Das Historische Buch 2002
Thomas Angerer | Dr. Andreas FahrmeirJohann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt Kurzer Lebenslauf mit den wichtigsten akademischen StationenAufgewachsen in Oberursel/Ts., Schulabschluß 1988 an der Kaiserin Friedrich Schule, Bad Homburg Nach einem Semester Studium der Chemie ab Sommersemester 1989 Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Anglistik und Geschichte der Naturwissenschaften an der JW Goethe Universität, Frankfurt/Main. Visiting student (mit denselben Fächern) 1991/92 an der McGill University, Montréal; M. A. 1994 Promotion 1995-1997 in Geschichte am Sidney Sussex College, Cambridge (Citizens and Aliens: Foreigners and the Law in Britain and the German States, 1789-1870, publiziert New York/Oxford 2000) 1997 bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut London Dezember 2001 Habilitation an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt (Das Stadtbürgertum einer Finanzmetropole: Untersuchungen zur Corporation of the City of London und ihres Court of Aldermen, 1688-1900) 2002 Berater bei McKinsey & Company, Inc. Zur Zeit Heisenberg-Stipendiat am Historischen Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt Wichtige Veröffentlichungen: Mitgliedschaften und Auszeichnungen: Fragen zur historischen Forschungslandschaft und zu aktuellen Debatten2. a) Wie kamen Sie zur Geschichtswissenschaft? Was hat Sie motiviert, Geschichte zu Ihrem Beruf zu machen? Durch das Interesse an den Rätseln und Geschichten der Vergangenheit. Für das Geschichtsstudium waren die späten 80er Jahre m. E. eine besonders spannende Zeit. Der Kontrast zwischen dem Unterricht in der Schule, der älteren Literatur, die ich bis dahin gelesen hatte, und der quasi-naturwissenschaftlichen Methodik der Annales-Schule, der historischen Sozialwissenschaft, der "Cambridge School" und den Ergebnissen der "Großforschungsprojekte" zum 19. Jahrhundert war beeindruckend. Zumal in Frankfurt herrschte damals eine besondere Aufbruchstimmung. Es schien auf vielfache Art möglich, mit Mythen aufzuräumen und gängige Erklärungsmuster grundlegend zu revidieren. Das war auch der Grund, warum ich die ‚Wissenschaft' immer weiter anregend fand. Aber Berufe hat man - zumal in den Geisteswissenschaften - in der Regel nur noch auf Zeit. 2. b) Die Geschichtswissenschaften haben in den zurückliegenden Jahrzehnten zahlreiche Erweiterungen und Neuorientierungen der Frageansätze und Forschungsperspektiven erfahren. Welche halten Sie für die interessanteste und folgenreichste? Obwohl es langweilig, altmodisch und überholt klingt: Immer noch die historische Sozialwissenschaft, insofern sie auf eine methodisch reflektierte und rationale Überprüfung von historischen Thesen anhand einer ausreichenden Quellengrundlage zielte. Das Potential (wie auch die besondere Schwierigkeit) der Kulturgeschichte liegt eben darin, daß sie auf dieser Grundlage aufbauen kann (indem sie Lücken thematisiert), aber auch aufbauen muß. 2. c) Sehen Sie Forschungsfelder, denen man künftig mehr Aufmerksamkeit widmen sollte? Eher nicht, weil die historische Forschung – zum Glück – sehr breit aufgestellt und methodisch wie inhaltlich breit orientiert ist. Wichtig ist, diese Vielfalt zu erhalten, und zu verhindern, daß sie durch kurzfristig orientierte Anreize zur mehr „Drittmittelforschung“ in bestimmte Richtungen beschnitten wird. 2. d) Sollten sich Fachhistoriker mit historischen Argumenten in aktuellen politischen Debatten zu Wort melden, wie es jüngst wieder häufiger zu beobachten ist? Braucht unsere Gesellschaft mehr historische 'Politikberatung'? Teilnahme an der Debatte – auf jeden Fall. All publicity is good publicity – für das Fach wie für einzelne seiner Vertreter. Ob es gleich historische Politikberatung in einem formalisierten Sinn sein muß (die sicher „diskret“ ohnehin stattfindet) kann man sicher kontrovers diskutieren, aber zeitgemäße, fachlich versierte und zugleich an die Öffentlichkeit gerichtete und von dieser wahrgenommene Beiträge zu aktuellen Fragen wären in jedem Falle zu begrüßen. 2. e) Die Universitäten kämpfen mit überfüllten Hörsälen und leeren Kassen, ringen um neue, kürzere Formen des Studierens (BA, MA). Welche Folgen würden Ihrer Meinung nach Studiengebühren und die Möglichkeit der Auswahl der Studenten durch die Universität für Lehre und Forschung in den Geschichtswissenschaften haben? Es ist deutlich, daß die deutsche Universitätsreform im Moment bestrebt ist, den Anschluß an ein – zum Teil konstruiertes – „angelsächsisches“ System zu finden. Darauf deutet nicht allein die Nomenklatur der zukünftigen Abschlüsse hin, sondern auch die Diskussion um englischsprachige Vorlesungen und Studiengänge oder die neue Selbstbeschreibung einer wichtigen historischen Fakultät als „School of Historical Studies“.
3. Stellen Sie bitte Ihren persönlichen Favoriten unter den historischen Büchern des Jahres 2002 kurz vor und erläutern Sie Ihre Wahl. (15-20 Zeilen.) Nonn, Christoph: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich. Göttingen 2002. Das Buch beginnt wie ein guter Krimi – eine zerstückelte Leiche, eine lange Reihe von Verdächtigen, inkompetente Polizisten und Gerichtsmediziner vor Ort, die Spuren falsch interpretieren oder ganz vernichten, unzuverlässige Zeugen, politische Intrigen, öffentlicher Druck. Es erweist sich als eine der faszinierendsten mikrohistorischen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte. Der Schauplatz ist das ostpreußische Städtchen Konitz, wo im März 1900 ein Gymnasiast ermordet wurde. Die Suche nach dem Täter, der offenbar Metzger oder Chirurg bzw. Sanitäter war, blieb – bis heute – erfolglos. Manche Bewohner der Stadt und der umliegenden Dörfer vermuten einen jüdischen Ritualmord, es kam zu antisemitischen Ausschreitungen. Finsterstes Mittelalter im beginnenden 20. Jahrhundert also, vielleicht sogar ein Beweis für latenten mörderischen Antisemitismus, der nur durch die am Schluß doch einigermaßen rigoros durchgreifende preußische Staatsmacht in Zaum gehalten werden konnte, wie Helmut Walser Smith in „Die Geschichte des Schlachters“ (ebenfalls 2002) meint? Oder sind die Dinge doch komplizierter? Christoph Nonn stellt moderne Fragen – nach der Ausbreitung von Gerüchten, nach der Struktur von Erinnerung und der Strukturierung von Erzählungen durch die Zeugen – ohne jedoch die klassischen zu vernachlässigen: Wem nutzt eigentlich welche Aussage, welche Haltung, welches Motiv?
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