetzgebung, wo Großreiche nach dem Zerfall antiker Staatlichkeit an der Intensivierung überregionaler Kommunikation innerhalb des Adels interessiert waren“ (S. 497). Das Buch ist durch sorgfältig gestaltete Register gut erschlossen, es stellt einen Meilenstein in der Erforschung der Inzestgesetzgebung dar.

Anmerkungen:
1 Die sozio-biologische Erkenntnis, dass Inzestvermeidung bei Tieren offenbar der Sicherung genetischer Variabilität dient, verdiente wenigstens einen Hinweis, vgl. Norbert Bischof, Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie, 5. Aufl. München 1989 (1. Aufl. 1985).
2 Vgl. Ludwig Schmugge, Ehen vor Gericht. Paare der Renaissance vor dem Papst, Berlin 2008.

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