Geschlechtergeschichte

Von
Miriam Gebhardt, Universität Konstanz

Besprochene Sektionen:

"Geschlecht als Medium von Geschichtserzählung"
"Bilder vom Körper: Visualisierungspraktiken in medizinischen und populären Publikationen des 19. und 20. Jahrhunderts"
"Supermänner, Superfrauen, Supermächte. Sport als Medium des Kalten Krieges"
"Der Zeitzeuge. Annäherung an ein geschichtskulturelles Gegenwartsphänomen"
"Identität und Alterität: Deutsche in Schweizer Bildern und Darstellungen"
"Die deutsche Massenkonsumgesellschaft 1950-2000 – eine wirtschaftshistorische Sehkorrektur"

Wer wissen will, wo die deutschsprachige Geschlechtergeschichte momentan steht, den mag zunächst eine nackte Zahl beeindrucken: Von 50 Sektionen des 46. Historikertags in Konstanz war sage und schreibe eine als geschlechtergeschichtlich ausgewiesen. Damit lag das Geschlecht weit abgeschlagen hinter Wirtschaft, Körper oder Religion und beanspruchte so viel Raum wie die Sportgeschichte. Auch der genauere Blick in die einzelnen Themenschwerpunkte machte mutlos: Da waren gerade mal fünf Einzelvorträge von insgesamt gut und gerne zweihundert; von einem integrierten Ansatz, der die Kategorie Geschlecht nie aus dem Auge verliert, waren die Programmplaner des Historikertags sowie die Konzepte der erfolgreich einreichenden Sektionsleitungen also auch diesmal weit entfernt. Am Thema der Tagung kann es nicht gelegen haben, schließlich stehen der historischen Genderforschung „kulturalistische“ Fragestellungen wie die nach „Geschichtsbildern“ traditionell nahe. Aber halt: Die Zeiten, in denen man sich der Geschlechterthematik mit spröden Zahlen näherte, sind doch wohl vorbei. Bevor wir also anfangen, die Frauenquote bei den Festvorträgen (null Prozent) voreilig in dieses Bild zu integrieren, wenden wir uns schnell den Inhalten zu. Wo also steht die deutschsprachige Geschlechtergeschichte heute?

Geschlechtergeschichte ist nicht gleichbedeutend mit Frauengeschichte, sondern eröffnet eine Perspektive auf die „Relationalität“ der (mindestens) zwei Geschlechter, ihrer Zuschreibungen, Konstruktionen und Handlungsspielräume in der Vergangenheit und in den retrospektiven Bildern. Die darin enthaltene Ermutigung der Historikerzunft, sich auf diesem Weg auch eine eigene „Männergeschichte“ zu sichern, ist offenbar nach wie vor nicht attraktiv. Keine Sektion war mit einem solchen Ziel angetreten. Wohingegen die klassische „Frauengeschichte“, nicht von allen geliebt, weil sie als kompensatorisch (es gab auch wichtige Frauen) oder kontributorisch (der weibliche Beitrag zu...) verstanden werden kann, wieder (oder immer noch) auf der Bildfläche erscheint. Ausgerechnet die einzige Sektion zur Geschlechtergeschichte beschritt in zwei Vorträgen dieses dünne Eis.

Theoretischer Ehrgeiz war für die, in einem kleinen, aber gut gefüllten Raum präsentierenden Wissenschaftlerinnen, Programm. Anders als viele andere Sektionen bemühten sie sich, ihr Konzept und nicht nur den Titel der Sektion mit dem Thema des Historikertags abzustimmen. Ziel sei es, die Verbindung zwischen historischer Narration und der Konstruktion von Geschlechterbildern herauszuarbeiten. Dazu bot Ulrike Gleixner (Berlin) drei plausible Thesen an; erstens: die aus dem bürgerlichen Zeitalter stammenden Geschlechterbilder würden auf die Geschichte projiziert, damit werde Geschichte zum „gender project“; zweitens: populäre Bilder und Erzähltraditionen wie zum Beispiel Mythen seien oftmals im Stande, die wissenschaftlichen Geschlechterordnungen, die über die Vergangenheit gestülpt würden, zu stören; und drittens: das an die bürgerliche Zeit gekoppelte Verhältnis von Geschichte und Geschlecht überdecke Zeichen des historischen Wandels.

Bea Lundts (Flensburg) Vortrag zu „Feengeschichten – Die Geschichte der Fee? Vom Gendering des ‚Wunderbaren’ in mittelalterlichen Exempeltraditionen (12./13. und 15. Jahrhundert)“ löste die geweckten Erwartungen ein. Vom Ansatz des „narrating gender“ her argumentierend, präsentierte sie ein über das „Eva“- und „Maria“-Bild hinausgehendes narratives Weiblichkeitsmodell. Die Fee aus der Feder englischer Kirchenmänner beweise, dass das Imaginäre im Mittelalter nicht nur männlich gewesen sei, wie Georges Duby behauptet hat. Ihre Abwertung als Ausgeburt heidnischen Aberglaubens und als Unglücksbringerin gehöre in einen späteren historischen Kontext. Ihrer frühen Erzähllogik nach war die Fee etwa eine Hofärztin des Königs, ging einer professionellen Tätigkeit nach, herrschte über ein eigenes Reich mit „heiteren Gesetzen“ und begründete ihre Existenz nicht auf Ehe und Elternschaft sondern auf Intellekt und individuellen Freiraum. Ihre Fähigkeit, Männer in Esel und Frauen in Schlangen zu verwandeln, war für Lundt nichts besonderes, etwa vergleichbar mit der Gabe der Männer, sich mit dem Mondzyklus in Wölfe zu verwandeln. Insofern repräsentierten Feen und Werwölfe gleichermaßen „Gegenwelten des Unvernünftigen“.

Auch an der Autorin Marie de France (1160-1215), die eine Renaissance erlebt, nachdem sie von den männlichen „Zitierkartellen“ lange Zeit aussortiert worden sei, konnte Bea Lundt verdeutlichen, wie humorlos die auf ihre polaren Geschlechterbilder fixierte Rezeption auf mittelalterliche Weiblichkeitsentwürfe reagierte, sobald diese sexuelle Erfüllung und soziale und räumliche Mobilität (fliegen können!) suggerierten. So etwas passte nicht ins Grimm’sche Kinderzimmer. Der Ertrag dieses Vortrags ging über die Erleichterung hinaus, die Beweise weiblicher Freiheit in der Geschichte mit sich bringen mögen. Bea Lundts Vortrag stach grundsätzliche Fragebündel an wie die nach dem Stellenwert christlicher Moral zu Zeiten, als das Wunderbare doch nicht automatisch heidnisch war; Fragen nach der Exklusivität der männlich strukturierten Ständehierarchie – Herrscher, Helden, Heilige – oder die Frage, inwieweit sich in literarischen Texten historische Praxis auffinden lässt. Dem Zweifler aus dem Saal, der einwendete, es könne sich bei ihren Textbeispielen auch um „Satire“ handeln, entgegnete Bea Lundt mit dem kulturwissenschaftlichen Credo, Gedankenwelten seien immer Teil der realen Welt.

Daneben wirkten die Beiträge von Marion Kobelt-Groch (Hamburg) und Ulrike Gleixner zu dieser Sektion vergleichsweise traditionell frauengeschichtlich. Kobelt-Groch trug unter dem Titel „Frauen tragen die Fahne voran. Vom weiblichen Umgang mit einem Symbol (16.-18. Jahrhundert)“ eine traurige Geschichte vor, wonach Frauen und Fahnen sich bis heute schlecht verstünden (außer bei der WM). An einer Leichenpredigt aus dem 17. Jahrhundert und an bildlichen und narrativen Darstellungen der „Dittmarschen Jungfrau“ Telse exemplifizierte sie die Ambivalenz, die männlichen Vorstellungen von weiblichen Fahnenträgerinnen innewohnte. Mal wurde sie als Mann in Frauenkleidern gesehen, mal als barbusiges Vollweib. Tenor des Vortrags: Den realen Frauen geschah Unrecht in den männlichen Diskursen. Ebenso argumentierte Gleixner in ihrem Vortrag „Geschlecht als Basis für Geschichtsbilder: Wie Fontanes Effi Briest zur historischen Quelle avanciert (Ende 19. und 20. Jahrhundert)“. Sie entlarvte den literarischen Diskurs um Effi als weit entfernt von ihrem historischen Vorbild, der adeligen Elisabeth von Ardenne. Die „wirkliche“ Effi war weder erheblich jünger als ihr Mann, noch zahlte sie für ihre Affäre mit dem sozialen oder gar dem physischen Tod. Die Adelige war berufstätig und lebte als pietistische Krankenschwester und Nazisympathisantin fröhlich bis an ihr Ende im Jahr 1952 am Bodensee.

Aus dem Realitätsabgleich mit dem, was Literaturwissenschaftler und Sozialhistoriker mit der Geschichte von Fontane anstellten, bastelte Ulrike Gleixner eine spannend erzählte Enthüllungsgeschichte. Die Überzeugungskraft der Geschlechterstereotypie – erotische Kindfrau und „Tochter der Luft“ – war einfach zu groß, als dass man sich noch dafür interessiert hätte, ob die Fontane’sche Fiktion auf der Höhe der Zeit war. Das war sie nicht, die Lebensbedingungen adeliger Frauen sahen anders aus, aber, so what? Die polaren Geschlechterbilder wirkten eben, weil sie Vorstellungen und Präferenzen der zeitgenössischen und späteren Rezipienten entgegen kamen. Wenn der Roman bis heute gelegentlich als sozialhistorische Quelle für die Geschlechterbilder des bürgerlichen Zeitalters gelesen wird, so ist das, wie Lehrerinnen aus dem Publikum einwarfen, auch nicht so verwerflich, denn Effi Briest entsprach zumindest den Vorstellungen des wilhelminischen Bürgers Fontane und seiner bürgerlichen Leserschaft, wenn auch nicht denen des Adels. Beklagt wurde auch, dass ganze Schülerinnengenerationen, vor allem in den 1950er Jahren, mit „Effi Briest“ sozialisiert worden seien. Aber haben die Schüler/innen damals wirklich die Kritik des Romans überlesen? Und war das Los eines Baron Instetten, das er mit seiner Männerrolle gezogen hatte, so viel besser?

Die Sektion „Geschlecht als Medium der Geschichtserzählung“ wurde dem selbst erklärten Anspruch, Geschlecht und Geschichte in ihrer Verwobenheit zu behandeln, nicht in allen Teilen gerecht. Das heißt aber nicht, dass die Geschlechtergeschichte auf dem Historikertag damit schon am Ende war. Wer gründlich genug suchte, fand hie und da einen Trüffel, etwa in der Sektion „Bilder vom Körper: Visualisierungspraktiken in medizinischen und populären Publikationen des 19. und 20. Jahrhunderts“. Susanne Holschbach (Leipzig) dekonstruierte „Visualisierungsparadigmen in Charcots ‚photographischer Klinik’“. Den weithin bekannten Abbildungen von Hysterikerinnen, die an der Salpêtrière in Paris öffentlich in Hypnose versetzt und bei ihren „Anfällen“ fotografisch inszeniert wurden – bei den damaligen technischen Möglichkeiten ein aufwändiger und gewiss nicht spontaner Akt – diesen Bildern stellte Susanne Holschbach Abbildungen männlicher Hysteriker gegenüber, die nicht ganz so bekannt sind. Dabei wurde sichtbar, wie stark die zeitgenössischen Geschlechterbilder in der Körpersprache der Patienten ausgedrückt und abgebildet wurden. Die Hysterikerinnen präsentierten sich den Betrachtern/innen als Heilige, mit gesenktem Kopf und frommen Augenaufschlag oder in gekrümmter und lasziver Haltung, während die zum Teil nackten Männerkörper aufrecht, stark, athletisch gestreckt erscheinen, auch wenn sie von einer angeblich weiblichen Neurose befallen waren.

Was ist aus diesen visuellen Geschlechterzuschreibungen im 20. Jahrhundert geworden? In seinem spannenden Beitrag „Junge oder Mädchen – Frau oder Mann? Die Herstellung visueller Selbstverständlichkeiten in der Sexualaufklärung im 20. Jahrhundert“ ging es Lutz Sauerteig (Durham) um Darstellungen populärer Aufklärungsliteratur und Ratgeberzeitschriften wie „Eltern“, die an der Produktion von Wissen um die Differenz und Bipolarität der Geschlechterzugehörigkeit beteiligt waren. Während ältere Darstellungen aus dem frühen 20. Jahrhundert die Frau als Mutter darstellten, also eine zugleich soziale Definition in den Mittelpunkt rückten, machte die Sexualaufklärung der 1970er Jahre den kleinen Unterschied direkt an den Genitalien fest. Im Bilderrätsel zeigte „Eltern“ beispielsweise drei nackte Kleinkinder von vorne, von denen eines kein Geschlechtsmerkmal aufwies und fragte die kindliche Leserschaft: „Was ist hier falsch?“ Das bedeutet allerdings nicht, dass die Geschlechterzuweisungen nun bei solchen objektivierbaren und fasslichen Kriterien stehen geblieben wären. Den Mädchen wurde in den 1970er Jahren ein Penisneid nahe gelegt, und dass sie sich damit abzufinden hätten, wenn am Jungen „mehr dran“ sei, und er deshalb auch „mehr tun“ könne.

Ob die vermeintlich zweifelsfreie fotografische Darstellung der Geschlechtsmerkmale – die in den 1970er Jahren ihren Höhepunkt hatte und später wohl aus Angst vor Pädophilieverdacht von Illustrationen verdrängt wurde – zusammenhing mit kulturellen Auseinandersetzungen um sich relativierende Geschlechterrollen? Oder wirkte die moderne biologistische Deutung nicht doch stärker normierend?

Auf die letzte Möglichkeit wies ein Vortrag in der sportgeschichtlichen Sektion „Supermänner, Superfrauen, Supermächte. Sport als Medium des Kalten Krieges“ hin. Wieder ein gelungenes Beispiel für einen geschlechtergeschichtlichen Ansatz, der Geschlecht nicht nur als geschichtlich, sondern auch als geschichtsmächtig herausarbeitet. Von der Hypothese ausgehend, dass auf der Arena des Sports stellvertretende Systemkämpfe ausgetragen wurden, befasste sich Stefan Wiederkehr (Warschau) mit der Frage: „Was ist, ‚olympisch gesehen eine Frau’? Spitzensportlerinnen, Sportpresse und Photographie im Kalten Krieg.“ Die Frage war und ist durchaus ernst, denn bis heute überprüfen Wettkampforganisationen in Zweifelsfällen das Geschlecht von Spitzenathletinnen (selbstredend nicht von augenscheinlich männlichen Kollegen). Es geht um die eindeutige biologische Einordnung auf der Ebene von Hormonen und Chromosomen, wenn der von Vorannahmen getrübte Blick des Preisgerichts und der Medien nicht das gewohnte und erwünschte Bild ergibt. Wie „gendered“ dieser Blick ist, illustrierte Wiederkehr an Beispielen der Schweizer und der deutschen Presse. Männliche Athleten werden grundsätzlich in Aktion gezeigt, weibliche Athleten gerne in anderen Posen, sprich, als Mutter, Ehefrau oder Sexbombe. Typische Bildunterschriften unter aufreizenden Fotos: „schön aber chancenlos“ (FAZ), oder auch „Ashford: schnell und sexy“ (Blick).

Der Ost-West-Konflikt machte den Blick auf sportliche Frauenkörper noch doppeldeutiger. Denn jamaikanische oder bundesdeutsche Sportlerinnen schienen schon rein optisch die Rennen zu gewinnen. Frauen aus der kommunistischen Welt wurden mit unvorteilhaften Nahporträts abgebildet, wenn überhaupt. Die DDR-Gewinnerin Marlies Göhr fand im Jahr 1983 medial aufbereitet als verzerrtes, verhärmtes Konterfei statt. Die Tschechin Kratochvilova verdankte Weltrekord und Goldmedaille nur ihren Muskeln, wurde deshalb als „bärenstark“ tituliert, und die „Welt“ fragte sich, ob das überhaupt eine Frau sei. Fazit: Trotz scheinbar zweifelsfreier Beweise für eindeutige Fraulichkeit wurde das Aussehen sozialistischer Sportlerinnen weiterhin als Argument im Systemvergleich genutzt, um die eigene Unterlegenheit als Ergebnis unfairer Methoden des Kommunismus zu verbrämen: Die lassen sogar Männer antreten im Wettbewerb gegen unsere Frauen.

Geschlechterbilder als Geschichtsbilder – diese Strategie, wen wird das noch wundern, kam auch der Nachkriegsgesellschaft im Umgang mit dem Nationalsozialismus zupass. „Zeitzeugen/innen“ in Fernsehdokumentationen hatten im Lauf der letzten vier bis fünf Jahrzehnte unterschiedliche Rollen auszufüllen. Sie mutierten in diesem Zeitraum von Menschen, die durch die „Objektivität“ ihrer Zeugnisse die Dokumentationen verifizieren sollten, zu Menschen, die den Sendungen und ihren Zuschauern/innen ihre Gefühle liehen. Das Geschlecht war in dieser Entwicklung kein unerheblicher Faktor, berichtete Judith Keilbach in ihrem Vortrag zu „Zeugenschaft, Glaubwürdigkeit und die Konstruktion weiblicher Täter“ in der eigenartigerweise mit „Der Zeitzeuge“ überschriebenen Sektion. In der ARD/ORF-Serie „Die Deutschen im Zweiten Weltkrieg“ (1985) tauchten Frauen als Briefeschreiberinnen auf, die ihre Gefühle und Ängste formulierten, Männer schilderten ihre Taten an der Front. Frauen gerieten bei ihren Erzählungen zuweilen ins Stocken, mussten sich sammeln, während die Männer „flüssig und nicht selten mit einiger Begeisterung über ihre Abenteuer im Krieg“ berichteten, so Keilbach. Diese Strategie der Zeugenauswahl und -präsentation unterstützte eine spezifische Sichtweise auf die deutsche Vergangenheit: Opfer waren vor allem deutsche Frauen. Heute, in den aktuelleren Geschichtsdokumentationen, wird Emotionalität ganz anders eingesetzt. Weinen dürfen auch Männer, sogar solche, die an Massenerschießungen teilgenommen haben. Alle Zeitzeugen/innen sind irgendwie Opfer der Geschichte, hat Judith Keilbach beobachtet. Wo bleibt nun die Rolle des Geschlechts? In dem Teil „Ghetto“ der „Holokaust“-Serie (2000) offenbaren sich ins Gegenteil gewendete Zuschreibungen: Den unterschiedslos leidenden Männern wurden Frauen zugesellt, deren Part mitleidslos und verlogen ist. Die Sekretärinnen von Nazischergen sollten nicht emotionale Erfahrungsberichte integrieren, sondern in den Interviews die „Tätergesellschaft“ repräsentieren. Judith Keilbach meint, damit würde nicht einem Aspekt der Frauen-Geschichte in der NS-Zeit Rechnung getragen – die Zeitzeuginnen sollten vielmehr die „Authentizität und Glaubwürdigkeit der Wehrmachtssoldaten als ‚Opfer der Geschichte’ wie ein Objektiv vergrößern“.

Diese These müsste womöglich weiter belegt werden. Sie wurde jedoch in einem anderen Zusammenhang auf dem Historikertag bereits bestätigt, weshalb sich die Besucherin manchmal wünschte, eine Fee möge die losen Fäden, die auf verschiedenen Sektionen gesponnen wurden, miteinander verknüpfen. In der Gastsektion der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte trug deren Vorsitzende Regina Wecker (Basel) zu „Identität und Alterität: Deutsche in Schweizer Bildern und Darstellungen“ vor. Ihre verblüffenden Funde betrafen Schweizer Medienberichte über Deutschland in den Jahren 1945-1950, in denen Geschlecht und nationale Identität eine brisante Mischung eingingen. Zwei Fälle interessierten die Wissenschaftlerin: Zum einen die Ausweisungspolitik von Frauen, die mit dem NS in Zusammenhang gebracht wurden. Einschlägig aktive deutsche Männer wurden nach 1945 aus der Schweiz ausgewiesen, und mit ihnen ihre Ehefrauen, auch wenn diese politisch inaktiv geblieben waren. Das entsprach der alten Geschlechterpolitik, die in der Frau das Anhängsel des Mannes vermutete. Interessant ist jedoch Regina Weckers Entdeckung, dass die Schweizer Behörden Unterschiede machten. War die Frau vor ihrer Eheschließung mit dem deutschen Nazi Schweizerin gewesen, dann musste sie nicht gehen. Das widersprach aber der Gepflogenheit, der Frau, sobald sie einen Ausländer geheiratet hatte, ihre Schweizer Staatsbürgerschaft abzunehmen. Frauen wurden bis dato für die „nationale Gemeinschaft“ verloren gegeben, sobald sie einen Nicht-Schweizer ehelichten. Hatten sie aber einen Nazi geheiratet, zog diese Regel auf einmal keine Konsequenz nach sich. Regina Wecker: „Welches ‚höhere Gut’ konnte in diesem Moment den anderen Umgang mit ihnen provozieren?"

Es müsse erwogen werden, inwieweit ihr „Schweizer Wesen“ diese Frauen geschützt habe, so Wecker. Womöglich wurde hier die Geschlechterbrille aufgesetzt, um grundsätzlichere Probleme der Gesellschaft im Angesicht der eigenen partiellen Kollaboration mit dem NS-Regime zu verschleiern. Das Geschlecht als Reinigungsmittel.

Ihr zweites Fallbeispiel für den Blick auf Deutschland reflektiert wiederum das Schweizer Bild der Geschlechterordnung in der Nachkriegszeit. Der Prozess gegen die KZ-Aufseherinnen von Ravensbrück war für die Schweiz doppelt virulent, weil es sich bei den Angeklagten nicht nur um Frauen handelte, sondern weil darunter auch eine Schweizerin war. Zunächst fiel Regina Wecker auf, wie unterschiedlich den Medienberichten zufolge die Todesurteile aufgenommen wurden. Während die Männer stramm standen und sich ruhig abführen ließen, seien die verurteilten Frauen weinend zusammen gebrochen (und mit ihnen der einzige polnische Mann). Über die Schweizerin sei wiederum in dem besagten Artikel der „Basler Nationalzeitung“ nur als „Bernerin“ die Rede gewesen – ein möglicher Hinweis darauf, dass auch hier das „Schweizer Wesen“ rein gehalten werden sollte. Auch hätten die Medien das Thema Geschlecht und Verbrechen nicht angesprochen. Das spezifisch Weibliche sei erst wieder zur Sprache gebracht worden, als es um eine allmähliche Widerannäherung an die Deutschen ging. Max Frisch und andere Schweizer Beobachter hoben in ihren Berichten über das Nachkriegsdeutschland hervor, wie sehr insbesondere die Frauen unter den Kriegsfolgen litten. Und, so notierte Frisch in sein Tagebuch: „Sie sind heiler als die Männer, wirklicher, in ihrem Grunde minder verwirrt.“
Verwirrt ist indes die Forscherin, die heute vor diesen Geschlechterzuweisungen steht. „Das Bild der unpolitischen Frau, der leidenden Frau, der heilen Frau. Vielleicht ist dies doch kein Zufall, dass die Auseinandersetzung mit der Frau als Täterin, das diesem (Geschlechter-)Bild widerspricht, nicht explizit gemacht wird“, überlegte Regina Wecker. Wie auch immer, das Geschlecht eignete sich jeweils als Manövriermasse für den innenpolitischen Umgang mit den Verbrechen der Deutschen und mit der eigenen Vergangenheit.

Was ist also zu vermelden über den Stand der Geschlechtergeschichte auf dem 46. Deutschen Historikertag im Jahr 2006? Vor zwei Jahren, als es um die Themen „Kommunikation und Raum“ ging, musste die damalige H-Soz-u-Kult-Beiträgerin einen Bericht über die Abwesenheit der Geschlechtergeschichte schreiben. So gesehen, ist das Ergebnis diesmal um mehr als hundert Prozent besser. Aber mit der Quantifizierung ist das eben so eine Sache. Das lässt sich abschließend an einer Sektion demonstrieren, die es mit den Zahlen hielt. Unter der Rubrik „Die deutsche Massenkonsumgesellschaft 1950-2000 – eine wirtschaftshistorische Sehkorrektur“ beschäftigten sich sechs Männer mit der Frage, seit wann überhaupt von einer Massenkonsumgesellschaft gesprochen werden könne. Dafür stellten die Wirtschaftshistoriker minutiöse Rechnungen an, um die Haushaltsbudgets der Deutschen, die Veränderung der Verbraucherpreise, die Entwicklung des deutschen Einzelhandels und Prämissen der klassischen Nachfragetheorie zu überprüfen. Dabei kamen derart komplexe Grafiken heraus, dass sich Michael Wildt (Hamburg) an Cy Twombly erinnert fühlte. Was aber noch interessanter war – Wildt, dem Kommentator dieser Sektion, fiel noch etwas anderes auf: Die Geschichte der Massenkonsumgesellschaft lasse sich wohl nicht ohne die Geschlechterperspektive schreiben. So konnte sich die Berichterstatterin zuletzt an einem schwachen Hoffnungsflämmchen wärmen: Einige wenige Vorträge mit geschlechtergeschichtlichem Anspruch, die aber waren überzeugend, und wo die Kategorie Geschlecht irgendwie vergessen worden war, wurde sie wenigstens vermisst.

Dr. Miriam Gebhardt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB "Norm und Symbol" an der Universität Konstanz, Habilitationsprojekt zu: Frühkindliche Sozialisation und familiale Weitergabe im 20. Jahrhundert. E-Mail: <miriam.gebhardt@t-online.de>

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