HT 2021: Aus Niederlagen lernen? Deutungskämpfe um die Antike nach 1918

HT 2021: Aus Niederlagen lernen? Deutungskämpfe um die Antike nach 1918

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2022 - 08.10.2022
Url der Konferenzwebsite
Von
Bianca Baum, Ruhr-Universität Bochum

Aus Niederlagen lernen? Dieser Frage wurde in der Sektion nachgegangen und die Diskutanten legten besonders Wert auf die Deutungskämpfe der Antike nach 1918 und die damit einhergehenden Parallelen, die sich aus der Beschäftigung mit der Antike ergaben. Als Grundlage dafür standen das Werk von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und die Darstellung Kosellecks, dass Geschichte von Besiegten geschrieben würde, im Vordergrund, in den Zusammenhängen von Schule, Universität und Politik.

Eingeleitet wurde die Sektion von RICHARD POHLE (Halle an der Saale), der auf eine der einschneidendsten Niederlagen der Moderne verwies: das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nach der Niederlage gegen Napoleon 1806. Diese Niederlage reihte sich in einen Niederlagendiskurs ein, der von stetigen Analogien bewegt war. Dabei sei vor allem die Antike ein prominentes Beispiel, da sie nicht nur als ein beliebtes Propagandamittel galt, sondern auch als Argumentationsgrundlage und Vorlage für spätere Deutungen und Handlungen diente. In diesem Diskurs stechen vor allem zwei Autoren heraus, die Niederlage aus nächster Nähe erfuhren und unterschiedlich verhandelt haben: Thukydides und Platon. Thukydides nehme dabei eine retrospektive Haltung ein, um das Scheitern Athens zu begründen. Platon zeige hingegen einen Lösungsweg – herrschende Philosophen und der Zugang zur Bildung böten einen Ausweg aus der latenten Stasis an.

Pohle veranschaulichte die Bedingungen der Rezeption der Antike in der Moderne. Hierbei seien die zuvor erlebte Kriegsniederlage und die damit einhergehende Depression wesentlich. Er verwies hier explizit auf die Platon-Rezeption von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon sei dabei eine Orientierungshilfe für die Nöte der Gegenwart und würde die Antwort aus der Misere wissen, indem er eine Utopie schaffe. Platon diene dabei als Grenzfigur zwischen Krieg und Frieden und stelle einen Wegweiser aus der Krise dar. Der Erfolg dieser Platon-Rezeption spiegele sich insbesondere in den hohen Absatzzahlen des Buches wider. Durch diese Wiederentdeckung Platons wurde er für Institutionen wie Schule und Universität wieder neu verwendbar gemacht. Doch auch in anti-akademischen Diskursen sei es zur Antikenaneignung gekommen, wie etwa durch den Verleger Eugen Diedrichs, der in seinem Programm vor der drohenden Amerikanisierung warnte. Eine besondere Bedingung für die Rezeption stelle auch die Übersetzungsarbeit vor dem Krieg dar, die maßgeblich zu deren Erfolg beitrug – erst durch weitere Bewegungen und durch Wilamowitz kam es allerdings zu einem messbaren Erfolg. Dies allein sei jedoch noch nicht hinreichend für dessen Anschlussfähigkeit, vielmehr stellen der Krieg und die damit einhergehende Niederlage weitere argumentative Katalysatoren dar. Pohle betonte jedoch, dass Krieg und Niederlage nicht allein für Analogien und die Übertragbarkeit der Antike entscheidend seien, sondern letztlich der damit zusammenhängende Methodenwechsel, der sich in den 1920er-Jahren vollzog. Der innovative Methodenwechsel bestehe darin, dass das eigene Erleben selbst zum Argument wird: Fronterfahrung, Truppenbesuch und Niederlagenerfahrung hätten Platon tiefer erleben und neu verstehen lassen.

MARIAN NEBELIN (Chemnitz) setzte sich in seinem Vortrag mit der Antikenrezeption im Diskurs um die Niederlage und ihre Bewältigung in der Zwischenkriegszeit auseinander. Dabei formulierte er die These, dass die betreffenden Akteure sich nicht als Besiegte verstanden oder stilisiert hätten, sondern als Betrogene. Er stellte drei Altertumswissenschaftler vor, die er als politisierende Professoren charakterisierte, deren institutionelle Stellung ein breites öffentliches Interesse, teils im Sinne einer geistigen Kriegsführung generierte: Eduard Schwartz, Eduard Meyer und Max Weber. Nebelin begann mit Eduard Schwartz, an dessen Beispiel er die Gegenwartsrelevanz der Antike herausstellte. In einem zweiten Punkt nahm Nebelin sich Eduard Meyer vor, der die Antike als Argumentationsgrundlage betrachtete, dieser sah die Hauptverantwortlichkeit des Krieges und die daraus resultierende Niederlage vorwiegend bei den angelsächsischen Großmächten. Die Analogien ermöglichten es ihm, die vorliegende politische Konstellation analog zum zweiten Punischen Krieg zu bilden und die Verantwortlichkeit dabei der britischen Großmacht aufzubürden. Mit Max Weber stellte Nebelin einen Kriegsbefürworter vor, der aus dem vorherigen Raster zu fallen scheint. Dieser käme ganz ohne antike Bezüge aus und hielt einen für den Weltkrieg entscheidenden Punkt fest – die Antike sei kein spezifisch deutsches, sondern ein europäisches Kulturgut. Als Alternative zu diesen Ansätzen wurde die römisch-lateinische Antike gesehen. Das moralische Rom biete eine Alternative zu dem demokratischen Athen und eröffne so Elemente eines antidemokratischen Diskurses, der sich in der Nachkriegszeit widerspiegele.

Nebelin resümierte, wenn eine Historie der Besiegten stattfinde, müssten die Akteure ihre Niederlage anerkennen. Da nur die Überlebenden Geschichte schreiben können, müssen sich diese einem schmerzhaften Prozess der Reflexion des eigenen Scheiterns annehmen. Dadurch, dass die betreffenden Akteure sich jedoch nicht als Besiegte verstanden, sondern als Verratene oder Betrogene, konnte kaum eine produktiv-reflexive Haltung entstehen.

OLIVER SCHELSKE (München) widmete sich der Antikenrezeption in den Briefen von Ernst Troeltsch und arbeitete dabei Wirkmacht, Deutungsmuster und Erfahrungen für Wissenschaft und Politik heraus, die sich aus dem Deutungskampf um die Antike ergaben. Dabei stellt der Erste Weltkrieg nicht nur eine besondere Wegmarke im deutschen Umgang mit der Antike dar, sondern auch in anderen europäischen Gesellschaften, die durch zahlreiche Publikationen dargestellt wurden. Durch die Vernetzung Troeltschs (als Staatssekretär und Lehrstuhlinhaber) in der gehobenen Gesellschaft ergaben sich Korrespondenzen zu berühmten Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern. Diese Briefkorrespondenzen seien deshalb so aufschlussreich, da Troeltsch hier keinen fachlichen und inhaltlichen Zwängen unterlag und sich daher interessante Einsichten in die Entwicklung seiner „Nutzung“ von antiken Bezügen antreffen lassen. Dort finden sich, in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, unter anderem Bezüge zu spätrömischen Kirchenvätern, während in den Jahren nach 1915 vermehrt griechische Autoren in seinen Briefen auftraten. Dies liegt laut Schelske vermutlich an Troeltschs Einberufung nach Berlin. Dies zeige sich auch an der Teilnahme Troeltschs bei den Berliner Graeca, in denen er sich privat mit der griechischen Lektüre beschäftigte. Dabei stellte Schelske unter anderem die Diskrepanzen zwischen Troeltsch und Wilamowitz heraus. Wilamowitz stelle im Vorwort seines Platon-Buch heraus, dass Deutschland seine internationalen Beziehungen neu pflegen solle, und verwies auf das Kaiserreich. So erkannte er die Niederlage 1918 an, jedoch nicht die innenpolitischen Änderungen, die sich mit der Abdankung des Kaisers ergaben, und verfolgte weiterhin seine methodischen Grundsätze. Troeltsch hingegen wäre bereit gewesen umzulenken und sprach der Antike dabei eine erhebliche Bedeutung zu, nun aber in sich verändernder Form: Gerade in den publizistischen Tätigkeiten Troeltschs lassen sich nun römisch-lateinische Bezüge finden, die auf Aktualisierungstendenzen hindeuten und für ein süddeutsches Publikum ausgerichtet waren. So lassen sich anhand von Ernst Troeltsch Briefkorpus viele verschiedene Entwicklungen zeigen, von denen die Antikrezeptionen bewegt war. Hier seien exemplarische regionale und zeithistorische Veränderungen benannt, die sich vor allem in dem Wechsel Troeltschs von Süddeutschland nach Berlin, ins „Epizentrum“ der Antikenrezeption, vollzogen.

Einen Blick auf Seiten der Sieger des Weltkriegs gab CHRISTIAN WENDT (BOCHUM), der sich Albert Thibaudets La campagne avec Thucydide widmete. Thibaudets Werk hatte den Ersten Weltkriegs als historische Grundlage, doch Thibaudet setzte sich in seinem Werk dialogisch mit Thukydides auseinander, indem er nicht nur Thukydides analysierte, sondern ihn auf die Probleme der gegenwärtigen Zeit antworten ließ. Wendt schlüsselte dabei Thibaudets Werk so auf, dass dies zunächst enttäusche, da es sich anfänglich um eine essayistische Auseinandersetzung mit Thukydides handle. Im siebten Kapitel jedoch zeige Thibaudet eine gedrängte Darstellung beider Kriege, des Peloponnesischen und des 1. Weltkriegs, und setze sie durch strukturelle und historische Analogiebildung in Beziehung. Dadurch argumentierte Thibaudet, dass sie nicht nur Parallelen aufweisen, sondern wesensgleich sind. Dabei sei die Entstehung beider Konflikte relevant, vom lokalen Scharmützel bis hin zu einem großen Krieg. Vor allem sei als das zentrale Charakteristikum die Konfrontation von Land- und Seemacht entscheidend. Die zentrale Abweichung sei hingegen die Inversion, in deren Großbritannien als Thalassokratie sich gegen das expansive Deutschland zur Wehr setzte (eine diametral entgegengesetzte Konstellation zum expansiven Seereich Athens, das von der bedrohten „Landmacht“ Sparta bekämpft wurde). Letztlich sei jedoch die gesamte Komposition entscheidend, um dem Betrachter zu ermöglichen, die treffenden Analogien zu sehen. Vordergründig spiele bei Thibaudet die Verarbeitung des Krieges eine Rolle. Der Rückgriff auf Thukydides ermöglicht ihm jedoch ebenfalls eine Analyse der Nachkriegssituation – etwa hinsichtlich der neu geschaffenen politischen Ordnung, die Thibaudet wie die Friedensordnung Spartas nach dem Peloponnesischen Krieg als äußerst fragil ansah. Thibaudet stilisiert den 1. Weltkrieg also zu eine aktualisierten Antikeerfahrung, wodurch auch die Aktualität letztlich nur durch Thukydides zu erfassen ist. Somit reihe sich Thibaudet in einen Diskurs berühmter Exponenten wie Toynbee oder Meyer ein, der Thukydides in seinem didaktischen Projekt beim Wort nimmt – der Athener wird nicht allein als Historiker angesehen, sondern steigt zum politischen Denker auch der gegenwärtigen Zeit auf.

In der anschließenden Diskussion wurden Details wie z.B. der Quellenwert von Vorworten erörtert und Niederlagen als grundsätzliches Problem nachfolgender Generationen angesprochen. Im Mittelpunkt standen dabei auch die neuen Altertumswissenschaften und ihre Verwendung in den Institutionen Schule und Universität. Insgesamt zeigte die Sektion auf, dass die Auseinandersetzung mit der Antike nach 1918 mit den Arbeiten von Wilamowitz, Ernst Troeltsch und anderen Altertumswissenschaftlern auf Seiten der Besiegten sowie der Sieger Lösungsvorschläge bot, um mit der Niederlage umzugehen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Richard Pohle (Halle an der Saale) / Christian Wendt, (Bochum)

Richard Pohle (Halle an der Saale): Platon und der Krieg. Bedingungen und Dimensionen der Antike-Rezeption nach 1918

Marian Nebelin (Chemnitz): Antikerezeption im Niederlagendiskurs. Deutsche Altertumswissenschaftler und die Bewältigung des Ersten Weltkriegs in der Zwischenkriegszeit

Oliver Schelske (München): Die Niederlage ahnen, mit ihr umgehen. Friedrich Meinecke, Ernst Troeltsch und Eduard Schwartz. Drei Perspektiven auf 1918

Christian Wendt (Bochum): La campagne avec Thucydide – der Weltkrieg als Antikeerfahrung bei Albert Thibaudet


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