Arbeit – Migration – Partizipation

Netzwerktreffen Oral History. Arbeit – Migration – Partizipation

Organisatoren
Arbeitsbereich Zeitgeschichte, Institut für Geschichte, Universität Graz
PLZ
8010
Ort
Graz
Land
Austria
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
25.05.2023 - 26.05.2023
Von
Tanja Kotik, Arbeitsbereich Zeitgeschichte, Institut für Geschichte, Universität Graz; Nina Jahrbacher, Arbeitsbereich Zeitgeschichte, Institut für Geschichte, Universität Graz

Das Netzwerktreffen Oral History findet seit 2014 regelmäßig statt und dient dem Austausch über Oral-History-Erfahrungen in den Geschichtswissenschaften. Im Mai 2023 tagte es – nach zwei Jahren wieder in Präsenz – beim Arbeitsbereich Zeitgeschichte am Institut für Geschichte der Universität Graz. Diesmal standen die Schwerpunkte Arbeit, Migration und Partizipation im Mittelpunkt, wobei auch Interviewsammlungen vorgestellt wurden. Darüber hinaus wurden Debatten und Herausforderungen diskutiert, die sich der Museumsarbeit, dem Umgang mit Vergangenheiten und den Besonderheiten von Oral History unter Pandemiebedingungen widmeten. Insgesamt berichteten 22 Referent:innen aus Österreich, Deutschland, Großbritannien und der Türkei über ihre aktuellen Forschungen und Oral-History-Projekte.

Oral History ist meist mit dem Führen von Interviews durch Wissenschaftler:innen für ein eigenes Forschungsprojekt verbunden. Jedoch gibt es einige Interviewsammlungen, die auf andere Weise entstanden sind. CHRISTIANE BERTH (Graz) stellte ihre Forschung zur Veränderung der multinationalen Büroarbeit in Chemie- und Pharmabranche vor und analysierte Narrative des technischen Wandels anhand von Interviews aus dem Oral-History-Archiv der Firma Merck in Darmstadt. Dieses bietet eine Sammlung von momentan 450 Interviews, welche gegenwärtig partizipativ – von ehemaligen Mitarbeiter:innen – erweitert werden. WALTER IBER und MAGDALENA JOHAM-GIEßAUF (Graz) präsentierten den Bestand des Oral-History-Archivs des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz. Beiden Vorträgen war gemein, dass die sachgemäße Dokumentation bereits vorhandener Interviews und Begleitmaterialien eine erhebliche Rolle einnimmt. Die Aufgabe, aus einer umfangreichen Menge an Material dasjenige auszuwählen, das für die eigene Forschung relevant ist, gestaltet sich häufig anspruchsvoll. Eine Methode zur Bewältigung dieser Herausforderung besteht in der Anwendung des computergestützten Topic Modeling, wie PHILIPP BAYERSCHMIDT (Regensburg) und DENNIS MÖBUS (Hagen) zeigten. Mithilfe dieser Erschließungsmethode wird die Materialsuche im distant reading nicht nur erleichtert, sondern auf Grund einer bestehenden Basis von hunderten archivierten Interviews auch thematisch treffsicherer. Der Archivierung von Audio- und anderen Datenquellen widmete sich auch VERENA LORBER (Linz) in ihrer Kurzpräsentation. Am Beispiel des Franz und Franziska Jägerstätter Instituts betonte sie neben datenschutzrechtlichen Fragen die Funktion von Oral-History-Interviews und -Archiven in Bezug auf historisches Lernen (Vermittlung und Erinnerungskultur).

Je nach nationalem und sozialem Kontext ist das Führen von Oral-History-Interviews mit spezifischen Bedingungen verknüpft. KATHARINA OKEs (Graz/Ibadan) sozial- und kulturgeschichtliche Forschung fokussiert handwerkliche Arbeit in Accra (Ghana) und Lagos (Nigeria). Sie berichtete über die Herausforderungen bei der Befragung von Goldschmieden. Einerseits stellte sie die Frage, wie nichtsprachliche Aspekte des Wissens transportiert werden können; etwa das Vorzeigen bestimmter Schmiedetechniken, welche auf der Audioaufnahme als Klänge und Geräusche erkennbar sind, jedoch visuell unzugänglich bleiben. Andererseits verwies sie auf das Verhältnis zwischen Interviewten und Wissenschaftler:innen, welches sich im Zusammenhang mit bestimmten gesellschaftlichen Strukturen entfaltet und die Art der Befragung sowie die Bereitschaft der Interviewpartner:innen beeinflusst(e). Dem schloss sich ARZU GÜLDÖŞÜREN (Istanbul) an, die syrische Flüchtlinge hinsichtlich ihrer Arbeitserfahrungen in Istanbul befragte, betonte aber vor allem die sprachlichen Barrieren.

LUISE BÖHM (Dresden) präsentierte das Citizen Science Projekt „Ostdeutsche Migrationsgesellschaft selbst erzählen“ (MigOst), in dem die Migrationsgeschichte sowie Migrant:innen in Ostdeutschland transparent, gleichberechtigt und partizipativ untersucht werden. Mittels Erzählcafés und Stadtlaboren konnte so Ostdeutschland als Einwanderungsland nach der Wende thematisiert werden. Den Alltag von Migrant:innen in Österreich in den 1990er-Jahren beschrieb JULIA ANNA SCHRANZ (Wien) anhand lebensgeschichtlicher Interviews mit (post-)jugoslawischen Migrant:innen, wobei sie die transregionalen Praktiken der Proband:innen betonte. NIKLAS PERZI (St. Pölten) stellte das „Institut für Geschichte des ländlichen Raums“ (IGLR) vor, zu dessen Schwerpunkten die Migrations- und Mobilitätsgeschichte neben der Agrar- und Ernährungsgeschichte sowie der Erschließung von Quellenbeständen zählt. Innerhalb dieses Instituts entstanden Forschungen zu Migration im ländlichen Raum (Tschech:innen in Hürm, Niederösterreich), umweltbewegte Lebensgeschichten (Erinnerungen von Umweltaktivist:innen) und „Niederösterreich Privat“. Letztgenanntes ist eine Sammlung lebensgeschichtlicher Interviews und Videoaufnahmen auf VHS-Kassetten – in Kooperation mit der Österreichischen Mediathek.

Archive sind nicht nur für die Erschließung bereits dokumentierter Interviews von enormer Bedeutung, sondern auch wichtige Institutionen der Vergangenheitsbewältigung. Dies unterstrich JULIA VOLKMAR (Belfast) und postulierte, dass auch Archivar:innen sich nicht von der Teilhabe am politischen Diskurs und der Beeinflussung durch Vergangenheitsnarrative ausnehmen können – von passiver bis zu aktiver Einflussnahme. Im Zuge ihrer Fallstudien zur Deutschen Wiedervereinigung sowie zu Nordirlands „Good Friday Agreement“ führte sie nicht nur Expert:inneninterviews, sondern erhielt dank lebensgeschichtlicher Gespräche auch Einblicke in die Arbeitsweisen von Archivar:innen und deren Umgang mit Opfern, Öffentlichkeit und Wissenschaft. Analog dazu fragte VANESSA TAUTTER (Brighton), welchen Einfluss die Verschiebungen der öffentlichen Erinnerungspolitik in Europa seit den 1980/90er-Jahren auf Menschen hatten, die in ehemals dominanten, heute weitgehend residualen Erinnerungskulturen aufwuchsen und lebten. Ihre Fallstudien behandeln die Gewaltdiskurse beziehungsweise die Verhandlung zwischen Politik und Öffentlichkeit – einschließlich der Emotionen – in Österreich (Zweiter Weltkrieg) und Nordirland (Nordirland-Konflikt).

Auch für Museen hat Oral History einen zentralen Stellenwert: Sie dient als Schnittstelle zwischen Forschung und Wissensvermittlung, als partizipative Wissensbildung und zur Bewahrung des Alltäglichen. LEA ALTHOFF (Oberhausen) sprach hierbei über die Herausforderungen im LVR-Industriemuseum (Nordrhein-Westfalen) bei der Sammlung und Archivierung von Interviewmaterialien. Neben fehlender Projektdokumentation nannte sie auch technische Schwierigkeiten bei der Langzeitarchivierung und Digitalisierung von Video- und Tonträgern. KATARZYNA NOGUEIRA (Bochum) zeigte indes, wie Interviews auf kreative und partizipative Weise in die museale Ausstellungspraxis eingebunden werden können. Die interaktive Ausstellungswerkstatt „Das ist kolonial!“ im LWL-Museum Zeche Zollern (Dortmund) lädt Besucher:innen ein, sich an den Inhalten und Formaten partizipativ zu beteiligen. Ebenso ermöglicht(e) das Projekt und Netzwerk „IDEA“ partizipative Oral-History-Interviews. BIRGIT HEIDTKE und MYRIAM ALVAREZ (Freiburg) führten mit gesellschaftlich engagierten Migrantinnen aus Deutschland Interviews, wobei die Interviewten selbst zu Interviewerinnen werden konnten. Dank einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit Medienwissenschaftler:innen konnten für die Erstellung und Bearbeitung von Podcasts neben Infoblättern auch Video-Tutorials und digitale Workshops angeboten werden.

Die Corona-Pandemie beeinflusste unter anderem auch den Umgang mit beziehungsweise die Durchführung von Oral-History-Interviews. JOHANNA ZECHNER (Wien), DANIEL PREGARTNER (Graz) und MICHAEL MAIER (Wien / Graz) sprachen, bezugnehmend auf das Projekt „MenschenLeben“ der Österreichischen Mediathek, über die Neuerungen und Schwierigkeiten, die sich durch und während der Pandemie ergaben. Die Forscher:innen nutzten die Gelegenheit, „MenschenLeben“ inmitten einer aktuellen, noch nicht historischen, globalen Krise zu dokumentieren. Die dafür nötigen Online-Interviews waren jedoch von technischen Fragen und Problemen (Equipment, limitierte Audio- und Videoqualität, Langzeitarchivierung) sowie von Unsicherheiten hinsichtlich des Umgangs mit Emotionen und Traumata geprägt. Der virtuelle Raum erschwert insbesondere die nonverbale Kommunikation (Mimik und Gestik), was dazu führt, dass die Interviewsituation weniger kontrolliert ablaufen kann und dass das digitale Setting den Gesprächsverlauf sowie den Beziehungsaufbau beeinflusst. Daneben betonten sie, dass ein Online-Interview auch eine geographische Grenzen überschreitende, zeit- und kostensparende Variante ist, obwohl die Gefahr einer Marginalisierung von nicht internetaffinen Personen besteht. MICHAELA TASOTTI (Graz) diskutierte indes den differenzierten Output von Einzel- und Gruppeninterviews: Gruppen entwickeln oft eine Eigendynamik, die in Einzelinterviews meist nicht zustande kommt. Allerdings werden bei Einzelinterviews häufig politische Positionierungen deutlicher und „aktiver“ (beispielsweise durch Unterbrechungen, Ins-Wort-fallen), wohingegen Gruppeninterviews oft dem/der Interviewer:in eine „teilnehmende Beobachtung“ ermöglichen. Aber auch hierbei stellt sich die Frage, wie mit traumatischen, emotional stark aufgeladenen Situationen umgegangen werden soll. Michaela Tasottis Kollege, LUKAS SCHRETTER (Graz), kontextualisierte diese methodischen Bedingungen mit ihrem Untersuchungsgegenstand, dem Lebensborn-Heim Wienerwald beziehungsweise dessen Aufarbeitung mittels lebensgeschichtlicher Interviews. Die beiden Forscher:innen kontaktierten sogenannte Lebensborn-Heim-Kinder jedoch nicht direkt, da viele der Betroffenen meist nicht wissen, dass sie dort geboren wurden. Sie riefen stattdessen in den österreichischen Medien im Jahr 2020 zur Projektteilnahme auf, wodurch insgesamt 33 Interviews im Rahmen dieses Projektes durchgeführt werden konnten.

Das diesjährige Netzwerktreffen Oral History an der Universität Graz förderte den interdisziplinären Austausch aktueller Forschungen und deren Herausforderungen. Es beleuchtete neben Arbeit, Migration und Partizipation auch Themen wie Datenschutz, Museumsarbeit und Umgang mit Vergangenheiten. Ebenso wurden technische Aspekte problematisiert, deren Anforderungen nicht nur für Online-Interviews, sondern auch für eine sachgemäße Dokumentation zu beachten sind. Die intensive Betrachtung des Sammlungsgedankens, die Unterscheidung zwischen Einzel- und Gruppeninterviews und der Umgang mit Emotionen während der Interviews und traumatischen Erfahrungen trugen gleichermaßen zur Bereicherung des Fachdialogs bei.

Konferenzübersicht:

Christiane Berth (Graz) / Linde Apel (Hamburg) / Stefan Müller (Bonn): Begrüßung und Vorstellung des Programms und der Teilnehmenden

Panel 1: Oral History und Arbeit
Moderation: Alexandra Jaeger (Hamburg)

Walter M. Iber (Graz) / Magdalena Joham-Gießauf (Graz): Ein Schatz geschichtlicher Forschung. Das Oral History Archiv des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Uni Graz

Christiane Berth (Graz): Arbeit, Technik, Zeitdiagnosen. Erinnerungen und Partizipation im Oral History Archiv der Firma Merck

Katharina Oke (Graz): Artisanal labour in Accra, Ghana and Lagos, Nigeria – first experiences with oral history interviews

Arzu Güldöşüren (Istanbul): Arbeitserfahrungen syrischer Arbeitnehmer in der Türkei
Moderation: Sarah Knoll (Graz)

Kurzpräsentationen:

Niklas Perzi (St. Pölten): Institut für die Geschichte des ländlichen Raumes, St. Pölten

Verena Lorber (Linz): Franz und Franziska Jägerstätter Institut, Linz

Johanna Zechner (Wien) / Daniel Pregartner (Graz) / Michael Maier (Wien/Graz): Wenn die Welt kleiner wird. Zum Interviewen während der Pandemie. Ein Bericht aus der Praxis.
Moderation: Andrea Strutz (Graz)

Panel 2: Oral History im Museum
Moderation: Stefan Müller (Bonn)

Katarzyna Nogueira (Bochum): „Das ist ja kolonial!“ Dekoloniale Perspektiven auf die museale Interviewpraxis.

Lea Althoff (Oberhausen): Oral History im eigenen Haus – Geschichten erhalten im LVR-Industriemuseum

Panel 3: Verhandlungen über Vergangenheiten
Moderation: Daniel Baranowski (Berlin)

Julia Volkmar (Belfast): “Sich von den Akten trennen, das ist unmöglich”: Archivare und Archivarinnen als Akteure der Vergangenheitsbewältigung

Vanessa Tautter (Brighton): Negotiating Violent Pasts from an “Implicated” Position: An Oral History of Experiencing Memory Change in Austria and Northern Ireland, 1980s to Present

Barbara Stelzl-Marx (Graz) / Michaela Tasotti (Graz) / Lukas Schretter (Graz): Lebensborn-Heim Wienerwald, 1938–1945: Sammlung, Dokumentation und Aufbereitung lebensgeschichtlicher Interviews

Panel 4: Oral History, Migration und Partizipation
Moderation: Linde Apel (Hamburg)

Luise Böhm (Dresden): Ostdeutsche Migrationsgesellschaft selbst erzählen – Zwischenstände eines auf Unabgeschlossenheit zielenden Projektes

Birgit Heidtke, Myriam Alvarez (Freiburg): Doing Oral History partizipativ – Erfahrungen aus dem Projekt und Netzwerk IDEA. Ein Oral History Archiv von aktiven Migrantinnen

Panel 5: Oral History, Migration, Alltag/Heimat
Moderation: Andrea Althaus (Hamburg)

Julia Anna Schranz (Wien): Alltagspraktiken (post-)jugoslawischer Migrant:innen in Wien in den 1990er-Jahren

Dennis Möbus (Hagen) / Philipp Bayerschmidt (Regensburg): Topic Modeling – Migration, Identität, Heimat

Christiane Berth (Graz) / Linde Apel (Hamburg) / Stefan Müller (Bonn): Auswertung und Planung für 2024

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