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Titel
"Politik". Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit


Herausgeber
Steinmetz, Willibald
Reihe
Historische Politikforschung 14
Erschienen
Frankfurt am Main u.a. 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
500 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgit Schwelling, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder

Politik ist zurück auf der Forschungsagenda, so ließe sich angesichts der in den letzten Jahren zu beobachtenden, verstärkten Zuwendung zu Fragen des Politischen formulieren. Genau genommen war Politik als Forschungsgegenstand selbstverständlich nie verschwunden, aber die seit den 1980er-Jahren zusehends in den Mittelpunkt rückenden kulturwissenschaftlichen Ansätze haben das Politische lange ignoriert oder aber deren Erforschung eher von dessen Rändern her betrieben. Insbesondere die Kulturgeschichte hat in den vergangenen Jahren jedoch dazu beigetragen, dass die so genannte „harte“ Politik verstärkt in den Fokus auch des kulturwissenschaftlichen Forschungsinteresses gerückt wird.1 Besonders die Einsicht, dass politisches Handeln stets symbolische und instrumentelle Dimensionen aufweist, und sich die Zweiteilung in sogenannte „harte“ und „weiche“ Bereiche der Politik daher wenig, jedenfalls nicht zur Klassifikation verschiedener Handlungen eignet, war dafür wegweisend.2

Der von Willibald Steinmetz herausgegebene Sammelband ist im Rahmen des an der Universität Bielefeld angesiedelten Sonderforschungsbereichs 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ entstanden und somit Teil eines der in den vergangenen Jahren produktivsten Zentren der kulturgeschichtlichen Thematisierung des Politischen. Die Beiträge knüpfen an die Programmatik des Sonderforschungsbereichs insofern an, als in ihnen eine allgemeine und überzeitliche Definition des Politischen abgelehnt und vielmehr nach den „Situationen“, den jeweils zeitlich und räumlich zu verortenden expliziten Verwendungsweisen des Politikvokabulars sowie nach Wandlungsformen der eher impliziten Bezugnahmen auf das Politische gefragt wird.

Damit ist zugleich ein zentraler Unterschied zu den Geschichtlichen Grundbegriffen3 benannt, auf deren Konsultation nach wie vor wohl keine begriffsgeschichtliche Untersuchung verzichten wollen wird. Berücksichtigung finden nämlich nicht nur klassische begriffsgeschichtliche Quellen wie Lexika, Enzyklopädien oder die sogenannte „Höhenkammliteratur“, sondern, wie Willibald Steinmetz es in seiner lesenswerten Einführung (Neue Wege einer Historischen Semantik des Politischen, S. 9-40) formuliert, auch „Schriften und Äußerungen, die in vordergründig politikfernen Handlungskontexten entstanden sind oder jedenfalls nicht explizit zum Ziel hatten, zu definieren, was ‚Politik’ sei.“ (S. 16). Damit verbunden ist die These, „dass der Kommunikationsraum des Politischen zu keiner Zeit in dem aufging, was in den jeweiligen historischen Situationen als ‚politisch’ oder zur ‚Politik’ gehörig bezeichnet wurde.“ (S. 15)

Dieser Spur folgen vor allem die Beiträge des dritten Teils des Sammelbandes. Die herangezogenen Quellen reichen von Korrespondenzen und statistischen Erhebungen aus dem Fürstentum Lippe des späten 18. Jahrhunderts (Lars Behrisch, Von der ‚Policey’ zur ‚Politik’: Die Semantik des Politischen in der Grafschaft Lippe in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 291-313), zwischen 1848 und den 1950er-Jahren erschienenen medizinischen Fachpublikationen (Tobias Weidner, „Gesundheitspolitik – möglichst unpolitisch“: Die ‚Politik’ der Mediziner von 1848 bis zur Bundesrepublik, S. 362-394), über autobiographische Texte deutsch-jüdischer Exilanten aus der Zeit des Nationalsozialismus (Christian Meyer, „… nichts war mehr Privatangelegenheit“: Zur Semantik von Politisierungsprozessen in autobiographischen Berichten aus der Zeit des Nationalsozialismus, S. 395-416) bis hin zu Texten, mit denen Hans-Magnus Enzensberger zwischen 1957 und 1976 das politische Geschehen kritisch begleitete und kommentierte (Henning Marmulla, Poesie, Politik und das Politische in der literarischen Sprache der 1960er Jahre: Das Beispiel Hans Magnus Enzensberger, S. 479-497).

Die Beiträge des zweiten Teils hingegen sind, was die Quellenauswahl betrifft, näher an der traditionellen Begriffsgeschichte. Der Schwerpunkt liegt hier auf Langzeitüberblicken, in denen die Verwendung des Politikvokabulars in Frankreich, Deutschland, England, Russland und Italien von der Frühen Neuzeit bis zur Zeitgeschichte zum Teil vergleichend, zum Teil transfergeschichtlich in den Blick genommen wird. Letztgenannter Aspekt spielt insbesondere in den drei Beiträgen zu Russland eine zentrale Rolle (Mikhail Kroms Beitrag zum 16. und 17. Jahrhundert, S. 206-225; Ingrid Schierles Aufsatz zum 18. Jahrhundert, S. 226-247, und Walter Sperlings Beitrag zum ausgehenden Zarenreich 1950-1917, S. 248–288), das in semantischen Untersuchungen bisher wenig thematisiert wurde und dessen Aufnahme in den Sammelband daher sehr zu begrüßen ist.

Neben der Einleitung von Willibald Steinmetz findet sich im ersten Teil des Sammelbandes ein Beitrag von Bettina Brandt (‚Politik’ im Bild? Überlegungen zum Verhältnis von Begriff und Bild, S. 41-71), der als Plädoyer für eine Erweiterung semantischer Untersuchungen um Dimensionen der Visualisierung des Politischen gelesen werden kann. Dadurch, dass die Beiträge des zweiten und dritten Teils kaum auf die Hinweise von Bettina Brandt zurückgreifen, wirkt der interessante Anregungen enthaltende Aufsatz jedoch etwas deplatziert. Vermutlich wäre er in einem Sammelband zu visueller Politik sehr viel besser aufgehoben gewesen.

Nichtsdestotrotz handelt es sich um einen gelungenen und lesenswerten Band, der die Literatur zur Kulturgeschichte des Politischen bereichert, auch wenn er sicherlich keine „umfassende Begriffsgeschichte des Politischen“ zu liefern vermag, wie im Klappentext behauptet. Wer einen schnellen Zugriff auf die Ergebnisse des Bandes sucht, dem seien die Seiten 26 bis 40 der Einleitung von Willibald Steinmetz empfohlen, der dort die Erträge des Bandes zusammenfassend diskutiert und in die Forschungslandschaft einordnet – eine in Sammelbänden inzwischen leider selten gewordene Tugend.

Anmerkungen:
1 Programmatisch unter anderem: Ute Frevert, Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in: Dies. / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt am Main, New York 2005, S. 7- 26; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-606; Achim Landwehr, Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 71-117. Dazu kritisch: Thomas Nicklas, Macht – Diskurs – Politik. Möglichkeiten und Grenzen einer Politischen Kulturgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 86 (2004), S. 1-25.
2 Vgl. insbesondere Barbara Stollberg-Rilinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin 2005, S. 9-24 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 35).
3 Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bände, Stuttgart 1972–1997.