Massentaufen und Massenbekehrungen in der Geschichte des Christentums. Geschichte und Berichte

Massentaufen und Massenbekehrungen in der Geschichte des Christentums. Geschichte und Berichte

Organisatoren
Judith Becker, Berlin; Uta Heil, Wien
PLZ
1010
Ort
Wien
Land
Austria
Fand statt
Hybrid
Vom - Bis
14.04.2023 - 15.04.2023
Von
Jasper Althaus, Professur für Reformation und neuere Christentumsgeschichte, Theologische Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin

Welche Rolle spielt das Phänomen der „Massentaufe“ in der Geschichte des Christentums? Wie ist mit den Berichten zu Massentaufen und der sich daran anschließenden Historiografie umzugehen? Mit diesen Fragen befasste sich ein Workshop am 14. und 15. April 2023, der im Rahmen der Projektgruppe „Massenereignisse in der Christentumsgeschichte. Neue Perspektiven auf die Historiographie“ der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (WGTh) stattfand. Unter der Leitung von Judith Becker und Uta Heil fragt die Projektgruppe etwa mit Blick auf Massentaufen, inwieweit ihre traditionelle Beurteilung als Abfall vom Ideal persönlicher, individueller Bekehrung zu halten ist. Dieser erste Workshop näherte sich in Fallstudien dem Phänomen der „Massentaufe“ und der damit verbundenen Historiografie, ohne den Anspruch zu haben, einen Überblick oder gar eine kongruente Erzählung zu bieten. Den Beginn machten Studien zu antiken und frühmittelalterlichen Berichten zu Massentaufen. Im zweiten Teil waren die neuzeitlichen evangelischen Mission und die Frage im Fokus, inwieweit hier von Massentaufen gesprochen werden kann. Wie groß muss etwa eine Menge sein, um als „Masse“ bezeichnet zu werden? Trotz des historisch großen Bogens blieben die Einzelarbeiten durch die thematische Zuspitzung eng aufeinander bezogen. Der Workshop bildete den Auftakt der Projektgruppe. Die Arbeit wird in zwei weiteren Workshops in den nächsten beiden Jahren sowie in kürzeren Arbeitstreffen weitergeführt.

Als Eröffnung warf UTA HEIL (Wien) programmatisch die Frage auf, wie mit frühchristlichen Berichten zu Massentaufen historiografisch umzugehen sei. Angesichts stilisierter Taufzahlen und Konversionsbeschreibungen, die die bisherige Forschung überwiegend als unrealistisch ansieht, seien die Berichte mit großer Sicherheit fiktiv. Weshalb wurden sie dennoch erzählt? Und wie ist mit ihnen geschichtswissenschaftlich umzugehen? Heil stellte drei Thesen vor. Erstens müssen auch in der Forschung die historischen Kontexte der Erzählungen unterschieden werden. Die mit der frühen Zeit der Apostel verbundenen Legenden und Viten sind von Berichten über einzelne herausragende Ereignisse des Mittelalters oder die politische Mission der Spätantike zu unterscheiden. Zweitens haben die frühen Legenden der missionierenden Apostel spätere Berichte inspiriert. So sind die Apostellegenden zur Grundlage für Legenden über wichtige christliche Personen der Spätantike geworden, die in ihrer Tradition standen. Drittens gehen die Erzählungen über Massentaufen auf diverse literarische und rhetorische Strategien zurück. Beispielhaft nannte Heil hierfür apologetische Erzählungen, Werbung für das Christentum, Traditionsfortführung oder Identitätssicherung und Kontrasterzählungen. Abschließend hob Heil die Bedeutung der Pragmatik solcher Erzählungen hervor. Berichte von Massentaufen brachten die individuelle Konversion in einen größeren Kontext christlicher Gemeinschaft und stellten damit die Bedeutung der Konversionsentscheidung für die Gesellschaft heraus.

Anschließend befasste sich HERMUT LÖHR (Bonn) mit den Berichten von Massentaufen und -bekehrungen in der neutestamentlichen Apostelgeschichte und in den (apokryphen) Apostelakten. Der von ihm behandelte Textkorpus umfasste die ersten fünf Jahrhunderte nach Christus, wurde jedoch durch die Ähnlichkeit in der Gattung zusammengehalten. Er hob wie Heil den symbolischen Charakter der Beschreibungen, insbesondere der Zahlen, hervor. In Rückgriff auf die Forschung der letzten Jahrzehnte verstand Löhr die Erzählungen als „Produkte der Imagination“, die gleichzeitig die antike Lebenswelt voraussetzen. Entsprechend ließen sich aus diesen Texten keine Schlüsse zu den ersten Jahrzehnten der Ausbreitung des Christentums ziehen, wohl aber zur sozialhistorischen Situation. Eine vertiefte Forschung zu den Berichten von Massentaufen und -bekehrungen sei deshalb insbesondere für das sozialgeschichtliche Verständnis des frühen Christentums von Interesse. Laut Löhr ist gerade für die weitere Forschung interessant, warum die Zahlen in den Berichten so stark betont werden, wenn sie doch offensichtlich nur symbolischen Wert haben.

JOHANNES HEIL (Heidelberg) bot nach den beiden Überblicksuntersuchungen eine Einzelstudie. Anhand der Epistola des Severus über die Bekehrung der Juden von Menora im Jahr 418 arbeitete er eindrücklich heraus, wie eine Massenkonversion literarisch verarbeitet wurde. In seinem Brief an die gesamte Christenheit beschrieb Severus als Bischof von Menorca, wie nach der Ankunft von Reliquien des Protomärtyrers Stephanus auf Menora ein massiver Missionswunsch der christlichen Minderheit gegenüber der jüdischen Mehrheit auf der Insel um sich griff. Mit dem Bischof an der Spitze liefen Christ:innen aus der Hauptstadt die 30 Kilometer nach Magona, um dort die jüdische Gemeinde zur Diskussion aufzufordern. Die Situation eskalierte jedoch und die Synagoge ging in Flammen auf. Severus berichtet davon, dass sich schlussendlich 540 Jüdinnen:Juden taufen ließen. Heil arbeitete heraus, wie der Text die Freiwilligkeit und damit die Legitimität und Überlegenheit des Christentums hervorhebt. Illegitimes Verhalten wird nur auf Seiten der Jüdinnen:Juden beschrieben, die Konversionen werden durch das wunderhafte Wirken der Stephanusreliquien erklärt. Laut Heil versucht Severus den Zwang, den die Christ:innen ausübten, in seiner Beschreibung zu verdecken, kann diesen jedoch nicht vollständig kaschieren. Der Referent zeigte, wie der Konversionsdruck in der Erzählung an unterschiedlichen Stellen erkennbar wird. Dies wurde nicht nur in physischem Zwang deutlich, sondern auch dadurch, dass Verfolgung oder soziale Ausgrenzung drohen. Laut Heil weist die Erzählung nach, dass es auch in der Spätantike Zwangskonversionen gab, obwohl das Dokument nicht als Tatsachenbericht im modernen Sinne zu verstehen sei.

Im Anschluss schritt MAXIMILIAN DIESENBERGER (Wien) zeitlich voran und lenkte den Blick auf Massentaufen bei den Karolingern. Diesenberger betonte, dass die Sachsenkriege ab 772 n.Chr. von Beginn an religiös aufgeladen waren, etwa durch die Zerstörung der Irminsul und dem sächsischen Versuch, die Kirche des Bonifatius niederzubrennen. Die Kriegsbeschreibungen berichten von vielen Wundern, jedoch stets für die christlichen Karolinger und gegen die Sachsen. Diesenberger stellte heraus, wie eng Konversionen mit der Macht und der Gewalt verknüpft war, die von militärischen Siegen ausging. Taufen standen dabei ausdrücklich nicht im Gegensatz zu den Schlachten. Anhand der Reichsanalen zeigte Diesenberger, wie groß die karolingischen Erwartungen an eine erfolgreichen Sachsenmission waren. Die Erfahrung, dass den Massentaufen keine langfristige Konversion folgte, stellte die offizielle Historiografie vor große Herausforderungen und rief eine intensive Debatte um richtige Missionspraktiken am kaiserlichen Hof hervor. Insbesondere Alkuin präferierte eine Mission der Sachs:innen nicht durch Zwang, sondern mit Predigt und Verständigung. Der Versuch einer solchen Mission unter den Awar:innen scheiterte jedoch, da das Vorhaben zu teuer und die Missionare nicht ausreichend ausgebildet waren. In den Reichsannalen des 9. Jahrhunderts wurde daraufhin die Zwangsmission ausschließlich positiv bewertet. Es scheint, dass das Schwert durchaus als probates Mittel der Mission galt, hielt Diesenberger fest.

Den zweiten Teil der Tagung zu Massentaufen eröffnete SABINE HÜBNER (Wuppertal). Sie wandte sich in ihrer Studie der Berichterstattung der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission über die Taufen in der Indienmission im 18. Jahrhundert zu. Diese erste protestantische Mission begann 1706 mit zwei lutherischen Missionaren in der dänischen Kolonie Tranquebar in Indien. Hübner hob hervor, dass das Taufverständnis von großer Wertschätzung diesem Sakrament gegenüber geprägt war. Man legte in den Berichten großen Wert darauf, dass in der Mission erst nach eingehender Unterrichtung, Prüfung, Buße und erkennbarer Veränderung der Lebensführung getauft wurde. Damit profilierte sich die protestantische Mission auch im Gegensatz zur katholischen, der sie vorwarf, ohne Vorbereitung und teils gegen den Willen der Täuflinge vorzugehen. Entsprechend betonte Hübner, dass nicht von Massentaufen gesprochen werden kann. Gleichzeitig hob sie hervor, dass trotz der Betonung individueller Konversion auf die Taufzahlen ein großes Augenmerk gelegt wurde. Sie sollten den Erfolg der evangelischen Mission herausstellen. Die große Relevanz, die Missionstaufen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zugemessen wurde, zeigte Hübner auch anhand von Faltblättern anlässlich des 200. Jubiläums des Augsburger Bekenntnisses im Jahr 1730. Mehrfach tauchen auf den Faltblättern Taufen in der Indienmission als zeitgenössisches Motiv auf. Dabei wurden die Täuflinge jedoch als anonyme Masse dargestellt, während Taufbilder, die sich auf den europäischen Kontext beziehen, nur Einzeltaufen zeigen.

JUDITH BECKER (Berlin) schloss mit ihrem Vortrag zu Taufen in der Südindienmission der Basler Mission ab 1834 daran an. Becker betonte den Einfluss der Erweckungsbewegung auf die Taufpraxis im Missionsgebiet. So legte die Basler Mission einen besonderen Wert auf die erweckte Bekehrung der Täuflinge. Becker plädierte für eine Unterscheidung zwischen Konversion und Taufe, die sich in der Basler Indienmission auch zeitlich nachweisen lässt. Die Konversion hatte weitreichende soziale Implikationen, da die indischen Konvertit:innen mit der Aufnahme in die christliche Gemeinschaft aus ihrer Kaste heraustraten und somit aus dem sozialen System herausfielen und häufig auch ihre Berufe verloren. Die Referentin stellte heraus, dass die Handlungsmacht zur Konversion primär bei den Inder:innen lag. Dagegen lag die Entscheidung über die Gemeindeaufnahme durch Taufe in den Händen der Missionare, die damit teilweise längere Zeit zögerten. Durch die eingeführte Praxis der Gruppentaufen, die vermutlich zu festen Terminen stattfanden, fielen die Momente der Konversion und der Taufe noch stärker auseinander. Becker zeigte in ihrem Vortrag, dass Massentaufen auf Grund der theologisch begründeten Betonung der individuellen Taufentscheidung im beschriebenen Forschungsfeld nicht in Frage kam. Gleichzeitig warf sie die Frage auf, inwieweit Konversion und Taufe auch bei Einzeltaufen oder Gruppentaufen mit intensiver individueller Prüfung zusammenfallen. Diese Frage ist in anderer Weise auch bei Massentaufen, etwa in der Sachsenmission oder in der Antike zu stellen.

Den großen Bogen der Tagung beschloss FRIEDER LUDWIG (Stavanger) mit Schlaglichtern zu Gruppen- und Massentaufen im 20. Jahrhundert. Dabei fokussierte er sich auf unterschiedliche afrikanische Kontexte, die die Vielstimmigkeit der Auseinandersetzung mit der Taufe erkennen ließen. Anhand einer Auslegung des achten Kapitels der Apostelgeschichte durch den panafrikanischen Politiker Edward W. Blyden zeigte er dessen Auseinandersetzung mit der kolonial-missionarischen Taufpraxis und der Entwicklung eines eigenständigen christlich-afrikanischen Selbstverständnisses. Eine Antwort auf die Frage der Taufpraxis in Afrikanischen Unabhängigen Kirchen stellte Ludwig am Beispiel des äthiopischen Theologen Gudina Tumsa vor. Dies wurde kontrastiert durch die Gemeinde- und Taufkonzepte, die der Leipziger Missionar Bruno Gutmann zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der sog. Chagga-Mission entwickelte. Alle Beispiele durchzog dabei die Frage, in welchem Maße ein individuelles Bekenntnis von den Täuflingen zu fordern sei und welche Bedeutung die sozialen Zusammenhänge haben.

Der Workshop zeigte, wie sehr die Auseinandersetzung um Massen- und Gruppentaufen die Christentumsgeschichte in unterschiedlichen Kontexten seit ihren Anfängen prägt. Dabei wurden die unterschiedlichen historischen Einschätzungen zu diesem Phänomen deutlich. Während in der neuzeitlichen protestantischen Mission die persönliche Konversion als Ideal verstanden wurde, zeigen antike und frühmittelalterliche Zeugnisse eine weniger eindeutige Beurteilung. Daneben warfen insbesondere die Beiträge zu den Berichten antiker Massentaufen die Frage auf, wie solche Erzählungen in rezenter Geschichtsschreibung einzuordnen sind. Hinter den Einzelstudien kristallisierte sich außerdem die Frage heraus, inwieweit unter den jeweiligen historischen Bedingungen eine Konversion überhaupt individuell denkbar war oder in einer größeren sozialen Einheit ausgehandelt werden musste. Dem Workshop gelang es in seinen Fallstudien die unterschiedlichen Aspekte der von der Projektgruppe aufgeworfenen Frage markant vor Augen zu führen. Inwieweit eine Revision der bisherigen Historiografie zu christlichen Massentaufen und -ereignissen geboten ist, wird in den beiden folgenden Workshops zu erschließen sein.

Konferenzübersicht:

Teil 1: Antike und Frühmittelalter

Uta Heil (Wien): Massentaufen und die Christianisierung des Römischen Reichs: alte Berichte und neue Theorien

Hermut Löhr (Bonn): Massenbekehrungen und -taufen: Überlegungen zu Bedeutungen, Funktionen und Traditionen eines erzählerischen Motivs in frühchristlichen Apostelakten

Johannes Heil (Heidelberg): Massentaufen und Zwangstaufen der Juden auf Menorca im 5. Jahrhundert

Maximilian Diesenberger (Wien): Massentaufen bei den Karolingern

Teil 2: Neuzeit

Sabine Hübner (Wuppertal): Einzelne und doch viele. Die Taufe in der Berichterstattung der Indienmission im 18. Jahrhundert

Judith Becker (Berlin): Gruppentaufen in der Südindien-Mission im 19. Jahrhundert. Eine Neuheit in der Missionstheologie und -strategie

Frieder Ludwig (Stavanger): Gruppentaufen in der Mission in Ostafrika im 20. Jahrhundert

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