Titel
Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert


Autor(en)
Kessel, Martina
Erschienen
Göttingen 2001: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
412 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Holtorf, Deutsches Hygiene-Museum Lingnerplatz 1 01069 Dresden

1. Was ist Langeweile?

Der französische Philosoph Francois Jullien stellte bei einem Berliner Vortrag im Mai 2001 das "Nackte" als Begriff der abendländischen Tradition dem "Faden" in der chinesischen Philosophie gegenüber 1. Das Fade bezeichne in China eine nichtmetaphysische Spiritualität, ein Genießenkönnen des Unspezifizierten. Es überwinde die Empfindsamkeit der Sinne, weil es in der Latenz verbleibe. Das Nackte dagegen sei ein Ausgangspunkt der europäischen Moderne, der das Denken in Formen, Proportionen, Modellen und Idealen eingeübt habe. Während in Europa die Anatomie nach Schönheit kategorisiert wurde, war in China der vorgeschmackliche Geist das Ziel der Kunst: dort gebe es keinen Begriff für "nackte Wahrheit", hier fehle die Offenheit für Erfahrung.

Die Bielefelder Professorin für Allgemeine Geschichte Martina Kessel untersucht in ihrer jetzt erschienenen Habilitationsschrift zur Geschichte der "Langeweile" die deutschen Mittel- und Oberschichten vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Dennoch hätte ihr Jullien möglicherweise helfen können, ihren Untersuchungsgegenstand genauer zu fassen. Denn Kessel verzichtet auf eine klare Definition des Begriffs: weder erläutert sie die Ethymologie - was besonders erstaunt, da sie sich auf Ideen- und Begriffsgeschichte konzentriert - noch bezieht sie in der Aneinanderreihung der verschiedenen historischen und wissenschaftlichen Positionen eigene Stellung. Sie wiederholt vielmehr weitgehend affirmativ die Diskurse des 18. und 19. Jahrhunderts: Langeweile als "Unlust" (7) und "existentielles Unbehagen" (9), als Thema von "Künstlern und anderen außergewöhnlichen Figuren" (7) und "Problem von Frauen der Oberschicht" (8), schließlich als "Territorium der Leere" 2, das dem bürgerlichen Werthorizont von Affektkontrolle und Zeitökonomie entgegenstehe (10).

Dabei hätte Kessel etwa eine Unterscheidung zwischen "existentieller Langeweile ... aus einer Hemmung von Selbstverwirklichung" und "schöpferischer Langeweile ... in einer Entlastungssituation", wie sie Martin Doehlemann vorgeschlagen hat 3, zu einer starken zivilisationskritischen These verhelfen können. Doch Kessel doziert stattdessen, dass "Langeweile nicht theorie- und modellfähig" sei (12) und "die universalisierenden Deutungen" (10) weniger interessierten. Viel allgemeiner als von ihr lässt sich die These eines Buches nicht formulieren: es "vermittelt Einsichten über den Entwurf moderner Identität in seiner geschlechtsspezifischen Brechung" (8) und zeige, dass "sich die aufklärerischen Vorstellungen von Zeitwahrnehmung, Arbeitsethos und Geschlechteridentität in Mentalität verwandelten." (338).

2. Die Zukunft der Frauen

Kessels Schrift beginnt mit einer methodischen Einleitung, die man, wie die Autorin selbst empfiehlt, "getrost überspringen" (15) kann. Hauptgegenstand ihres Buches ist die Auseinandersetzung der Aufklärer mit der romantischen Erkenntnis, daß "Vernunft nur zusammen mit Gefühl vollständig sei und beglücke" (41). Trotz der Pflichterfüllung im bürgerlichen Leben, wäre gerade die "Anstrengung noch richtig zu empfinden, (...) die Kunst, keine Langeweile zu haben" (47).

Zu ihrem wirklichen Thema kommt Kessel jedoch erst mit der Analyse der Geschlechterspezifizität. Frauen als "zeitlose Wesen, deren Bedürfnisse grundsätzlich mit ihren Mitteln übereinstimmten" 4 empfänden eine andere Langeweile als Männer: "Die temporale Konstruktion von Weiblichkeit ... blendete die historische Zukunft als Denkhorizont und Handlungsraum für Frauen aus und definierte sie einerseits über Gegenwart, andererseits über ein nichthistorisches, statisches Jenseits" (333). Als häusliche Handarbeit im 19. Jahrhundert zu einer bloß noch repräsentativen Tätigkeit geworden sei, entwickelte sie sich "zu einem Symbol für die Immobilität und Disziplinierung, die von Frauen verlangt wurde" (113). Langeweile begann auszubrechen. Auch dann, wenn während des Wartens auf die Verheiratung "Nervosität und innere Unruhe" (119) entstanden.

Demgegenüber verhielt sich der ideale Mann in der Balance zwischen Pflichtbewußtsein und Lebendigkeitsgefühl "leidenschaftlich und zweckrational zugleich" (159). Gelang dies nicht, konnte - wie im Falle des angesehenen Medizinprofessors Theodor Billroth (1829 - 1864) - gegen die persönliche Langeweile, alles erreicht zu haben, sogar der Krieg wieder Auftrieb geben (191). Die männliche Langeweile lag in Pflichtgefühl, Ehrgeiz und "Zwang zur Zukunft" (159). Am Ende scheint die Frauenhistorikerin Kessel nichts anderes zeigen zu wollen, als dass die Langeweile der Frauen durch Zukunftsorientierung (91), Arbeit (97) und eigene Interessenvertretung (101) historisch behoben werden konnte - also durch die Langeweile der Männer. Dieser Erkenntnisgewinn scheint jener weiblichen Opferrolle verwandt zu sein, die Kessel eigentlich vermeiden wollte (vgl. 10). Rätselhaft auch, warum sie sich dazu hinreißen lässt, die von dem Arzt Norbert Grabowsky 1897 geäußerte Kritik am "sexuellen Aufeinanderverwiesensein der Geschlechter" (323) dadurch zu erläutern, dass er "auch etliche Schriften zur Homosexualität veröffentlichte" (ebd.) - die Kessel aber gar nicht verwendet hat. Was will uns also diese Bemerkung sagen?

3. Zeitökonomien

Sie mag auch damit zu tun zu haben, dass der Untertitel des Buchs "Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen" ein Etikettenschwindel bleibt. Was Kessel beschreibt, sind auf der einen Seite lediglich emotionale Selbstkontrolle und Angst vor Langeweile, andererseits die im 19. Jahrhundert sich ausbreitende "Zeitökonomie" und "Zukunftsorientierung". Wie differenziert und zupackend solche Mentalitätsgeschichte geschrieben werden kann, hat für die gleiche Zeit beispielsweise Christian Begemann in seiner Auseinandersetzung mit der Wechselwirkung zwischen Angst und Aufklärung bewiesen 5. Demgegenüber bleibt Kessel oberflächlich, wenn sie etwa behauptet, dass "Zukunftsorientierung bis heute in ein selbstverständlich geltendes anthropologisches Grundmodell verwandelt" (80) worden sei 6 und dafür auf die "Psychopathologie in den 1960er Jahren" (!) und eine Arbeit der Motivationsforschung von 1967 (!) verweist. Offen bleiben viele Fragen: Wie verliefen die sozialen Auseinandersetzungen um die Durchsetzung des evolutiven Zeitmodells? Welche rhythmischen Zeiterfahrungen des Alltags stehen dem entgegen? Unterscheiden sich Emotionen nur im kulturell vermittelten Körperausdruck oder auch im subjektiven Empfinden? Wie wurde zwischen Zukunftsorientierung und emotionalen Augenblicksbedürfnissen verhandelt?

Obwohl Kessel auch zu Kulturtheorie und Postmoderne 7 veröffentlicht hat, zeigt sie in ihrem neuen Buch wenig Verständnis für Philosophien der Vielheit. Neuere Auseinandersetzungen mit den Begriffen "Identität", "Geschlecht" oder "Diskurs" hat Kessel nicht aufgegriffen, im Falle Judith Butlers weist sie deren Subjektivitätskritik sogar ausdrücklich zurück (298). Friedrich Nietzsche wird mit den Schlagworten "aristokratisches Herrschaftsmodell" (318) und "Kult des Irrationalen" (338) abgebürstet. Michel Foucaults wichtige Schrift zur zeitlichen Disziplinierung und Ökonomisierung "Überwachen und Strafen" ist im ansonsten umfangreichen Literaturverzeichnis von 37 Druckseiten gar nicht zu finden. Und der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard dient lediglich dazu, Quelle eines Baudelaire-Zitats zu sein (87).

Martina Kessel hat eine historische Studie vorgelegt, die als erste Erschließung eines originellen Themenfeldes gelten kann. Gerade von den Rändern gesellschaftlicher Dynamiken her lassen sich aufschlussreiche Rückschlüsse auf die jeweils erlebte historische Wirklichkeit ziehen, die sich mittels der etablierten empirischen Sozialgeschichte kaum erschließen lässt. Dennoch fehlt dem Buch eine tragende These. Über weite Strecken liest es sich seinerseits als Ergebnis vieljähriger Disziplin und zeitökonomischer Quellensammlung im Zettelkasten. Besonders ärgerlich ist deshalb, dass Kessel geistesgeschichtliche Werke oft nur indirekt zitiert: nicht nur Baudelaire hat sie bei Lyotard gefunden (87), aus der Sekundärliteratur stammen auch Kant (25), Lessing (82), Wilhelm von Humboldt (74), Hegel (27) und Marx (27). Freud wird in der Version Walter Benjamins aufgegriffen (106), Nietzsche in der Fassung von Helmuth Plessner (164), Plessner wiederum von Zygmunt Bauman übernommen (278). Das ist wahrhaftig eine ungewollte "Geschichte ohne Zentrum" 8, der ein fundierter Begriff von Langeweile – konfrontiert vielleicht mit der chinesischen "Fadheit" - die theoretische Würze hätte geben können, eine nicht nur romantische Kritik männlicher Zeitökonomie zu leisten.

Anmerkungen:
1 vgl. Francois Jullien: Über das Fade. Eine Eloge. Zu Denken und Ästhetik in China, Berlin, Merve-Verlag 1999.
2 In der entsprechenden Fußnote überrascht Martina Kessel mit der kommentarlosen Angabe, dass der Ausdruck eine bei Alain Corbin gefundene Metapher für das Meer ist (Meereslust, Berlin 1990, S. 296).
3 Martin Doehlemann: Langeweile? Deutung eines verbreiteten Phänomens, Frankfurt a. M. 1991, S.112.
4 Kessel (65) zitiert die französische Schrift von André-Francois Boureau-Deslandes: "Über die Kunst, keine Langeweile zu haben" (1715) in der deutschen Übersetzung von 1772.
5 Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1987.
6 Kessel spricht auch nebenbei davon, dass "das moderne Zeitmaß verinnerlicht" (116) wurde.
7 Gemeinsam mit Christoph Conrad hat sie die Bände "Geschichte schreiben in der Postmoderne", 1994, und "Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung", 1998, beide im Reclam-Verlag Stuttgart herausgegeben.
8 vgl. Christoph Conrad und Martina Kessel: "Geschichte ohne Zentrum", in: dies. (Hg.): "Geschichte schreiben in der Postmoderne", Stuttgart 1994, S. 9 - 36.

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