Theorie und Praxis der altertumswissenschaftlichen Geschlechterforschung

Interdisziplinäre Forschungswerkstatt Theorie und Praxis der altertumswissenschaftlichen Geschlechterforschung

Organisatoren
Steffi Grundmann / Gianna Hedderich
PLZ
42119
Ort
Wuppertal
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
16.03.2023 - 17.03.2023
Von
Elsa Fladung / Denise Keufen, Historisches Seminar, Universität Wuppertal

Die Geschlechterforschung hat sich inzwischen innerhalb der Altertumswissenschaften etabliert, wie die von Steffi Grundmann (Wuppertal) und Gianna Hedderich (Wuppertal) ausgerichtete Forschungswerkstatt „Theorie und Praxis der altertumswissenschaftlichen Geschlechterforschung“ bewiesen hat: Im Mittelpunkt der interdisziplinären Tagung standen Theorien und Forschungsstand der Geschlechterforschung sowie deren methodische Umsetzung beim Analysieren und Interpretieren antiker Quellen.

Nachdem Steffi Grundmann die Teilnehmenden im Gästehaus der Universität Wuppertal auf dem Campus Freudenberg begrüßt hatte, eröffnete der Althistoriker JÖRG FÜNDLING (Aachen) die Forschungswerkstatt mit einem Beitrag zur spätantiken Astrologie. Er konzentrierte sich auf das Astrologiehandbuch Mathesis von Iulius Firmicus Maternus (∗ca. 300), das trotz seiner inhaltlichen Dichte aufgrund der schmalen Überlieferungslage und des undurchsichtigen Aufbaus von der Forschung bisher wenig zur Kenntnis genommen wurde. Der Vortrag bot erste Deutungsansätze der Quelle aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive: Fündling wählte exemplarische Risikofaktoren in individuellen Geburtshoroskopen aus und leitete davon ausgehend ab, welches Sexualverhalten in der Spätantike missbilligt oder gewünscht wurde. Auffällig sei dabei, dass zwar das gleiche Sexualverhalten bei Männern und Frauen angeführt, aber je nach Geschlecht unterschiedlich bewertet bzw. interpretiert worden sei. Fündling schlug mit seiner Analyse dieser auf den ersten Blick möglicherweise ungewöhnlich wirkenden Quellengattung einen neuen Weg ein. Es gelang ihm überzeugend darzulegen, dass Texte, auch wenn sie sich nicht primär mit Geschlecht und Sexualität beschäftigen, der Konstruktion und Moralisierung der Geschlechterverhältnisse und des Sexualverhaltens dienen können.

Im Anschluss zeigte die Altphilologin MAREIKE EHLERT (Osnabrück) anhand der plautinischen Komödie Casina, wie klassische Philologie und Geschlechterforschung in Zukunft verknüpft werden können. Sie befasste sich mit der Validierung, Bewertung und der intertextuellen Darstellung von Geschlecht und fokussierte dabei konkret die Rollenerwartungen an Komödienfiguren. Ehlert untersuchte einzelne Sprechakte der Casina und verstand Geschlecht dabei als etwas, dass in der Interaktion und somit insbesondere durch Sprache konstruiert werde (doing-gender1). Während des Vortrages betonte sie, dass die von ihr ausgewählten antiken Quellen Männlichkeit und Weiblichkeit aus einem männlichen Blickwinkel reproduzierten. Besondere Vorsicht sei bei der Nutzung dieser Literaturgattung als Quelle geboten: Bisweilen erschwere die sprachliche Überspitzung in der antiken Komödie die angemessene Interpretation der durch die Sprechakte propagierten Rollenbilder. Neben dem doing-gender Ansatz konzentrierte sich Ehlert auch auf das literaturwissenschaftliche Konzept der Wortkulisse.2 Wortkulissen in diesem Sinne verwiesen auf den Kontrast zwischen sichtbarem und imaginärem Raum, der sich in Sprechakten konstituiere. Als Mehrwert dieses Ansatzes hob Ehlert während der anschließenden Diskussion hervor, dass die Wortkulissen die Wahrnehmung und Beschreibung der Figuren deutlicher hervortreten ließen und es so erleichterten, das Untypische sichtbar zu machen. Exemplarisch verdeutlichte sie dieses Konzept anhand der Figur des senex amator, eines alten Mannes, der eine junge Frau begehrt: Seine Ehefrau kritisierte ihn wegen seiner häufigen Bordellbesuche und des blumigen Parfümdufts; dadurch weiche er vom Ideal römischer Männlichkeit ab.

Die Altphilologin CAMILLA MARACCI (Wuppertal) thematisierte anhand der lateinischen Liebeselegie fluide Geschlechterrollen. Untersuchungsgegenstand war ein von Ovid verfasster Heroidenbrief der antiken Dichterin Sappho an ihren Geliebten Phaon: Schon in der antiken Literatur seien stereotype Geschlechterrollen umgekehrt worden, sodass nichtbinäre Geschlechtszuschreibungen entstanden seien. Indem Maracci zeigte, dass in der Überlieferung Begriffe wie venustas (Schönheit) oder munditia (Eleganz) typisches Vokabular für die Beschreibung der Frau seien, für den Mann dagegen häufig dignitas (im Sinne von gesellschaftlichem Ansehen) verwendet werde, konnte sie in einem nächsten Schritt anhand des Sappho-Briefes an Phaon beweisen, dass in diesem Textstück die Geschlechterrollen und somit auch Machtverhältnisse umgekehrt seien: Gängige Weiblichkeitsstereotype verwendete Ovid für den Mann Phaon, während Sappho dem augusteischen Weiblichkeitsideal nicht entsprach. Maraccis These, dass Sapphos schmutzige, unordentliche Kleidung in Anlehnung an männliche politische Verhaltensweisen als Protestverhalten und nicht als Trauergeste zu deuten sei, wurde im Anschluss rege diskutiert.

Die klassische Archäologin ANNE GÜRLACH (Jena) hielt einen Vortrag über die (Re-)Konstruktion der materiellen Weiblichkeit im sakralen Raum des antiken Griechenlands. Gürlach konzentrierte sich bei ihrer Betrachtung nicht auf den Raum der polis, sondern auf die religiöse Biographie griechischer Frauen. Ziel war es, anhand archäologischer Quellen die religiöse Handlungsmacht (agency) im öffentlichen Sakralraum zu untersuchen. Ihr Theoriekonzept stützte sich auf das Sender-Empfänger-Modell nach Shannon und Weaver (1949)4, das Gürlach für ihre Untersuchungen modifiziert hatte: Als Sender würden dabei die Adorantinnen fungieren, während auf der Empfängerseite die Gottheiten verortet seien. Beide Seiten befänden sich in einer objektgestützten und wechselseitigen Relation. Sie strukturierte ihr archäologisches Quellenmaterial hinsichtlich der Lebensabschnitte, auf die sich die rituellen Handlungen richteten: Kindheit und Heranwachsen, Brautalter und Hochzeit, Sexualität und Fertilität, Schwangerschaft und Geburt, Mutterschaft und Familie und zuletzt Alter und Autorität. Gürlach machte dadurch die verschiedenen Aspekte von Weiblichkeit deutlich: Die sakralen Verpflichtungen dienten der Sichtbarmachung der Frauen und ihrer sich wandelnden Rollen – Tochter, Ehefrau und Mutter. Sie waren laut Gürlach somit verpflichtet, Geschlecht im Sakralraum aktiv zu zeigen.

Der zweite Tag begann mit dem Vortrag der Philosophin ANNIKA VON LÜPKE (München) über Frauen in der politischen Philosophie des Aristoteles. Als Hauptquelle zog sie eine in der Philosophie kontrovers diskutierte Textpassage aus Aristoteles’ Politik (I 13, 1260a3 14) heran: Im Haus herrsche der Mann über seine Frau, das Kind und die Sklaven. Genauso verhielt es sich Aristoteles zufolge mit der menschlichen Seele: Vernunft walte über Affekte und Begierden. Dass der Mann im Haus das Geschehen bestimme, war laut Aristoteles auf seine seelische Überlegenheit zurückzuführen: Er besitze eine umfassende Tugendhaftigkeit und sei imstande, Affekte und Begierden vollständig zu kontrollieren, während die Frau nur ansatzweise dazu fähig sei. Diese seelische Überlegenheit war gemäß Aristoteles auf die in der Kindheit genossene Erziehung zurückzuführen: Alle Menschen werden als solche geboren – auch Sklavinnen und Sklaven – sodass die übergeordnete Stellung des Mannes im Haus und im Staat keineswegs biologisch begründbar, sondern schlichtweg ein Resultat der Erziehung sei. Aristoteles zufolge war den Männern das Herrschen anerzogen worden. Mit einer konzisen und präzisen Analyse der aristotelischen Passage über das Verhältnis von Mann und Frau konnte von Lüpke herausstellen, dass Aristoteles den Frauen die Tugendhaftigkeit keinesfalls abspreche. Deshalb widersprach von Lüpke einer Lesart, die impliziere, dass Frauen laut Aristoteles grundsätzlich tugendlos und damit defizitär waren. Dennoch werde ihnen in der Passage jegliche politische Partizipation versagt. Aristoteles reproduziere diese zeitgenössischen Verhältnisse unkommentiert und nenne als einzige Erklärung für die seiner Argumentation zugrundeliegende Geschlechterhierarchie die Erziehung. Auch wenn Aristoteles’ Vorstellung an Simone de Beauvoirs berühmtes Diktum „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“4 erinnert, ist diese in der Diskussion hervorgetretene Ähnlichkeit bisher in der Philosophiegeschichte kaum bemerkt worden.

Daraufhin untersuchte die Althistorikerin NICOLE DIERSEN (Osnabrück) Gewalt und Emotionen von Frauen und Männern aus einer diskursanalytischen Perspektive. Sie verdeutlichte dabei explizit, dass nur Gewaltnarrative untersucht werden könnten, nicht aber Gewalt an sich. Nach Diersen waren Emotionen als Handlung zu verstehen. Sie fragte nach der Vergeschlechtlichung von agency und der Herstellung von Geschlecht durch Handlungen in einer Episode aus Livius’ Periochae: 126 v. Chr. brachte die seleukidische Königin Kleopatra Thea ihren Ehemann Demetrios II. um. Diersen argumentierte, Kleopatra Thea sei einerseits im Rahmen der Periochae ein ebenso großer Handlungsspielraum wie den männlichen Akteuren zugeschrieben worden. Andererseits bediente sich die Darstellung der Königin traditioneller und in den antiken Quellen verbreiteter Weiblichkeitsstereotype: Livius zufolge war Kleopatra Thea von Machtgier getrieben. In der Diskussion standen die Fragen im Zentrum, ob Emotionen als Handlungen interpretiert werden und welche Emotionen bzw. Gewalttaten konkret als Untersuchungsgegenstand für die weitere Forschung dienen könnten.

Einen diskursanalytischen Ansatz verfolgte auch der klassische Archäologe BURKHARD EMME (Berlin) in seinem Vortrag über die in der kaiserzeitlichen Sepulkralkultur bildlich gezeigten Geschlechterrollen und Verhaltensideale. Mit Bezug auf Michel Foucaults „Sorge um sich“5 bildeten laut Emme die Abbildungen bestimmter mythischer Figuren auf Gräbern sogenannte exempla: Indem diese Idealfiguren auf den Sarkophagen abgebildet wurden, sollten den Verstorbenen vorbildliche Fähigkeiten und Eigenschaften zugeschrieben werden. Anhand eines heute im Palazzo Mattei zu findenden Girlandensarkophags aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr., der einerseits Ödipus und die Sphinx und andererseits Galatea und Polyphem zeige, widerlegte Emme die in der Forschung aufgestellte These, dass die Sarkophagreliefs keinerlei Bezug zum Leben der Verstorbenen hätten: So verfolge die Abbildung besonders tugendhafter Gestalten der antiken Mythologie, wie Venus oder Aeneas, die Intention, den Verstorbenen die Erfüllung gängiger geschlechtstypischer Ideale zuzuschreiben.

Die Tagung schloss die Althistorikerin BERNADETTE DESCHARMES (Braunschweig) mit einem Vortrag über die Normierung und Transgression von Geschlecht und Sexualpraxis in Rom ab. Hierbei untersuchte sie, welche Liebesakte in der antiken Literatur als besonders obszön galten; methodisch ging sie semantisch vor, indem sie Wortfelder rund um das Thema des „Unreinen“ in antiker Literatur untersuchte. Exemplarisch zog sie Catulls Carmen 57 heran und betonte, dass auch Forschende, die nicht primär Geschlechtergeschichte ins Zentrum stellen, sich dennoch damit auseinandersetzten: Immerhin sei beispielsweise auch die Ausübung von Herrschaft geschlechterpolitisch bedingt, wodurch nicht nur das Private, sondern insbesondere Sexualität politisiert werde. Insofern sei es unabdingbar, die Frage nach Geschlecht auch in die antike Politik- und Sozialgeschichte einzubringen. Mit ihrem Appell, die Geschlechterforschung in der gesamten Breite der Altertumswissenschaften stärker zu etablieren, stieß Descharmes bei den Anwesenden auf breite Zustimmung.

Die Diskussionen nach den einzelnen Vorträgen eröffneten einen intensiven und produktiven Austausch über das methodische Vorgehen und mögliche Schwierigkeiten bei der Arbeit an den Quellen: Wie können Forschende bei der Untersuchung des Forschungsgegenstandes sicherstellen, bestimmte Vorstellungen der Moderne nicht verfälschend auf die Antike zu übertragen? Eine naheliegende Möglichkeit, dem zu begegnen, sei es – so der Konsens der Diskussion –, sich bei der Quellenanalyse der bekannten fachspezifischen Methoden zu bedienen, wie etwa der semantischen Forschung oder der historischen Kontextualisierung. Die Teilnehmenden, ihre Vorträge und die unterschiedlichen Disziplinen, aus denen sie stammen, verdeutlichten, dass die Geschlechterforschung einen regen Austausch von thematischer Vielfalt fordert und fördert.

Konferenzübersicht:

Jörg Fündling (Aachen): „Eine verdorbene Begierde der Seele“. Die Modellierung von Geschlechternormen und möglichen Katastrophen in einem spätantiken Astrologiehandbuch

Mareike Ehlert (Osnabrück): Gegenderte Wortkulisse? Geschlechtsspezifische Wahrnehmung und Attribution in der plautinischen Komödie

Camilla Maracci (Wuppertal): Fluide Männer- und Frauenbilder bei Ovid. Ein Beispiel für eine mögliche geschlechterphilologische Methodik

Anne Gürlach (Jena): Weibliche Aspekte und religiöse Biographie(n) als Analysekategorien zur (Re-)Konstruktion einer materiellen Weiblichkeit im sakralen Raum

Annika von Lüpke (München): Frauen in der Politischen Philosophie des Aristoteles

Nicole Diersen (Osnabrück): Geschlecht, Gewalt, Emotion. Drei (un)vereinbare Phänomene im literarischen Diskurs zum Hellenismus

Burkhard Emme (Berlin): Geschlechterrollen und Verhaltensideale im Spiegel der kaiserzeitlichen Sepulkralkultur

Bernadette Descharmes (Braunschweig): „Lass uns schmutzig Liebe machen“. Zur Normierung und Transgression von Geschlecht und Sexualpraxis in Rom

Anmerkung:
1 Candace West / Don H. Zimmerman, „Doing Gender”, in: Gender and Society 1, 2 (1987), S. 125–151. Vgl. auch Regine Gildemeister, Doing Gender. Soziale Praktiken der Geschlechterunterscheidung, in: Ruth Becker / Beate Kortendiek (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, 2. überarb. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 137–145 (1. Aufl. 2004).
2 Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, 11. Aufl. München 2001 (1. Aufl. 1977); Franziska Schößler, Einführung in die Dramenanalyse, Stuttgart / Weimar 2012.
[3] Claude E. Shannon / Warren Weaver, The mathematical theory of communication, 11. Aufl. Urbana 1964.
4 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 1968, S. 265.
5 Michel Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit III, Frankfurt am Main 1986 (frz. Original 1984).

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