10. Workshop zur Jugendbewegungsforschung

10. Workshop zur Jugendbewegungsforschung

Organisatoren
Archiv der deutschen Jugendbewegung & Jugendbildungsstätte Ludwigstein; Lieven Wölk (Humboldt-Universität zu Berlin); Max-Ferdinand Zeterberg (Universität Göttingen)
Veranstaltungsort
Burg Ludwigstein
PLZ
37214
Ort
Witzenhausen
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
21.04.2023 - 22.04.2023
Von
Julia Bartels, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen; Jiayun Hu, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; Tim Zumloh, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte

Am vorletzten Aprilwochenende fand auf der Burg Ludwigstein das 10-jährige Jubiläum des Workshops zur Jugendbewegungsforschung statt. Der Workshop, der vom Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb) und seinem wissenschaftlichen Beirat unterstützt wird, bietet die Möglichkeit eines interdisziplinären Austausches für Nachwuchswissenschaftler:innen, die zu Jugend und Jugendbewegung arbeiten. Unter der Leitung von Lieven Wölk und Max Zeterberg referierten in diesem Jahr neun Teilnehmende an zwei Tagen ihre Master- und Doktorarbeiten aus der historischen Jugendforschung des 20. Jahrhunderts. Nach der Begrüßung und Tätigkeitsvorstellung durch Stephan Sommerfeld von der Jugendbildungsstätte Ludwigstein und durch die Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Susanne Rappe-Weber, begann der Workshop mit einer Keynote.

In dieser Keynote Lecture berichtete ALEXANDER M. KORB (Leicester) aus seinem Buchprojekt über völkischen Internationalismus in der Bündischen Jugend, 1920–1990. Das Buch argumentiert, dass der völkische Nationalismus der deutschen Jugendbewegung stark europäisch ausgerichtet war und beinhaltete, dass die verhasste Pariser Friedensordnung von 1919 nur in Zusammenarbeit mit anderen europäischen Nationalstaaten durch eine „neue Ordnung“ ersetzt werden konnte. Im Sinne der damals populären (Mittel-)Europaideologien bedeutete dies, dass ein von Deutschland angeführter Bund europäischer Völker eine friedliche Zukunft des Kontinents garantieren sollte. Konkret führte Korb diese Überlegungen am Beispiel des Bundes um das Grenzschulheim Boberhaus in Niederschlesien aus. Diese jugendbewegte Gruppe stürzte sich mit pädagogischem Ethos in die sogenannte Grenz- und Auslandsarbeit und schloss auf ihren Fahrten und Seminaren Bündnisse mit Nationalisten aus anderen Ländern vor allem in Südosteuropa. Diese Freundschaften dauerten auch in der Nachkriegszeit an, als sich die bündische Gruppe neu gründete und als neues Aufgabengebiet die globale Entwicklungspolitik für sich entdeckte.

MARTIN J. KUDLA (Frankfurt am Main) unternahm eine kritische Betrachtung der Selbstdarstellung des Publizisten Robert Jungk zu seiner Zeit in der deutsch-jüdischen Jugendbewegung. Zwar bekräftigte Kudla die Bedeutung dieser Prägung durch die Jugendbewegung, anschließend an seine Archivrecherchen hinterfragte er jedoch die einseitige Darstellung in Jungks autobiografischen Mitteilungen. Von mindestens dem Ende der 1930er-bis in die Mitte der 1950er-Jahre empfand Jungk einen tiefen Konflikt zwischen seinem Deutschtum und seinem Judentum. Dieser schlug sich auf folgenschwere Weise in seinen Werken nieder. Kudla bot so eine neue Perspektive auf Jungks Zeit bei der „Deutsch-jüdischen Jugendgemeinschaft“ und den „Kameraden“.

ANKE KALKBRENNER (Berlin) stellte einen Ausschnitt ihres Promotionsprojektes zu jüdischer Kindheit und Jugend in Berlin, 1945–1953 vor. Sie diskutierte die konzeptionelle Gestaltung und praktische Umsetzung der jüdischen Sommercamps, die im Zusammenschluss von Jüdischer Gemeinde, britischen und amerikanischen Militärbehörden, zivilen Hilfsorganisationen und Berliner Displaced Person Camps ausgerichtet wurden. Kalkbrenner betrachtete die beteiligten Akteure und ihre Interessensphären. Zudem untersuchte sie die konzeptionelle Ausrichtung der Ferienkolonien und Zeltlager und ging dabei der Frage nach, ob und in welcher Form ein Anknüpfen an die Traditionen der jüdisch-zionistischen Jugendbewegung in der unmittelbaren Nachkriegszeit möglich war.

REBECCA BAMBERGER (Uppsala) analysierte kulturelle Codes und Diskurse in der Jugendzeitschrift „Der Zwiespruch“ 1928–1933. Sie folgte dabei einigen späteren nationalsozialistischen Schlüsselkonzepten und Begriffen und fragte nach ihrer Bedeutung für die Zeitschrift in der Weimarer Republik. Sie sah einige Parallelen und warf daher die Frage auf, ob letztlich die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sowohl für die Autorinnen und Autoren als auch für die Leserinnen und Leser des Zwiespruchs einen signifikanten Wandel des Weltbildes bedeutete. Die umfangreiche Quellenarbeit Bambergers ermöglichte einige Einblicke in die Zeitschrift. Ihr Verständnis einer weitgehenden ideologischen Kontinuität wurde in der anschließenden Diskussion aber auch kritisch gesehen.

Ausgangspunkt der Überlegungen JULIEN CORBELS (Paris) war, dass das gemeinsame Singen in der Hitlerjugend (HJ) in der Erinnerung von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen häufig als unpolitisch charakterisiert wurde. Was könnten die Gründe hierfür sein? Für Corbel kommen drei Deutungen in Frage. Erstens konnte es in den HJen vor Ort tatsächlich auch weniger strikte Durchsetzungen nationalsozialistischer Ideologie geben – oder diese erfolgten eher allmählich und weniger als klar erinnerbarer Bruch. Eine zweite Deutung wären Schwierigkeiten, die Erinnerung an die NS-Zeit in die eigene Biografie zu integrieren. Drittens in Betracht kommt, dass die Jugend bereits in einem Ausmaß „gleichgeschaltet“ war, das keine eigene Bewertung der Inhalte zuließ. Corbel versuchte, dieses Singen zu verstehen in einem Spannungsverhältnis zwischen den meist positiven Emotionen während des Singens und der aggressiven Konstruktion einer NS-„Volksgemeinschaft“.

Auf den Nationalsozialismus folgten Revisionismus und Verharmlosung. Wie verliefen derartige Kampagnen in der rechten deutschen Jugendbewegung? Dieser Frage ging NIKLAS KOLB (Bayreuth) anhand der Zeitschrift „Adlerführer“ des „Jugendbundes Adler“ zwischen 1952 und 1992 nach. Kolb untersucht die Zeitschrift gegenwärtig in seiner Masterarbeit auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit. Erste eher quantitative Ergebnisse deuten darauf hin, dass der „Jugendbund Adler“ mit revisionistischen Positionen ab etwa 1960 an politischer Relevanz und an gesellschaftlichem Einfluss einbüßte, sich als Organisation aber noch bis mindestens Anfang der 1990er-Jahre erhalten konnte.

In ihrem Vortrag beschäftigte sich SASKIA KÖBSCHALL (Potsdam) mit den Verflechtungen der Lebensreformbewegung mit der Naturismus/Nudismus-Bewegung sowie dem Kolonialismus. Diese Verbindung, so eine These des Vortrags, lässt sich bis in die Gegenwart in Traditionen der Freikörperkultur (FKK) beobachten. Im Rahmen ihres Dissertationsvorhabens geht Köbschall davon aus, dass zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur wichtige Akteure dieser Bewegungen in koloniale Kontexte eingebunden waren, sondern dass deren Diskurse um weiße Körperlichkeiten direkt an koloniale Diskurse anknüpften. Anhand eines breit angelegten Quellenkorpus soll die Untersuchung die vielfältigen Verknüpfungen der Themen Körperpolitik, Rassismus und Exotismus im Kontext der oben genannten Bewegungen beleuchten.

Fortgeführt wurde der Workshop am Folgetag mit einem Vortrag über Heimskandale und Heimkritik Ende der 1920er- und Ende der 1960er-Jahre. JIAYUN HU (Heidelberg) verglich in ihrer Masterarbeit die Skandalisierungsprozesse zur Heimerziehung in den beiden deutschen Staaten und analysierte die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Diskurse in Fachwelt und Öffentlichkeit. Die beiden durch Massenmedien ausgelösten Skandale führten zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem Heimsystem, die sowohl durch die innere und äußere sozioökonomische Situation verschärft als auch von verschiedenen Akteuren mit eigenen Interessen instrumentalisiert wurden. Im Mittelpunkt der Kritik stand das hartnäckige Übel der Heimerziehung, das bereits im späten 18. Jahrhundert thematisiert worden war, aber auch neue Aspekte enthielt, die die neuen Ideenströmungen der späten 1960er-Jahre widerspiegelten.

JULIA BARTELS (Göttingen) referierte über ein Masterarbeitsvorhaben. Die Arbeit wird einen begriffsgeschichtlichen Beitrag zur Erforschung des Begriffs der Freundschaft in der Jugendbewegung leisten. Im Vortrag stellte Bartels die These auf, dass der Begriff dort im Anschluss an Konzeptionen, die bereits in der frühen Jugendbewegung rezipiert wurden, auch als Rechtfertigung und Code für intime Beziehungen dient – auch asymmetrische zwischen Älteren und Jüngeren, die als sexualisierte Gewalt bezeichnet werden müssen. Der Fokus der Arbeit liegt auf Quellen des Nachlasses Alexej Stachowitschs, genannt Axi, eines Akteurs der Jugendbewegung, dessen Wirken und Erbe nach seinem Tod 2013 im Kontext der von ihm ausgehenden Übergriffe in ein kritisches Licht gerückt wurden.

Im abschließenden Vortrag bezog TIM ZUMLOH (Münster) die Freiraumbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre auf die Zeitgeschichte des Städtebaus. Am Beispiel der ostwestfälischen Stadt Gütersloh legte er dar, dass diese Bewegung nicht nur auf die theoretische Schwerpunktverlagerung in der politischen Linken – von der Sphäre der Produktion zu jener der Reproduktion – zurückzuführen ist. Es bestand zudem ein Zusammenhang zur Krise von Stadt und Kapitalismus, die sich gerade auf Klein- und Mittelstädte auswirkte. Hier hatte die Ausdehnung der Stadt in die Fläche im ‚Wirtschaftswunder‘ zu einem Verlust von Zentralität geführt. Initiativen für Jugend- und soziokulturelle Zentren sind daher auch als Kämpfe um die Rückeroberung von städtischer Zentralität zu verstehen.

Insgesamt hat der Workshop die disziplinäre Breite der Jugendbewegungsforschung illustriert. Von diesen verschiedenen Blickwinkeln profitierten auch die konstruktiven Diskussionen und der rege Austausch, die die Veranstaltung bereichert haben. In der Abschlussdiskussion wurde neben der gelungenen Durchführung insbesondere die unabhängige Organisation des jährlichen Workshops von jungen Forschenden für junge Forschende lobend hervorgehoben.

Konferenzübersicht:

Keynote: Dr. Alexander M. Korb (Leicester): Völkischer Internationalismus in der Bündischen Jugend. Vom Grenzschulheim Boberhaus zum Boberhauskreis (1920–1990)

Martin J. Kudla (Frankfurt am Main): „Jugendbewegt geprägt“ – Robert Jungk zwischen Deutschtum und Judentum

Anke Kalkbrenner (Berlin): Berliner Luft – Sommercamps und Jüdische Jugendbewegung in Berlin, 1947/48

Rebecca Bamberger (Uppsala): Nazis’ Cultural Codes in the Weimar Republic – Decoding the German Youth Newspaper “Der Zwiespruch” from 1928–1933

Julien Corbel (Paris): „Aber das war alles unpolitisch“ – Erinnerungen an die Volkslieder als unpolitische und manipulative Erlebnisangebote in der Hitlerjugend, 1933–1945

Niklas Kolb (Bayreuth): Umgang mit dem Unmöglichen. Revisionismus in rechten Medien am Beispiel des Jugendbundes Adler

Saskia Köbschall (Potsdam): Back to Nature – Addressing the German Nudist Movement’s Colonial Past and its Repercussions

Jiayun Hu (Heidelberg): Jugendnot und Heimskandale – Eine vergleichende Studie zu der Heimkritik Ende der 1920er-Jahre und Ende der 1960er-Jahre

Julia Bartels (Göttingen): „Von Kameradschaft und Freundschaft“ – Der Freundschafsbegriff der Jugendbewegung im Nachlass von Alexej Stachowitsch

Tim Zumloh (Münster): Vom „Jugendklo“ ins „Bauteil 5“ – Jugendzentrumsbewegung und (post-)fordistischer Stadtbau am Beispiel der Stadt Gütersloh

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