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Titel
Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik


Autor(en)
Nippel, Wilfried
Erschienen
München 2008: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
445 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Eibach, Historisches Institut, Universität Bern

Kaum ein Jahrhundert hing einem solchen Glauben an das Individuum an wie das bürgerliche 19. Jahrhundert: Mittels Verstehen konnte das Subjekt die Zeitläufte begreifen und mittels Bildung sollte es sich aus untertänigen Verhältnissen emanzipieren. Anknüpfend an Vorbilder aus der Aufklärung kannte diese Epoche den bürgerlichen Gelehrten, der mit überlegenem Gestus nicht nur die Grundlagen seiner Wissenschaft reflektierte oder gar erst erfand, sondern wegen seines hohen Status auch in politischen Dingen Meinungsführerschaft beanspruchen durfte. Von einem derart souveränen Selbst- und Weltentwurf ist man heute weit entfernt, auch wenn gerade Historiker in Feuilletons oder Late-night-shows immer wieder einmal Gehör finden. Wenn im Zuge der nachlassenden Attraktivität rein sozialstruktureller Erklärungsmuster Gelehrtenbiographien neuerdings viel Interesse hervorrufen, so schwingt sicher eine Portion Faszination mit für die Vordenker und Klassiker. Zuletzt sind für das lange 19. Jahrhundert in Deutschland einige wichtige Werke in diesem Genre vorgelegt worden: zu Werner Sombart, Max Weber, Theodor Mommsen oder auch zu einer Figur wie Paul de Lagarde 1. Indes zeigen all diese Biographien das gelehrte Subjekt eben nicht als autonomen Beherrscher seiner Welt – sei es im bürgerlichem Salon, am universitären Katheder oder auf politischem Parkett – sondern vielmehr verstrickt in Unzulänglichkeiten des Alltags, Neurosen, zeitgeistige Politikströmungen, nicht zuletzt Scheitern, kurzum: Irrungen und Wirrungen.

Wilfried Nippels hoch gelobte Droysen-Biographie ist relativ konventionell gegliedert. Die Kapitel folgen chronologisch den Lebensabschnitten des Historikers: von der nur kurz skizzierten Kindheit und Jugend des Sohns eines preußischen Garnisonspfarrers und den Anfängen der wissenschaftlichen Karriere als außerordentlicher Professor für Klassische Philologie und Alte Geschichte, während der Johann Gustav Droysen sogleich in die Grabenkämpfe zwischen Sachphilologen und Wortphilologen gerät (Kap. I), über seine ausführlich dargestellte Tätigkeit als Abgeordneter Schleswig-Holsteins und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49, in der er mit harten Bandagen vor allem hinter den Kulissen für die Hegemonie Preußens in einem zukünftigen kleindeutschen Nationalstaat kämpft (Kap. II-IV); sodann Droysens Tätigkeit als Professor in Kiel und ab 1851 in Jena, wo er sich – nach Rückzug aus der Tagespolitik – seinem Großprojekt einer ‚Geschichte der Preußischen Politik’ sowie seiner bis heute als Grundlagenwerk der Methodologie geltenden ‚Historik’ widmet (Kap. V-VI); schließlich die letzte Lebensphase in Berlin zwischen 1859 und dem Tod 1884 mit einem Droysen, der Bismarck verehrt, an Verfassungsfragen desinteressiert ist und seine ins Monumentale wachsende Geschichte Preußens nicht zu Ende bringt (Kap. VII). Als Droysens öffentliches wie sein privates Streben schließlich Erfüllung erfährt – Deutschland wird als Preußen-Deutschland Nationalstaat, er selbst Professor in der renommierten Hauptstadtuniversität – ist sein auf Außenpolitik fokussiertes Werk methodisch überholt. Droysens jahrzehntelange normative Leitidee vom ‚deutschen Beruf Preußens’ ist von der Gegenwart eingeholt und dadurch quasi überholt worden. Deswegen interessiert dieser Droysen die Zeitgenossen, besonders die Fachwissenschaft, nicht mehr sonderlich. Nippel konstatiert die „postmortale Abstrafung eines ‚Star-Historikers’“ (S. 305).

Wann und warum wird aus einem ‚Liberalen’ ein machtstaatsbegeisterter Apologet Großpreußens, der 1867 in einem Brief an Heinrich von Treitschke bekennt: „Ich bin wahrlich von Herzen liberal, aber diese deutsche Freiheitsgeilheit bei schimpflichster politischer Ohnmacht ekelt mich an“ (S. 283)? Die Antwortet lautet: Droysen ist nie wirklich liberal, aber immer in einer spezifischen Weise preußisch gewesen. Während der Kindheit zur Zeit der Napoleonischen Kriege kommt er bereits über seinen Vater, den Militärpfarrer, in Kontakt mit den preußischen Helden, aber nicht mit der Linie der Brüder Humboldt oder Hardenberg, sondern mit einem Blücher und einem Scharnhorst. In seiner Studienzeit verkehrt er immerhin im assimilierten jüdischen Großbürgertum und sollte später während des Berliner Antisemitismusstreits gegen die Diskriminierung des deutschen Judentums und damit gegen Treitschke Partei ergreifen. Aber Droysens politische Ideen während des Vormärz sind diffus. Sie stehen quer zur politischen Theoriebildung der Zeit. Er rechtfertigt die ‚terreur’ der Jakobiner und findet Gefallen an Napoleon, kritisiert die englische Verfassung, lobt aber diejenige der USA, hält Gewaltenteilung zur Abstützung von Bürgerrechten für unnötig, fordert aber ein Wahlrecht ohne Zensus. Im Zweifelsfall optiert Droysen immer für das Preußische in seiner Lesart, das heißt den monarchischen Machtstaat und damit gegen Volkssouveränität. Diesem Credo folgt er dann auch 1848/49 als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. Die preußische Mission in Deutschland will er als Historiker herbeischreiben.

Um die Demaskierung der Droysenschen ‚Geschichtspolitik’, die Folgen der Vermischung von Wissenschaft und Politik, geht es Wilfried Nippel. Mehrmals fällt der Begriff der „Legende“ (S. 310), „Legenden“ (S. 11), „Droysen-Legende“ (S. 227) oder auch „Nimbus“ (S. 228). Nippel zeigt gekonnt die Widersprüche, Fragwürdigkeiten und Defizite in der Praxis des Historikers Droysen auf, die sich immer dann einstellen, wenn diesem der Politiker Droysen, der er auch nach seinem Abschied aus dem aktuellen Politikgeschäft vom Katheder herab blieb, in die Quere kam. Nippel arbeitet detailgenau, nah an den gedruckten Quellen und mit vielen Zitaten, nimmt aber immer wieder den roten Faden seiner Darstellung auf und kommt zu interessanten Thesen. Episoden und Petitessen aus Droysens Briefen und Tagebüchern garnieren den argumentativen Stil, werden aber eher selten um ihrer selbst willen berichtet. Bemerkenswert ist, dass Autor (Nippel) wie Held (Droysen) die hohe Kunst der spitzen Feder geradezu kongenial beherrschen. Zur Veranschaulichung des Werdegangs Droysens wird bemerkt, dass dieser in seiner Kieler Zeit „noch nicht Friedrich den Großen zum Nationalheiligen promoviert hatte“ (S. 43). Zur ‚Historik’: „Es sei dahingestellt, ob Droysen zwischen [dem Unparteilichkeit und Objektivität beanspruchenden] Thukydides und Droysen eigentlich weitere ‚ordentliche Historiker’ (aner)kennt.“ (S. 222)

So überzeugend die Argumentation Nippels insgesamt ist, seine Sicht auf Droysens ‚Historik’ kann man diskutabel nennen. Trifft es den Kern, hier auf Droysens Publikationsstrategie abzuheben, seine „Aversion gegen Ranke“ (S. 229) und seine politische Parteilichkeit zu kritisieren? Zwar wird man heute Droysens geschichtstheoretisches Werk nicht in gleicher Weise wie etwa Max Webers, ein bis zwei Generationen später formulierte, Grundlagentexte zu Rate ziehen. Aus der Sicht der Zeit ist aber festzustellen, dass die Formulierung einer Verstehenslehre für die Geschichtswissenschaft und der bis heute gültige Hinweis auf die Relevanz der standortgebundenen Fragestellung – die viel zitierte „relative Wahrheit“ (S. 230) – innovatives Potenzial bargen. Dass Droysens theoretisch reflektierte Einsicht in die Standortgebundenheit des Historikers seinem Vorgehen auch in der praktischen Forschungsarbeit entspricht, kann man ihm eigentlich nicht vorwerfen. Ein expliziter Standort der Betrachtung ist jedenfalls alles Andere als singulär. Nur hat sich Droysens Standort im Nachhinein als politisch problematisch erwiesen und im Angesicht der Quellen aus der preußisch-deutschen Geschichte der Neuzeit kann man schließen: Droysen hat nicht die richtige Frage gestellt und musste deshalb mit seiner These vom ‚deutschen Beruf’ Preußens auch zu einem falschen Ergebnis kommen.

„Was bleibt von Droysen?“ (S. 307) Unter dem von Nippel explizit gewählten und erläuterten Fokus auf die Geschichtspolitik „‚nicht viel’“ (ebd.). Was bleibt von Nippels Droysen-Biographie? Zugespitzt formuliert, eine Art Vatermord an dem ‚Gründervater der Geschichtstheorie’, aber intensiv recherchiert, wohlbegründet, perfekt ausgeführt. Unterm Strich: ein gutes Stück Wissenschaftsgeschichte, das zur Diskussion anregt und weiterbringt.

Anmerkung:
1 Friedrich Lenger, Werner Sombart: 1863-1941. Eine Biographie, 2. Aufl., München 1995; Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, Darmstadt 2005; Stefan Rebenich, Theodor Mommsen. Eine Biographie, München 2007; Ulrich Sieg, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007.