Jarausch, Konrad (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht?. Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-36153-5 362 S. € 29,90

: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-30013-8 140 S. € 15,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Freytag, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die 1970er-Jahre sind mit dem Ablauf der archivalischen Sperrfrist vermehrt in das Blickfeld der geschichtswissenschaftlichen Forschung geraten. Trotz der linksterroristischen Bedrohung werden sie – durch die westeuropäisch-deutsche Brille betrachtet – insgesamt als vergleichsweise ruhige Zeit ohne Kriege oder Revolutionen eingestuft, in der sich indes ein ökonomischer und kultureller Wandel Bahn brach. Hinter diesem vielfach als Krise apostrophierten Umbruch verbarg sich eine strukturelle Umwälzung der Industriegesellschaften, die vor dem alltäglichen Leben vieler Menschen nicht Halt machte, es fundamental und unumkehrbar veränderte. Der Einschnitt ist eng mit dem Ende des sozioökonomischen Systems der Nachkriegszeit verknüpft: Zu denken ist dabei etwa an die Ölpreisschocks, das Ende des Bretton-Woods-Systems der festen Wechselkurse sowie an die sich anschließende Inflation und den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Zwei Neuerscheinungen nehmen sich dieses Jahrzehnts nun an und spüren den Kardinalfragen nach, ob und inwieweit die 1970er-Jahre als zunächst unterschätzte strukturelle Zäsur, als Vorgeschichte gegenwärtiger Problemlagen und damit als Auftakt einer Epoche einzustufen seien.

Zuerst zu dem schmalen Bändchen, das aus der Feder der beiden Zeithistoriker Anselm Doering-Manteuffel (Tübingen) und Lutz Raphael (Trier) stammt und auf einem Konzeptpapier für einen anvisierten Forschungsverbund fußt. Sie plädieren für eine systematisch angelegte Zeitgeschichte, die sich von der Fixierung auf Jubiläen und Archivfristen lösen soll. Um die zunehmende Komplexität und Widersprüchlichkeit des Untersuchungsgegenstandes zu erfassen, bedürfe es eines neuen konzeptionellen Zuschnitts dieses historischen Teilfachs, das die Verfasser im Anschluss an Hans Günter Hockerts als problemorientierte Vorgeschichte der Gegenwart verstanden wissen wollen. Diesen Rahmen spannen sie für jene Ära „nach dem Boom“ auf, die die Zeit von 1965/70 bis 1995/2000 umfasst. Diese Großepoche sei von einem „Strukturbruch“ und einem „sozialen Wandel von revolutionärer Qualität“ geprägt, wofür ein Bedeutungsrückgang tradierter Verhaltensweisen und etablierter institutioneller Ordnungen in verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren kennzeichnend sei (S. 11).

Ihre Überlegungen entfalten die Verfasser in drei Abschnitten, die auf folgenden vier Arbeitshypothesen aufbauen: Erstens hatte der Umbruch kein Gravitationszentrum, vielmehr ist er gekennzeichnet durch dynamische und teils widersprüchliche Wechselwirkungen zwischen den klassischen Basiskategorien Wirtschaft, Herrschaft, Gesellschaft und Kultur. Zweitens machte er nicht an nationalen Grenzen halt, weshalb sich der analytische Blick zwingend über den engeren nationalen Horizont hinaus richten muss. Drittens hat die zeithistorische Forschung sozialwissenschaftlich erhobene Daten und die damit verwobene Thesenbildung methodisch besonders sorgfältig zu prüfen und viertens wird von einem spannungsreichen Nebeneinander unterschiedlicher Umbruchgeschwindigkeiten in den westeuropäischen Gesellschaften ausgegangen.

Raphael und Doering-Manteuffel durchschreiten die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst unter politisch-ökonomischen Vorzeichen (S. 15-56). Dominante gesellschaftliche Basisprozesse der Zeit ab 1965/70 sind für sie Privatisierung, Individualisierung und Deregulierung. Daneben stehen anfangs widersprüchliche Kernelemente wie die sozialliberale Reformpolitik und ihre Oppositionen – sowohl die konservative als auch die so genannten Neuen Sozialen Bewegungen. In deren Endphase löste allmählich eine von den USA und Großbritannien ausgehende (Neo)-Liberalisierung und Internationalisierung der Finanzmärkte die noch keynesianisch ausgerichtete Konsenspolitik ab. Der Niedergang des fordistischen Produktionsregimes, die Krisen der traditionellen Industrien, etwa des Bergbaus und der Textilindustrie, sowie der gleichzeitige Ausbau des Dienstleistungssektors flankierten und verstärkten diese Prozesse. Als weitere zentrale Kennzeichen sind eine hohe Sockelarbeitslosigkeit sowie ein Anstieg des privaten Konsums gerade in der Zeit zunehmender wirtschaftlicher Instabilität auszumachen.

Mit der Konzentration auf die den Wandel begleitenden sozialwissenschaftlichen und -psychologischen Deutungen geraten dann die gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte des Umbruchs präzise in den Blick (S. 57-89). Hier spannen die beiden Zeithistoriker den Bogen von der Modernisierungstheorie über die postindustrielle Wertewandeldiskussion, die reflexive Modernisierung und die Diskussion um Postmodernität bis hin zur Theorie des Dritten Weges und zu der Debatte um Beschleunigung und Flexibilität. Stichwortgeber für eine konzeptionelle Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte sind etwa Ronald Inglehart, Ulrich Beck, Anthony Giddens, Manuel Castells oder Richard Sennett.

Im dritten Großkapitel „Zeithistorische Perspektiven“ (S. 91-120) durchmessen Raphael und Doering-Manteuffel dann etablierte ebenso wie neue Themenfelder des Teilfaches, die es erlauben, die sozialwissenschaftliche Diskussion auf den Prüfstand zu stellen und weiterführende Thesen für die Ära „nach dem Boom“ zu entwickeln. Eine Zeitgeschichte jenseits der klassischen politik- und parteigeschichtlichen Perspektive steht für sie dabei insbesondere vor der Aufgabe, die komplexen Wechselwirkungen und Ungleichzeitigkeiten des Umbruchs in segmentierten Gesellschaften zu analysieren. Dazu bieten sich ihnen Themen an wie der Aus- und Umbau der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten oder die Folgen und Begleiterscheinungen der westeuropäischen Arbeitsmigration. Hinzu sollten aber auch Forschungen zur Infrastruktur der Wissensgesellschaft, zu Geschlechterordnungen und Körperbildern oder auch zur (religiös inspirierten) Sinnsuche nach neuen Erwartungshorizonten treten. Auch wenn man einwenden mag, dass sich die Themenfelder erkennbar an bereits bestehenden Forschungs- und Arbeitsschwerpunkten der beiden Verfasser orientieren – wie sollte es bei einem anvisierten Forschungsverbund auch anders sein – und sich gegen die Formel des „Wandels von revolutionärer Qualität“ die in der Debatte um den Begriff der „industriellen Revolution“ vorgebrachten Vorbehalte vorbringen ließen, ist der Essay zweifelsfrei ein anregender Beitrag zum Standort jener „Geschichte, die noch qualmt“ (Barbara Tuchman).

Enger gefasst als der Essay „Nach dem Boom“ und auf die 1970er-Jahre zugeschnitten ist der von Konrad H. Jarausch herausgegebene Sammelband „Das Ende der Zuversicht?“. Hervorgegangen ist er aus einer im Sommer 2007 gemeinsam vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (Berlin) und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam) veranstalteten Tagung, die zugleich eine Abschiedsveranstaltung für die beiden Leiter dieser renommierten Institutionen, Jürgen Kocka und Konrad H. Jarausch, war. Nimmt man die Einleitung und den Ausblick aus, dann ist der Band in vier größere Abschnitte unterteilt. Deren jeweils vier Beiträge sollen hier nicht alle im Einzelnen detailliert vorgestellt werden, vielmehr soll sich das Augenmerk richten auf die Suche nach einem dieses widersprüchliche Jahrzehnt charakterisierenden Etikett, die sich wie ein roter Faden durch den Band zieht.

Gegenüber dem zunächst untersuchten Strukturwandel im wirtschaftlichen Bereich zeigt sich André Steiner bei seinem umsichtigen Ost-West-Vergleich überaus skeptisch. So sieht er die durchbrechende Dienstleistungsgesellschaft noch aufs Engste mit der Industriewirtschaft verwoben und regt ein Überdenken des in der wirtschaftshistorischen Forschung mittlerweile umstrittenen Drei-Sektoren-Modells an. Reinhold Bauer stuft die 1970er- Jahre dagegen für die Automobilindustrie in beiden deutschen Staaten angesichts von Ölpreiskrise und Kostensenkungsstrategien als „krisenhafte Übergangsphase“, „Vorbereitungsjahrzehnt“ und „bis heute fortwirkende Zäsur“ ein. Auch Wolfgang König misst dem Jahrzehnt den Status einer „Sattelzeit“ und „Wende“ bei, indem er die bundesrepublikanische Konsumgesellschaft hier an der Wegscheide zwischen Aufstieg und beginnender Erosion sieht.

Im zweiten größeren Bereich „Arbeit und Soziales“ sind unter dem Gesichtswinkel des Charakteristischen der Ära insbesondere die Beiträge von Winfried Süß und Marcel Boldorf hervorzuheben. Während Süß hinsichtlich der bundesrepublikanischen Sozialstaatlichkeit insgesamt die „gegenläufigen Tendenzen“ hervorhebt, den Begriff des Krisenjahrzehnts als unzureichend zurückweist und dagegen die Bezeichnung als „Epochenschwelle“ favorisiert, unterstreicht Boldorf in seinem Beitrag über Neue Soziale Frage und Neue Armut mit überzeugenden Argumenten, dass hier – im Unterschied zur DDR – die bundesrepublikanischen Wurzeln von Langzeitarbeitslosigkeit, hohen Sozialhilfeempfängerzahlen und des Übergangs von dauerhafter sozialer Grundsicherung zu individueller Vorsorge liegen.

Mit dem Abschnitt über widersprüchliche „Aufbrüche im Alltag“ geraten dann auch optimistischere Szenarien auf die Agenda, welche die 1970er-Jahre mit ihren Reformversuchen und vielfältigen alternativen Lebensentwürfen – nicht nur im Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen – eben auch prägten. Themen sind hier etwa Frauenerwerbsarbeit, Abtreibungsrecht und Familienpolitik in beiden deutschen Staaten (Monika Mattes und Michael Schwartz) oder der Siegeszug des Fernsehens zum Leitmedium einer global inszenierten Öffentlichkeit. Letzteres führt Annette Vowinckel in ihrer knappen Skizze über eine Mediengeschichte des Terrorismus vor, in der sich die Medien zunehmend als Akteure erwiesen.

Im Bereich der „politischen Problemverarbeitung“ tritt schließlich das Krisenszenario als Label am schärfsten hervor. Gabriele Metzler macht am Beispiel der Debatte um Unregierbarkeit eine Phase der Transformation aus, in der das Politische entstaatlicht, die Handlungskompetenz des Nationalstaates angezweifelt und der Glauben an seine Allmacht relativiert wurde. Peter Hübner nimmt sich des sozialpolitischen Krisenmanagements und der Kurskorrektur der sozialistischen Parteiführungen Polens und der DDR in den frühen 1970er-Jahren an, denen vor allem daran gelegen war, die Versorgung krisenfest zu machen, um die eigene Machtbasis zu sichern. Hartmut Soells biographisch angelegter Skizze zu Helmut Schmidts krisenpolitischem Reagieren zwischen 1972 und 1978/79 folgen Frank Böschs anregende Überlegungen zum Jahrzehnt des konservativen Aufbruchs, mit denen er der personellen und programmatischen Um- und Neuordnung der CDU nachspürt. Diese deutete die Krise vielfach als eine Chance, wieder die Regierungsverantwortung zu erlangen.

Der Band schließt mit den Ausblicken Anselm Doering-Manteuffels und des Herausgebers. In der Gesamtschau unterstreicht in besonderer Weise Jarausch nachdrücklich, dass die Siebziger ein Scharnierjahrzehnt waren, das viele aus dem „kurzen Traum immerwährender Prosperität“ erwachen ließ und in dem sich die uns heute noch beschäftigenden Probleme herauskristallisierten. Zugleich ist erkennbar, dass eine als Vorgeschichte der Gegenwartsprobleme verstandene Zeitgeschichte auch nahe am aktuellen politischen Tagesgeschäft anzusiedeln ist, denn für Jarausch steht auch immer die langfristige Zukunftsfähigkeit der deutschen Politik im Mittelpunkt seiner Überlegungen.

Völlig unabhängig davon, ob es sich um einen langen Weg nach Westen, eine geglückte Demokratie oder eine gesellschaftsgeschichtliche Perspektive handelt, die die DDR-Geschichte zur Fußnote degradiert – die anregenden Befunde beider Bücher differenzieren die in vielen Gesamtdarstellungen dominierende Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik. Über eine Etikettierung – nicht nur der Siebziger – darf zukünftig wieder intensiver gestritten werden, das ist kein gering zu veranschlagender Ertrag. Die Bände führen zudem vor Augen, wie attraktiv eine methodenoffene und multiperspektivische Zeitgeschichte ist, die sich als problemorientierte Vorgeschichte der Gegenwart versteht, ohne den Facettenreichtum des Vergangenen völlig zu vernachlässigen.

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