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Titel
Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen


Autor(en)
Geary, Patrick J.
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
223 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Brauer, Institut für Geschichtswissenschaften der HU Berlin

Weit holt der renommierte amerikanische Mediävist Patrick J. Geary in seiner jüngsten Veröffentlichung aus, um die „Legende vom Werden der Nationen“ im frühen Mittelalter zu widerlegen. Wer heute über diese „Völker“ nachdenkt, so der Grundgedanke, muss sich eines dreifachen Traditionszusammenhangs bewusst sein: er nimmt Bezug auf den emphatischen Volksbegriff des 19. Jahrhunderts, die „tatsächlichen“ Völker des frühen Mittelalters und übergeordnete Deutungsmuster, die bis weit in die Antike zurückreichen. Auf knapp 200 Seiten ist damit zugleich eine Einführung in das Problem der Ethnizität entstanden, in einer Mischform aus historischem und politischem Essay, die zur thesenhaften Zuspitzung zwingt und sich an ein allgemeines, historisch interessiertes Publikum richtet. Dies ist ganz im Sinne der Reihe „Europäische Geschichte“ des Fischer-Verlags, die sich durch einen betont exemplarischen Zugriff von anderen Europa-Reihen unterscheidet und in (geplanten) 65 Bänden alle Epochen und Forschungsgebiete behandeln will.

In seiner Einleitung verdeutlicht Geary die aktuelle Brisanz des Themas Ethnizität anhand der Renaissance von Nationalismen und ethnischen Konflikten seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Er begnügt sich allerdings nicht damit, populistische Politiker der Instrumentalisierung von Geschichte anzuklagen. Vielmehr ist nach Geary auch die internationale Politik einem Argumentationsmuster verhaftet, in dem Völker als objektive Phänomene existieren und daraus einen Anspruch auf politische Autonomie ableiten können.

Folgerichtig ist das erste Kapitel einer Skizze der Ideologie des Nationalismus im 19. Jahrhundert gewidmet, welche „die romantische politische Philosophie Rousseaus und Hegels mit einer ‚wissenschaftlichen‘ Geschichte und indo-europäischen Philologie kombinierte“ (22). Dieser Zusammenhang, in dem Nationen als „imaginierte Gesellschaften“ (26, nach Benedict Anderson) erst geschaffen und dann ins frühe Mittelalter projiziert wurden, ist nicht gerade unbekannt, so dass es verwundert, mit welcher Schärfe Geary das Wirken von Historikern und Philologen geißelt. Das hier entwickelte Verständnis der Vergangenheit sei „eine Mülldeponie für das Gift des ethnischen Nationalismus“ und die „Entsorgung dieses Abfalls ist die wohl bedrückendste Aufgabe, die sich heutigen Historikern stellt“ (25). In dieser Zeit ist die Auffassung entstanden, dass man ein Volk objektiv durch die Sprache identifizieren kann und dass sich schon in den ältesten Quellen eine „Sprachgemeinschaft“ zeigt, die religiöse und soziale Werte sowie ein politisches System teilte.

Es ist ein Zeichen von Differenziertheit, dass Geary von der Imagination nicht direkt zur Realität frühmittelalterlicher Völker übergeht, sondern im zweiten Kapitel die Ursprünge der Sprache untersucht, mit der Ethnizität beschrieben wird. In der Antike wurde eine folgenreiche Dichotomie von Völkern entwickelt; auf der einen Seite standen die auf Gesetz gegründeten und aus einem historischen Prozess entstandenen Zivilisierten, auf der anderen die Barbaren, die nicht historisch, sondern biologisch definiert wurden durch Abstammung, Brauch und Geographie. In der römischen Terminologie, die auf griechischen Vorbildern aufbaut, ist dies der Unterschied zwischen populus Romanus und den gentes. Da nun die Erforschung der „Barbaren“ auf römische Quellen angewiesen ist, hat sie bis ins 20. Jahrhundert hinein auch die römischen Kategorien kolportiert, die das Bild der „Völkerwanderung“ in der breiten Öffentlichkeit noch heute bestimmen. Danach steht hinter den Namen von Völkern eine ethnische Einheit mit festen Charakteristika.

Erst die spezialisierte Ethnogeneseforschung der Nachkriegszeit konnte zeigen, dass die überlieferten Quellen das Ende eines komplizierten Transformationsprozesses fixieren und ein neuartiges Verständnis von Ethnizität entwickeln 1. So definiert Geary, der selbst einschlägig auf diesem Gebiet gearbeitet hat 2, barbarische Völker als „konstitutionelle Verbände, die unter Führung aristokratischer Kriegerfamilien Gruppen unterschiedlicher kultureller, sprachlicher und geographischer Abkunft in sich vereinten“ (71). Es waren also ganz disparate Gruppen oder „Kriegerbanden“ (175), die von römischen Autoren mit alten Völkernamen und deren Traditionen belegt wurden und sich diesen Stereotypen schließlich anpassten. Träger dieser „Identitätspolitik“ waren erfolgreiche Militärführer, doch schon eine Niederlage konnte ein „Volk“ auseinanderbrechen und in neuen Koalitionen aufgehen lassen.

In den folgenden Kapiteln skizziert Geary mit groben Strichen die europäischen Ethnogeneseprozesse vom 3. bis etwa 8. Jahrhundert, hier soll es aber mehr um die im Text erkennbaren Modelle als um Ereignisse gehen. Das dritte Kapitel, „Barbaren und andere Römer“, beschreibt den Umgang Roms mit den Barbaren in seiner Nachbarschaft im 3. Jahrhundert. Barbarische Koalitionen und Übergriffe auf die Grenzen konnten zu dieser Zeit noch erfolgreich abgewehrt werden und führten entweder zum Untergang der angreifenden Völker oder zur Abhängigkeit unter römischem Vertrag (foedus). Auf diese Weise entstand bis zum Ende des Jahrhunderts eine Reihe von Klientel-Pufferstaaten, in denen Karrierewillige eine römisch-barbarische Doppelidentität entwickeln konnten.

Stärker verändert wurde die römische Welt des 4. und 5. Jahrhunderts nach dem Einfall der Hunnen im Jahr 375 (Kapitel 4, „Neue Barbaren und neue Römer“). Diese große nomadische Konföderation fiel zwar nach dem Tod Attilas (453) schnell wieder in sich zusammen, führte aber mittelbar zur Bildung von drei barbarischen Königreichen auf römischem Boden, die ein Ethnogenesemodell teilten (die Westgoten im Reich von Toulouse in Gallien, die Ostgoten in Italien und die Vandalen in Nordafrika). In diesen Staaten standen sich zwei klar getrennte Gesellschaften gegenüber, zum einen die mit kaiserlichem Mandat versehenen Barbaren als kleine, militärische Minderheit arianischen Glaubens, zum anderen die katholische, römische, zivile Mehrheit. Diese Staatsgebilde waren jedoch von relativ kurzer Dauer. Auf lange Sicht effektiver war eine andere Form von Ethnogenese, die zuerst im Norden des römischen Reiches auftrat, wo weniger Kontakt mit der Mittelmeerwelt bestand. Bei den Franken in Nordgallien sowie den Angelsachen in England verwischten die Unterschiede zwischen Barbaren und Römern zusehends und eine einheitliche Gesellschaft entstand.

Das fünfte Kapitel, „Die letzten Barbaren?“, zeichnet die Verschmelzungsprozesse nach, die nach dem Zusammenbruch der ersten barbarischen Königreiche auch im Langobardenreich in Italien und im westgotischen Spanien einsetzten. Als wichtigstes Instrument zur Bildung einer einheitlichen Identität benennt Geary dabei das Recht: allgemeingültige Gesetzeswerke trugen dazu bei, dass zu Beginn des 7. Jahrhunderts nicht mehr die Unterscheidung zwischen Römern und Barbaren die Bevölkerung unterteilte, sondern die Schichtzugehörigkeit. In der Zwischenzeit hatten sich aber an den Rändern des ehemaligen Imperiums und der nachfolgenden Königreiche neue Völker herausgebildet, die die Stelle der Barbaren einnahmen: Sachsen, Awaren und Slawen.

Geary schließt im sechsten Kapitel mit dem Ende ethnischer Verschmelzungsprozesse in den Karolingerreichen und einem anthropologischen Vergleich zwischen Zulus und Europäern. Als Fazit hält er fest: Ethnizität entsteht vor allem in der Vorstellung der Menschen; radikale Diskontinuitäten trennen alte Völker von den gegenwärtigen, und auch die Ethnogenese der letzteren ist nicht abgeschlossen.

Drei Punkte sind hervorzuheben, wenn man Gearys Essay vor dem Hintergrund der Ethnogeneseforschung liest. Zunächst gelingt es ihm, mit den oben skizzierten Modellen eine gewisse Ordnung in die Vielfalt der Ethnogenesen zu bringen, obgleich die meisten Forscher zu Fallstudien von einzelnen Völkern tendieren. Das Problem, ob es eine allgemeine Theorie der Ethnogenese geben kann, ist damit allerdings noch nicht gelöst 3. Eine weitere Qualität seines Essays liegt in der konsequenten Parallelbetrachtung von „römischen“ und „barbarischen“ Identitäten in ihrer Interdependenz und Wandlung, mit der sich Geary für den entscheidenden Einfluss Roms bei der Ausbildung des Frühmittelalters ausspricht 4. Wirklich stimulierend ist aber, wie Geary das Thema Ethnizität in seiner ganzen Komplexität von der Antike bis zur Gegenwart umreißt und sich dabei immer wieder als Intellektueller am Diskurs über die Transformation der heutigen europäischen Welt beteiligt.

Anmerkungen:
1 Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen Gentes, Köln/Graz 1961; Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie, 3., neubearb. Aufl. München 1990 (zuerst 1979); Walter Pohl, Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa, 567-822 n. Chr. München 1988; vgl. den Forschungsüberblick bei Walter Pohl, Tradition, Ethnogenese und literarische Gestaltung. Eine Zwischenbilanz, in: Ethnogenese und Überlieferung. Angewandte Methoden der Frühmittelalterforschung, hg. v. Karl Brunner und Brigitte Merta (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 31). Wien/München 1994, S. 9-26.
2 Patrick J. Geary, Ethnic identity as a situational construct, in: Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien 112 (1982) S. 15-26; ders., Before France and Germany. The Creation and Transformation of the Merovingian World, New York/Oxford 1988.
3 Vgl. die weiterführenden Überlegungen bei Herwig Wolfram, Typen der Ethnogenese. Ein Versuch, in: Die Franken und Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ (496/97), hg. v. Dieter Geuenich (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 19), Berlin 1998, S. 608-627.
4 Dies ist kein neuer Gedanke des Mediävisten, betonte er doch schon im ersten Satz seines Merowinger-Buches, dass die germanische Welt „vielleicht die großartigste und dauerhafteste Schöpfung des politischen und militärischen Genies der Römer“ war. Hier zitiert nach der deutschen Fassung: Die Merowinger. Europa vor Karl dem Großen, München 1996, S. 7.

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