Beten und gesehen werden. Soziale Funktionen spätmittelalterlicher Andachtspraktiken im mitteleuropäischen Vergleich

Beten und gesehen werden. Soziale Funktionen spätmittelalterlicher Andachtspraktiken im mitteleuropäischen Vergleich

Organisatoren
Stephan Flemmig, Jena; Monika Saczynska-Vercamer, Warschau
PLZ
04177
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
21.06.2022 - 23.06.2022
Von
Florian Hellbach / Stefan Eggenstein, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die von Stephan Flemmig (Jena) und Monika Saczynska-Vercamer (Warschau/Warszawa) organisierte Tagung zu den sozialen Funktionen spätmittelalterlicher Andachtspraktiken im mitteleuropäischen Vergleich stand unter dem Schlagwort „Beten und gesehen werden“.

JÖRG SONNTAG (Dresden) beleuchtete die geistliche Ausdeutung des im späten Mittelalter recht umfassenden Begriff des „Spiels“, der etwa Tätigkeiten wie Würfeln, Jagd oder Tanz umfassen konnte. In der Frömmigkeit der Zeit konnten Spieltätigkeiten sogar geistliche Dimensionen erreichen: Tanzen wurde als Bekämpfung der Trägheit gelobt, wenn in ihm nicht gar über einen Trancezustand die mystische Union der Seele mit Gott erreicht werden sollte. Das Spielbrett für das Mühlespiel wurde in der Betrachtung zur Abbildung des himmlischen Tempels, und selbst die Welterschaffung durch Gott wurde als Akt des „Spiels“ verstanden; eine geistliche Betrachtung, bei der im göttlichen Gegenüber menschliche Wesenszüge und damit Nähe gesucht und vom meditierenden geistlichen Betrachter empfunden wurden.

ALICJA GRABOWSKA-LYSENKO (Thorn/Toruń und Greifswald) eröffnete den Blick auf religiöse Praktiken und Repräsentation der Bruderschaften in der Danziger Marienkirche. Durch Zünfte, Priester oder Kaufleute gebildet, pflegten diese an „ihren“ Altären regelmäßige Heilige Messen, kamen an Fest- und Gedenktagen zu Prozessionen, Gottesdienst und Festessen zusammen und statteten ihre Kapellen mit liturgischen Paramenten und Geräten, aber auch mit Ablassbriefen aus, welche zu den bestimmten Festtagen regelmäßig Besucher anzogen. Repräsentation der eigenen Gruppe (etwa durch prächtige Altarbilder) sowie die persönliche Frömmigkeit des Einzelnen kamen dabei gleichermaßen zur Geltung.

CHRISTIAN RANACHER (Dresden) stellte die Bedeutung des Rosenkranzgebetes um 1500 vor. Die meditative Betrachtung des Lebens Jesu und Mariens mit wiederkehrenden Gebeten erreichte im 15./16. Jahrhundert einen Höhepunkt allgemeiner Popularität. Zahlreiche Rosenkranzbruderschaften blühten auf, wobei die Gebete des Einzelnen der Gemeinschaft zugutekommen sollten und umgekehrt. Das Fehlen von Eintrittsgebühren und ein relativ niedriges gefordertes Gebetspensum (häufig drei Rosenkränze pro Woche) war mit dem Ziel verbunden, möglichst viele Menschen zur Teilnahme zu bewegen. Das Gebet war am Vorabend der Reformation derart populär, dass der Satz gelten konnte: „Wer keinen Rosenkranz getragen hat, den hätte man nicht für einen Christenmenschen gehalten.“

Die Einbindung einer Krankheit in die spätmittelalterliche Frömmigkeit wurde anhand des Vortrags von MIRKO BREITENSTEIN (Dresden) über die symbolische Präsenz des heiligen Antonius in der nach ihm benannten Krankheit des „Antoniusfeuers“ deutlich: Mit der Ernte gelangte gelegentlich das giftige Mutterkorn versehentlich in die Nahrung; heftige Krämpfe und teilweise das Absterben von Gliedmaßen konnten daraus folgen. Das „Antoniusfeuer“ wurde in der sakralen Kunst oft durch betroffene Menschen mit „brennenden“ Gliedmaßen in Gegenwart des heiligen Mönchsvaters Antonius dargestellt. Die in Südfrankreich entstandene Bruderschaft der Antoniter bildete bis zum Ende des 15. Jahrhunderts etwa 370 Hospitäler in Europa aus; aufgenommene Kranken wurden zu Mitgliedern der Gemeinschaft. Veränderte Nahrungsgewohnheiten und damit eine geringere Fallzahl von Mutterkornvergiftungen, aber auch der reformationsbedingte Frömmigkeitswandel führten zum Niedergang der durch schwarzen Mantel mit blauem Tau-Kreuz gekennzeichneten Gemeinschaft, welche Ende des 17. Jahrhunderts schließlich an die Malteser überging.

ENNO BÜNZ (Leipzig) stellte die Andachtsform der Ölbergdarstellung vor, die ab dem 15. Jahrhundert populär wurde. Darstellungen des unter Todesangst betenden Christus wurden nicht nur in Form von Bildern, sondern auch als Vollplastik populär, besonders im süddeutschen Raum (ca. 200 Exemplare). Ab der Barockzeit häufig von eigens gegründeten „Todesangst-Bruderschaften“ betreut, dienten die Ölbergszenarien besonders an Gründonnerstagen als Ziel von Andachten und wurden nicht selten auch mit eigenen Ablässen versehen.

PIOTR KOŁODZIEJCZAK (Thorn/Toruń) stellte die Stiftungen deutscher Bürger im spätmittelalterlichen Stockholm vor. Die rege Handelstätigkeit der Hanse führte dazu, dass in den 1460er-Jahren ein knappes Drittel der Stockholmer Steuerzahler deutscher Herkunft war und die Hälfte des Stockholmer Rates aus Deutschen bestand. Lübeck, Danzig und Königsberg waren häufig ihre Herkunftsorte, mit denen sie vielfältig verbunden blieben. Die Kaufmannsgilden mit deutschen und schwedischen Mitgliedern, aber auch die Tätigkeit von Dominikanern und Franziskanern in Stockholm müssen im Kontext der Verbindung mit den deutschen Hansestädten gesehen werden. Noch heute legt die um 1520 von Deutschen gestiftete Barbarakapelle in der Stockholmer Nikolaikirche eines von vielen Zeugnissen der damaligen engen Verbindung ab.

MONIKA SACZYŃSKA-VERCAMER (Warschau/Warszawa) gab einen Überblick über die unterschiedlichen Arten gespendeter Gegenstände, die Krakauer Testamenten des späten Mittelalters zu entnehmen sind. Gespendet wurden liturgische Gegenstände, Alltags- und Haushaltsgegenstände oder auch Geldspenden für Kleidung oder den zielgerichteten Unterhalt Bedürftiger. Einige Gaben behielten dabei ihre Funktion (z. B. Gebetsschnüre, Bücher), andere dienten zum Verkauf für fromme Zwecke (z. B. Unterhalt von Armen) oder dem Erlös für Einkäufe oder Produktion zugunsten der Empfänger (z. B. Geld für die Anfertigung eines Kelches). Die Spende war ein sowohl frommer wie auch weltlicher Akt. Gerade in Verbindung mit liturgischen Gegenständen wird die Intention deutlich, den Spender durch symbolische Anwesenheit in den Vollzug zur Förderung seines Seelenheils dauerhaft einzubeziehen.

TIM ERTHEL und MARTIN SLADECZEK (Erfurt und Jena) stellten die Erfurter Prozession nach Schmidstedt mit ihren spätmittelalterlichen Wurzeln vor. Der vor etwa 500 Jahren zur Wüstung gewordene Ort Schmidtstedt war zu Beginn des 14. Jahrhunderts Begräbnisort von laut Überlieferung knapp 8.000 Opfern zweier Hungersnöte geworden, die bei der seinerzeitigen Kirche ihre letzte Ruhe fanden. Über das Ende Schmidstedts als bewohnter Ort und die Reformationszeit hinaus erhielt sich bis ins 20. Jahrhundert hinein die Tradition einer Gedenkprozession an diese Toten, welche unter großer Beteiligung von Klerus und Volk von Erfurt zur erhalten gebliebenen Schmidstedter Kirche und zurück am Freitag in der Pfingstwoche üblich und auch mit Ablässen für die Teilnahme versehen war. Das Beispiel der Schmidstedter Prozession zeigte auf, wie eine Form des religiösen Gedächtnisses auch über die Dauer mehrerer Jahrhunderte Wirksamkeit entfalten konnte.

In dem Referat von JAN HRDINA (Prag) stand der Wallfahrtsort des heiligen Wolfgang in Kájov im Fokus. Dabei galt der Ort im 15. Jahrhundert nicht als offizieller Pilgerort und der Kult des heiligen Wolfgang wurde sogar verboten. Der Kult gelangte, wie der Heilige selbst, aus Österreich nach Böhmen und wurde dort zum Heiligen.

In dem Vortrag von HARTMUT KÜHNE (Berlin) ging es um die Gebetspraktik in der städtischen Topographie anhand der Kreuzweganlagen. Von ihnen sind 80 Stück in unterschiedlichster Ausgestaltung erhalten. Kühne nannte exemplarisch die Städte Magdeburg, Neuruppin und Lübeck, wo sogar noch Abbildung zu dem Kreuzweg im heutigen Stadtbild erhalten sind. Der Vortrag konzentrierte sich auf die Entstehung dieser Anlagen und stellte gängige Narrative in Frage. So beispielsweise zum ersten Kreuzweg von 1482 in Lübeck, der von einem Kaufmann gestiftet wurde, der persönlich nach Jerusalem gereist sein sollte und dort die Via de la rosa ausgemessen hat. Der Eintrag darüber stammte aus einer Chronik, die wesentlich später entstanden ist und daher sei es zweifelhaft, ob der Kaufmann jemals in Jerusalem war. Allerdings war er der Stifter dieses Kreuzweges aus Lübeck. Ein geschichtlicher Überblick Kühnes zu den Pilgerreisen nach Jerusalem im 14. und 15. Jahrhundert zeigte, dass die dort ankommenden Pilger niemals den traditionellen Kreuzweg kennengelernt haben, sondern von den dortigen Franziskanern zu einer Vielzahl von Stätten geführt wurden, die in Verbindung mit dem Leben Jesu standen.

Das Referat von ROBERT ŠIMUNEK (Praha) thematisierte die Andachtspraxis der adligen Residenzstädte in Böhmen und stellte die städtische Obrigkeit als Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits dar. Dabei benutzte die Oberschicht der Städte das Sakrale durchaus als Selbstpräsentation. Der liturgische Mittelpunkt der Stadt, so Šimunek, war die Stadtpfarrkirche, an der die adlige Oberschicht durch ihre Stiftungen wirkte und sich hervortat. Daneben gab es in den Städten auch noch die Spitalkirchen. Neben den Stiftungen an Stadtpfarrkirchen und Spitalkirchen tat die Obrigkeit durch die Praxis der Memoria hervor. In vielen Städten, so der Referent, ließ sich auch eine starke Bindung zwischen den Franziskaner Orden und der städtischen Obrigkeit beobachten. Dabei waren die Franziskaner abhängig von den Wohltaten und Stiftungen der Obrigkeit.

MARIE-KRISITN REICHEL (Chemnitz) zeigte in ihrem Vortrag anhand ausgewählter Beispiele die Bedeutung von Frömmigkeitspraxen in kriegerischen Auseinandersetzungen. So gingen die Krieger im Vorfeld der Schlacht zur Beichte und bekamen die Kommunion. In der Schlacht bei Dürnkrut am 26. August 1278, so Reischl, trugen einige Krieger als Ausdruck ihrer Frömmigkeit ein Kreuz über der Rüstung. Auch Reliquien wurden mit in die Schlacht genommen. Die Funktion der verschiedenen Frömmigkeitspraxen war es, ein Gemeinschaftsgefühl zu stiften und sich auf der gottgewollten Seite zu wähnen und den Sieg davonzutragen. Zusammenfassend erklärte Reischl, haben Frömmigkeitspraktiken verschiedene Funktionen und waren wichtig für den einzelnen Krieger und seiner Gemeinschaft.

Der Vortrag von CHRISTIANE DOMTERA-SCHLEICHARDT (Leipzig) zeigte, dass die Predigt schon vor Martin Luther von Bedeutung war. Sie fand in Pfarrkirchen und bei Bettelorden und Weltklerus statt. Gerade zum Endes des Mittelalters hin, mit Aufkommen des Buchdrucks, kam die Lesepredigt auf. Dabei waren die Predigten nicht an einem festen Ort fixiert. Sie konnten in der Pfarrkirche oder auch auf dem Markt stattfinden. Kirchen der Bettelorden besaßen sogenannte Außenkanzeln. So besaßen die Predigten am Ende des Mittelalters, so Domtera-Schleichardt, wichtige soziale und öffentliche Funktionen.

Der Vortrag von STEPHAN FLEMMIG (Jena) behandelte die Verehrung des Namen Jesu im 15. und 16. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa und wie sich diese im öffentlichen Raum wiederfand. Schon auf dem Konzil von Lyon 1274 legte man fest, dass die Anrufung des Namen Jesu zur Pflicht wurde. Dabei geschah die Verehrung nicht nur verbal, sondern sie zeigte sich auch an Häusern und meist in Form der bernhardinischen Sonne. Die Verbindung vom Namen Jesu mit dem Symbol der Sonne gehe dabei, so Flemmig, auf den Franziskaner Johannes Capistranus zurück. Weiterhin fand, anknüpfend an die vorangegangene Sektion Krieg und Konflikt, der Name Jesu auch als Schlachtruf Anwendung, wie bei der Schlacht von Belgrad 1456, oder auch in der Liturgie. Für die weitere Verbreitung der Verehrung des Namen Jesus sorgten auf die aufkommenden Jesusbruderschaften.

Die Tagung zeigte anhand verschiedenster Themenfelder Frömmigkeitspraxen im spätmittelalterlichen Alltag und stellte ihre soziale Funktion und Bedeutung heraus. Die vielfältige und intensive Prägung der seinerzeitigen Gesellschaft durch die Religion in allen Bereichen des Lebens wurde anhand der zahlreichen Beispiele deutlich und facettenreich aufgezeigt. Hier wurde ein Thema bearbeitet, was in seiner Diversität, so noch nicht der Fall war.

Konferenzübersicht:

Sektion I Das religiöse Ereignis

Jörg Sonntag (Dresden): Das Spiel als Andachtsform

Alicja Grabowska-Lysenko (Toruń/Greifswald): „Up unse begenckenysse“. Die Ausübung von religiösen Praktiken und die Frage der Repräsentation der Bruderschaften in der Danziger Marienkirche im ausgehenden Mittelalter

Christian Ranacher (Dresden): Das Rosenkranzgebet als egalitäre Andachtspraxis in der Lebenswelt um 1500

Mirko Breitenstein (Dresden): Andacht und Schmerz. Die symbolische Präsenz des Antonius und der Antoniter

Enno Bünz (Leipzig): Ölbergdarstellungen als Andachtsort

Sektion II Erinnerung und Memoria

Ewa Wółkiewicz (Warszawa): Stiftungen des niederen Klerus in Neisse im Spätmittelalter

Piotr Oliński (Toruń): Bauern und Bürger im liturgischen Gedächtnis von pommerellischen und pommerschen Klöstern

Piotr Kołodziejczak (Toruń): The Pious Gifts of Germans in Late Medieval Stockholm: Commemoration, Integration, and the Town Law

Monika Saczyńska-Vercamer (Warszawa/Berlin): Dinge in frommen Gaben in Krakauer Testamenten des 15. Jahrhunderts. Eine vergleichende Untersuchungen ihrer Funktionen

Sektion III Weg und Ort

Monika Jakubek-Raczkowska (Toruń)Die religiöse Praxis in den preußischen Großstädten im Mittelalter am Beispiel Toruns (14.-15. Jahrhundert)

Jakub Sawicki (Wroclaw/Praha): Devotional practices and pilgrim badges from archeological perspective. Case of Medieval Wroclaw

Tim Erthel und Martin Sladeczek (Erfurt/Jena): Die Prozession nach Schmidstedt bei Erfurt

Jan Hrdina (Praha): Soziale Aspekte einer spätmittelalterlichen Wallfahrt. Der Wallfahrtsort Kájov (Gojau) in Südböhmen und der Kult des hl. Wolfgang im 15. Jahrhundert

Hartmut Kühne (Berlin): Jerusalempilger und Kreuzweganlagen

Robert Šimůnek (Praha): Andachtspraktiken in adligen Residenzstädten Böhmens

Sektion IV Krieg und Konflikt

Piotr Kołpak (Kraków): Socio-Religious Contexts of the Warfare: the Case of the Late Medieval Poland

Marie-Kirstin Reischl (Chemnitz): Frömmigkeitspraktiken in den kriegerischen Auseinandersetzungen im Heiligen Römischen Reich während des Spätmittelalters

Sektion V Bild und Wort

Christiane Domtera-Schleichardt (Leipzig): Sehen – hören – lesen. Erscheinungsformen der spätmittelalterlichen Predigt im mitteldeutschen Raum

Stephan Flemmig (Jena): Die spätmittelalterliche Verehrung des Namens Jesu

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