HT 2023: The (ab-)use of the medieval past: nationalistische und rechtsextreme Mittelalternutzung

HT 2023: The (ab-)use of the medieval past: nationalistische und rechtsextreme Mittelalternutzung

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Erik Wolf, Historisches Institut, Universität Greifswald

Die mediävistische Forschungslandschaft dürfte sehr froh darüber sein, dass das Mittelalter auch noch heutzutage eine enorme Relevanz besitzt. Besorgniserregend ist dagegen die andauernde und möglicherweise sogar zunehmende Bedeutung, die dem Mittelalter in nationalistischen und rechtsextremen Kreisen zukommt. Die hier zu besprechende Fachsektion sah deshalb die Mediävistik in der Verantwortung, derartige Tendenzen zu adressieren und so einer gesellschaftlichen Verantwortung nachzukommen.

CORDELIA HEß (Greifswald) skizzierte verschiedene Dimensionen der Problematik in unterschiedlichen Strömungen der extremen und nationalistischen Rechten: Sie verwies auf die Verwendung bestimmter mittelalterlicher Bezüge durch nationalistische Parteien wie Marine Le Pens Rede unter einer Statue von Jeanne d’Arc oder die Allgegenwärtigkeit von Symbolen aus „nordischen“ Kulturen auf den Produkten rechtsextremer Modelabels. Eine besondere Relevanz des Themas ergebe sich, so Heß, aus der immer wieder vorkommenden Bezugnahme extrem rechter Attentäter auf mittelalterliche Figuren und Ereignisse. So versah der Attentäter von Christchurch 2019 seine Waffe mit Verweisen auf die frühmittelalterliche Schlacht von Tours und Poitiers, die er offenbar als einen Fixpunkt islamophober Traditionen betrachtete; andere stilisierten sich selbst als „Tempelritter“ oder riefen während ihrer Taten „Hail Vinland“, mit Verweis auf die Bezeichnung der isländischen und grönländischen Siedler:innen für den von ihnen besuchten Abschnitt Nordamerikas In all diesen Dimensionen dient das Mittelalter als eine Periode, in der bereits ein als überzeitlich vorgestellter Gegensatz von Christentum und Islam hineinprojiziert wird, zudem als eine Periode europäischen Entdecker- und Heldentums. Zudem zeigte sie, wie erste Handlungsstrategien aussehen könnten: Als Reaktion auf eine rechtsextreme Demonstration in Charlottesville 2017 unter dem Motto „Unite the Right“, bei der neben anderen rassistischen und rechtsextremen Symbolen auch mittelalterliche Bezüge auffielen, hatte sich die Medieval Acadamy of America in der Verantwortung gesehen, zu reagieren: Die nordamerikanische Mediävistik übte Selbstkritik und identifizierte das durch ihre Forschung geprägte Mittelalterbild als Problem. Sie formulierte deshalb ein Forschungsprogramm, das über ein weißes Mittelalter des christlichen Westens hinausgehen müsse.1

Über die politische Bedeutung von Ethnogenesenarrativen sprach KARIN REICHENBACH (Leipzig) und verglich dabei drei Fallstudien: Der Germanenmythos in Deutschland, der Neo-Turanismus in Ungarn und die Idee des Großlechitenreiches „Wielka Lechia“ in Polen. Die Idee der Germanen als Ausgangspunkt der deutschen Geschichte sei heute noch weit verbreitet, ebenso wie Klischees über ihr Aussehen oder ihr Krieger- und Heldentum. Um rechtsradikale Erzählungen gegenüber diesen weitverbreiteten Vorstellungen identifizieren zu können, benannte Reichenbach zwei Narrative: Erstens die Konstruktion einer ethnisch-rassischen Identität und einer bis in die Gegenwart reichenden Kontinuität von Siedlungsraum und Abstammung. Zweitens die Formulierung von sozialdarwinistischen Gesellschaftsentwürfen, die in der germanischen Frühzeit verortet und so als natürlicher Urzustand dargestellt würden. Der Germanenmythos sei für die Verbreitung rechtsextremer Ideologien aufgrund seiner Nähe zum populären Germanenbild empfänglich, zumal es bei zeithistorischen Themen eher zu gesellschaftlichen Widerständen komme. Der in Ungarn sichtbare Neo-Turanismus lokalisiere die Herkunft der Ungarischen Bevölkerung in einem antiken mythischen Land in Zentralasien mit dem Namen Turan. Diese Idee stamme aus dem 19. Jahrhundert und erlebte trotz wissenschaftlicher Ablehnung eine Wiedergeburt und werde nun staatlich gefördert. Damit werde versucht, eine rassisch-ethnische Verbindung zu Zentralasiatischen Nationen zu konstruieren, die man unter Berücksichtigung der gegenwärtigen außenpolitischen Annäherung an diese Staaten lesen müsse. Bei dem in Polen propagierten Großlechitenreich handele es sich um eine wissenschaftlich verworfene Idee von einem in der polnischen Vorgeschichte verorteteten arisch-slawischen Großreich, die in den letzten 15 Jahren an Popularität gewonnen habe. Für nationalistische Ideologien sei sie primär wegen der Konstruktion einer ethnischen slawisch-polnischen Kontinuität attraktiv. Da damit antikatholische Verschwörungsnarration einhergehe – die katholische Kirche habe alle Quellen vor den Piasten, der ersten christlichen Königsdynastie in Polen – stoße sie in weiten Teilen der Bevölkerung eher auf Ablehnung. Verbreitung finde sie dennoch auf Plattformen, die auch andere Verschwörungserzählungen bieten. Reichenbach zeigte drei Fallstudien, in denen wissenschaftlich längst verworfene Theorien neuen Anklang gefunden hätten und die sich durch Anti-Modernismus auszeichneten. Dabei würden reaktionäre Gesellschaftsordnungen entworfen, die einem angeblich natürlichen Zustand entsprechen würden und deshalb wiederhergestellt werden müssten.

ALEXANDER WILL (Hamburg) zeigte anhand von zwei Fallstudien, in welchem Verhältnis Mittelalterprojektionen und völkische Ideologie in rechtsextremen Siedlungsbewegungen stehen. Dazu untersuchte er einerseits den sogenannten „Bund für Gotterkenntnis“, der 1937 durch Mathilde und Erich von Ludendorff gegründet wurde, und andererseits die Bewegung, die auf der Rezeption der 1996 bis 2010 durch Wladimir Nikolajewitsch Megre verfassten Romanreihe „Anastasia“ beruht. Während erstere Bewegung trotz ihres langen und fast ununterbrochenen Bestehens eher klein sei und ihre Mitgliederzahlen stagnierten, sei die Anastasia-Bewegung erst seit etwa 10 Jahren in Deutschland aktiv und befinde sich aufgrund starken Zulaufs durch esoterische und rechtsextreme Gruppen im Aufschwung. Beide Bewegungen würden aktuell aber nicht in das politische Geschehen eingreifen, sondern in ihren Siedlungen versuchen, eine Gegenwelt zu schaffen, die durch genügend Wachstum erst langfristig an Einfluss gewinnen sollen. Das Geschichtsbild des durch von Ludendorff gegründeten Bundes ist generell von der Annahme einer jüdischen Verschwörung als historischer Konstante geprägt, die auf die Unterwerfung der Welt abziele. Für das Mittelalter bedeute dies, dass im Frühmittelalter die germanischen Gebiete durch jüdisch-christliche Fremdherrschaft unterworfen worden seien. Bemerkenswert sei außerdem, dass das Papsttum als eine Institution gesehen worden sei, die sich im Laufe des Mittelalters von jüdischer Fremdsteuerung losgesagt und dann einen „Nibelungenkampf“ mit dem Judentum geführt hätte. Die mittelalterliche Judenfeindschaft werde durch eine Täter-Opfer-Umkehr verzerrt. Auch das Mittelalterbild der Anastasia-Bewegung sei durch antisemitische Narrative gekennzeichnet: Das Judentum nehme hier ebenfalls die Rolle des ewigen Widersachers ein, worin die Ursache für die mittelalterlichen antijüdischen Pogrome gesehen würden. Insgesamt gebe es weniger konkrete Verweise auf das Mittelalter im Roman von Megre, doch verweise er ebenfalls auf ein mittelalterliches Epos, indem er Boyan den Barden aus dem ca. 1185 in der Rus entstandenen „Lied der Heerfahrt Igors“ zu einem Nachfahren der wahren Arier stilisiere, der die jüdischen Einflüsse auf die Rus zurückgedrängt hätte. Trotz des zeitlichen Abstands ihrer Gründung wiesen beide Bewegungen ein dichotomes Geschichts- und Mittelalterbild auf, das von Antisemitismus geprägt sei. Beide Bewegungen sähen dabei nicht die mittelalterliche Ständeordnung oder das Feudalwesen als erstrebenswerten Zustand, sondern einen egalitären germanischen Primitivismus oder sogar offen Nationalsozialismus.

CHRISTOPH DARTMANN (Hamburg) referierte zum Mittelalterbild im Umfeld der sogenannten „neuen Rechten“. Er legte dem Vortrag Publikationen der Politiker Björn Höcke und Alexander Gauland sowie zwei Ausgaben des Compact-Magazins zugrunde, die Jan von Flocken verfasst hatte. Das Mittelalter spiele in diesen Veröffentlichungen eher eine untergeordnete Rolle, da sich zeitgeschichtliche Themen, insbesondere die Shoah, eher zur Erzeugung erinnerungskultureller Skandale und damit Medienöffentlichkeit eignen würden. In den Fällen, in denen das Mittelalter dennoch herangezogen wurde, erkannte Dartmann drei grundlegende Tendenzen: Erstens habe es immer wieder Rekurse auf vordemokratische Traditionen mit einem Fokus auf idealisierte Kaiser, insbesondere der Staufer Friedrich I. Barbarossa und seinen Enkel Friedrich II., gegeben. Darin seien die Autoren den Traditionen und Themen des wilhelminischen Kaiserreichs gefolgt, das auch darüber hinaus vielmehr im Fokus nationalistischer Geschichtserzählungen stehe. Zweitens würden nationalromantische Imaginationen einer idyllischen ländlichen Heimat in einer teilweise mittelalterlich anmutenden Vergangenheit formuliert, um antimodernistische Affekte zu evozieren. Dementsprechend stimmig seien Verweise Höckes auf eine mittelalterliche deutsche Sagenwelt, die eher der Konstruktion und Rezeption des 19. Jahrhunderts entspringe. Drittens sei die angeblich seit dem Mittelalter bestehende nationale Kontinuität Deutschlands auffällig: Während Björn Höcke die Ethnogenese der Deutschen im Frühmittelalter verortete, sah Alexander Gauland das deutsche Nationalbewusstsein um 1200 bei Walther von der Vogelweide als voll ausgeprägt, identifizierte jedoch bereits das ostfränkische Reich mit Deutschland. Jan von Flocken interpretierte wiederum die Schlacht auf dem Lechfeld im Jahr 955 sowohl als Geburtsstunde der deutschen Nation als auch als Symbol für die Verteidigung und Ausbreitung westlicher Zivilisation gen Osten. Dartmann konnte dementsprechend aufzeigen, dass das Mittelalter der „neuen Rechten“ vor allem aus einer Linse des 19. Jahrhunderts, insbesondere des wilhelminischen Kaiserreichs, betrachtet wurde.

In der Abschlussdiskussion gab es neben einigen Detailfragen vor allem einen Raum, um Handlungsstrategien zu diskutieren: Alle Referierenden waren sich einig, dass Untersuchungen von Korpora bestehend aus modernen Quellen, wie sie in dieser Sektion vorgetragen wurden, ein relevanter Bestandteil der Mediävistik sein müssten, um der gesellschaftlichen Verantwortung des Fachs nachzukommen. Dabei sei es unerlässlich, auch absurd oder lächerlich anmutende Geschichts- und Verschwörungserzählungen als reale Gefahr ernst zu nehmen. Zudem könnten derartige Untersuchungen eine sinnvolle Ergänzung zu dem Anspruch an ein globaleres und diverseres Mittelalter, wie ihn die Medieval Acadamy of America formuliert hatte, darstellen. Es wurden allerdings auch weiterhin bestehende Unsicherheiten und Fragen deutlich, die in Zukunft angegangen werden müssen: Wen kann die akademische Mediävistik überhaupt erreichen und wie lassen sich Begegnungs- oder Dialogräume schaffen? Zwar wurde es als fruchtbarer erkannt, eher die breite Öffentlichkeit als Rechtsextreme zu adressieren, doch erfolgreiche Wege der Wissenschaftskommunikation stellen ein Desiderat dar. Selbst die Vermittlung in Museen und Schulen reicht nicht aus – zumal wissenschaftlichere Geschichtserzählungen keine hinreichende Gegenmaßnahme sind. Vielmehr müsste das Bewusstsein, wie Geschichte entsteht, auch außerhalb von Fachkreisen geschärft werden. Das wird besonders daran deutlich, dass viele rechtsextreme Mittelalterinterpretation tatsächlich auf wissenschaftlichen Untersuchungen beruhen, die nur in Fachkreisen als veraltet erkannt werden.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Cordelia Heß (Greifswald) / Christoph Dartmann (Hamburg)

Cordelia Heß (Greifswald): Einleitung

Karin Reichenbach (Leipzig): Alt, älter, am ältesten? - Wiederbelebte Ethnogenesenarrative zwischen (Pseudo)Wissenschaft und neurechter Politik

Alexander Will (Hamburg): Mittelalterprojektionen und ‘völkische Siedler’

Christoph Dartmann (Hamburg): Tausend Jahre deutscher Geschichte? Vom Wert angeblicher nationaler Größe

Anmerkungen:
1 Medievalists Respond to Charlottesville, https://www.themedievalacademyblog.org/medievalists-respond-to-charlottesville/ (02.10.2021).

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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